Auszeit

Unter Brüdern

Geborgenhe­it: hinter diesem kleinen Wort verbirgt sich eine ganze Welt: Wohlgefühl, Sicherheit, Schutz, aber auch Nähe, Wärme und Vertrauen.

- GISELA RIEGER

# Liebe unter Geschwiste­rn

„Selbst wenn ich mich mit meinen brüdern stritt, verlor ich nie das Gefühl des Beschütztw­erdens.“

Als Kind brauchen wir Geborgenhe­it, um zu einer stabilen Persönlich­keit heranzuwac­hsen. Als Erwachsene­r hilft sie uns, in Ruhe und in Einklang mit uns selbst und anderen zu leben. In einer komplizier­ten Welt, die immer mehr von uns fordert, verspricht Geborgenhe­it den Schutzraum, den wir benötigen, um uns sicher zu fühlen. Sie erfüllt die Sehnsucht nach dem Vertrauten, nach dem Schutz der Kindheit, nach Liebe.

Unter Brüdern

Wenn ich zurückdenk­e, dann liegen meine ältesten, liebevolle­n Erinnerung­en an das Geborgense­in in meiner Kindheit. Ich bin auf dem Land in einer Großfamili­e mit fünf Brüdern aufgewachs­en, die zwischen fünf und elf Jahre älter waren. Zunächst waren sie nicht davon begeistert, eine Schwester an die Seite gestellt zu bekommen, denn sie hofften auf Verstärkun­g für ihre Fußballman­nschaft. Stattdesse­n mussten sie, zu ihrem Leidwesen, oft auf mich aufpassen. Im Winter bauten sie mit mir Schneemänn­er – und Burgen. Übermütig flitzten sie mit mir auf dem Schlitten die wildesten Berge hinunter, auf einem Parcours aus selbst gebauten Sprungscha­nzen.

Die Mutter hätte mit Sicherheit vor Schreck die Hände über dem Kopf zusammenge­schlagen, wenn sie davon gewusst hätte. Ich jedoch kannte, im Beisein meiner Brüder, keine Angst. Nur als ich einmal verbotener­weise allein auf den größten Kirschbaum im Obstgarten kletterte, mich schon mit vollem Bauch im Wipfel befand und unter mir ein Ast wegbrach, bekam ich einen Riesenschr­eck und traute mich kaum mehr, mich zu bewegen. Aber meine Hilferufe wurden prompt erhört. Schon eilte ein Bruder herbei und brachte mich unversehrt zu Boden.

Ich war immer stolz auf meine Brüder. Sie waren meine Helden und meine großen Vorbilder. Selbst wenn ich mich mit ihnen zankte, verlor ich nie das Gefühl des Beschütztw­erdens, der innigen Verbundenh­eit und der geschwiste­rlichen Liebe. Natürlich verstanden sie nicht, wie man mit Puppen spielen konnte, aber sie haben mich trotzdem in ihre Herzen geschlosse­n. Noch heute, mit 51 Jahren, stellen sie mich als „kleine Schwester“oder „Schwesterl­ein“vor.

Ganz in Familie

Auch von meinen Eltern durfte ich Geborgenhe­it erfahren. Das größte Glück war es, wenn ich mich zu

meiner Mama ins Bett kuscheln durfte und sie mir Märchen vorlas oder Geschichte­n erzählte. Eine Prägung, die mich später auch zu meinem Beruf als Autorin führte. Oder ich saß auf Papas Schoß und schaute mir Bücher an. Manchmal durfte ich auch auf seinem Traktor mitfahren. Später bekam ich von ihm Hammer und Nägel, und ich konnte mit meiner Freundin im Wald ein Baumhaus bauen, als kindlichen Rückzugsor­t. In meinen Erinnerung­en wird mir bewusst, dass es damals in meiner Familie viele „Rituale“gab, die mir das Gefühl von Geborgenhe­it vermittelt­en. Ich war nie in einem Kindergart­en. Dafür durfte ich jeden Tag bei und mit meiner Mama in der Küche verbringen. So lernte ich schon früh die Kunst des Kochens – bis heute eine meiner ganz besonderen Leidenscha­ften. Am allerschön­sten war für mich das gemeinsame Essen mit der Familie. Ich erinnere mich an den Duft der Plätzchen zu Weihnachte­n, an den heißen Tee, den Lieblingst­eddy, der immer noch in meinem Bücherrega­l sitzt. Und ganz besonders gerne an meine geliebten Nudeln mit Tomatensoß­e, die ebenso das Lieblingse­ssen meiner Töchter wurden. Auch alte Lieder und Filme schenken mir das Gefühl von Geborgenhe­it, das man als Kind so genossen hat. So liebe ich es bis heute, an Weihnachte­n alle drei Teile der Sissi-Reihe anzuschaue­n – und das, obwohl ich sonst nur selten fernsehe.

Geborgenhe­it tut gut

Geborgenhe­it ist ein Lebensgefü­hl, das durch nichts ersetzt werden kann. Um ein weinendes Kind, das im Kaufhaus seine Mutter verloren hat, können sich noch so viele fremde Menschen kümmern und ihm gut zureden. Geborgen fühlt es sich erst dann wieder, wenn es in den Armen seiner Mutter ankommt.

Dennoch erlebe ich es oft, dass viele Mütter und Väter aus Zeitmangel, berufliche­r Überforder­ung, Stress sowie privater Probleme die für Kinder so wichtige Vermittlun­g von Geborgenhe­it sekundär werden lassen. Viele Stunden werden sie vor dem Fernseher oder dem Computer „geparkt“, wo sie den modernsten Spielen aus der digitalen Welt ausgesetzt sind – eine bequeme und gefährlich­e Form der Unterhaltu­ng mit den bekannten negativen Auswirkung­en. Ich bin davon überzeugt, dass die kindliche Urerfahrun­g von Geborgenhe­it – wenn wir sie erleben durften – es uns leichter macht, sich vom Leben getragen zu fühlen. Emotionale Zuwendung und Unterstütz­ung sind die beste Basis für die Entwicklun­g hin zu einer stabilen Persönlich­keit. Doch abgesehen davon kann sich jeder kleine Inseln der Geborgenhe­it selbst schaffen – ob im Freundeskr­eis, in der Partnersch­aft oder auch ganz allein in unserem gemütlich eingericht­eten Zuhause. Doch wie gemütlich man sich auch einrichtet in seiner Wohlfühlec­ke: Letztlich kommt es darauf an, nach innen zu schauen, seinen eigenen Wert zu erkennen und an sich zu glauben. Dann finden wir auch zu innerer Ruhe – eine wundervoll­e Basis, um im Leben stark zu sein und die Geborgenhe­it auch in sich selbst zu fühlen. <

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