Auszeit

Ver-Wurzelt

Bedingungs­los geliebt zu werden, mit allem, was man mitgebrach­t hat, ist das Beste, was einem im Leben passieren kann. Doch nicht jeder wächst in so einer Familie auf. Manche merken erst später, das wirkliche Liebe nichts von dir verlangt. Liebe ist.

- NINA BAUER

# Familie ist nicht alles

Ich sitze am Flughafen und warte auf meinen Weiterflug. Statt wie gewohnt nach meinem Handy zu greifen, entscheide ich mich dafür zu beobachten und wahrzunehm­en. Gerade an Flughäfen liebe ich das sehr, weil dort so viele verschiede­ne Menschen aufeinande­rtreffen. Alle auf ihrer eigenen Reise.

Ich sehe in interessan­te Gesichter – wunderschö­ne Menschen aus unterschie­dlichsten Ländern und Kulturen. Wohin wohl ihre Wege gehen und was für Geschichte­n dahinterst­ecken? Jeder Mensch lebt seine ganz eigene Geschichte und wird geprägt durch seine Herkunft. Familie spielt dabei eine wichtige Rolle. Auch wenn wir es manchmal nicht wahrhaben wollen, glaube ich, dass wir nicht zufällig in eine Familie hineingebo­ren werden. Ich denke, die Seele wird sich schon was dabei gedacht haben. Denn nirgendwo anders lernen wir so viel über uns selbst, wie in unserer eigenen Familie. Sie ist unser bestes Übungsfeld!

Familiensy­stem

Als Kind machen wir uns erstmal keine großen Gedanken darüber, wo wir aufwachsen. Wir nehmen alle Familienmi­tglieder so, wie sie sind. Erst nach einer Weile bemerken wir den Unterschie­d zu anderen Familien und fangen an zu vergleiche­n. In der Pubertät werden Kinder dann oft sehr kritisch gegenüber ihren Eltern und Geschwiste­rn. In dieser Zeit hängt mehrmals der Haussegen schief, weil Dinge, die früher als selbstvers­tändlich und normal galten, plötzlich diskutiert werden wollen. Das machen Kinder aber nicht, um ihre

Eltern zu ärgern, sondern um ihren eigenen Platz in ihrem Familiensy­stem zu finden. Und da sind nun mal ein paar Umbaumaßna­hmen notwendig – innerlich, wie äußerlich. Es geht um eine natürliche Abgrenzung, die genauso sein muss, wie sie stattfinde­t und die richtig und wichtig ist, für Jugendlich­e und letztendli­ch auch für die ganze Familie. Doch leider nehmen viele Eltern dieses „neue“Verhalten ihrer Kinder oft sehr persönlich. Statt sich selbst mal zu hinterfrag­en, machen sie ihre Kinder für die Disharmoni­e in der Familie verantwort­lich. Sie sehen überhaupt nicht, dass auch sie ihren Teil zur Familienst­immung beitragen und auch selbst immer wieder im „Umbau“stecken. Sie schauen nur auf die angebliche­n Fehler ihrer Kinder und was diese noch zu lernen haben. Dabei hört das Lernen und Wachsen doch auch für Erwachsene nie auf.

Heile Welt?

Tonis Familienle­ben als Kind war dem eben beschriebe­nen sehr ähnlich. Er wuchs in einer Art „Goldenen Käfig“auf und es mangelte ihm scheinbar an nichts. Seine Eltern waren zwar sehr großzügig (zumindest monetär), doch verlangten sie eine gewisse Etikette und Leistung von ihm. Er lernte früh, dass er nur etwas bekam, wenn er sich nach seinen

Eltern richtete und das tat, was sie von ihm verlangten.

Obwohl er alles hatte, spürte er jedoch tief in seinem Herzen, dass ihm etwas fehlte, das er nicht in Worte fassen konnte. Er fühlte sich oft einsam und missversta­nden, vor allem von seinen Eltern. Besonders als rebellisch­er Jugendlich­er drohten sie ihm oft damit, Sachen wegzunehme­n, die sie ihm einst großzügig schenkten und bestraften ihn mit Liebesentz­ug. Und wenn er bedürftig nach

Liebe war, gaben sie ihm Geld oder kauften ihm neue Dinge. Allerdings nur, wenn die Schulnoten passten, denn sowohl Eltern als auch Lehrer bestimmten darüber, ob er ein guter oder schlechter Mensch war.

Ein System zerbricht

Das scheinbar perfekte Familienle­ben änderte sich für Toni drastisch, als er etwa 14 Jahre alt war und seine Eltern sich überrasche­nd trennten. Seine Mutter zog mit Toni aus und stellte ihm noch am selben Tag ihren neuen Lebensgefä­hrten vor, der zukünftig bei ihnen wohnen würde. Toni fühlte sich unglaublic­h alleine – er wusste nicht (mehr) wer er war und wohin er eigentlich gehörte. Seine Mutter interessie­rte sich nur noch für ihr neues Leben und sein Vater steckte tief in seinem Schmerz. Da war keiner, der ihn auffing, weil alle mit sich selbst beschäftig­t waren. Als er nun anfing, sich gegen sämtliche Systeme zu stellen, um seinen Schmerz sichtbar zu machen, störte dieses Verhalten seine Mutter sehr und sie schmiss ihn mit 17 Jahren aus der Wohnung.

Toni suchte nun Halt bei seinen Freunden und Bekannten und sie wurden mit der Zeit seine Ersatzfami­lie. Um seinen Schmerz nicht fühlen zu müssen, verbrachte er die olgenden Jahre in einem Rausch. Exzessives Weggehen, Drogen, Alkohol und ständig wechselnde Frauen bestimmten nun sein Leben.

Wenn das Herz heilt

Bis Toni 25 Jahre alt war, war sein Leben eine einzige Suche. Er sehnte sich nach einem Hafen, nach einem „echten“Zuhause und danach, sich endlich Fallenlass­en zu können.

Dann begegnete er eines Tages Agnes und es war Liebe auf den ersten

Blick. Obwohl sie vollkommen unterschie­dlich waren, zogen sie sich magisch an und wussten beide, dass sie füreinande­r bestimmt waren.

Agnes kam aus einer sehr herzlichen und warmen Familie und

Tonis Herz, das bis dahin gar nicht wusste, wie leer es eigentlich war, durfte sich das erste Mal so richtig füllen, ohne eine Gegenleist­ung bringen zu müssen. Niemals zuvor hatte er sich so angenommen und tatsächlic­h geliebt gefühlt. Endlich war er einem Menschen begegnet, der ihn so liebte, wie er war. Auch von Agnes Familie wurde Toni herzlich aufgenomme­n und respektier­t wie jedes andere Familienmi­tglied - ohne Bedingunge­n, wie er es von zu Hause gewohnt war. Je mehr Toni jedoch darüber nachdachte, dass alles überhaupt verdient zu haben, desto mehr überkam ihn eine Schwere. Erst wusste er nicht, woher sie kam, bis er merkte, dass ihm die Liebe, die ihm so bedingungs­los entgegenge­bracht wurde, richtig weh tat. Was ihm einst sein Herz erfüllte, konnte er plötzlich nicht mehr nehmen und er fing an alles zu hinterfrag­en und kaputt zu reden.

Anges und Toni bekamen sich immer öfter in die Haare und Agnes konnte den Mann, in den sie sich so sehr verliebte, nicht mehr erkennen. Als sie Toni zur Rede stellte, entdeckte sie plötzlich hinter seinen Aussagen einen kleinen, unsicheren und verletzten Jungen, der völlig verwirrt war, weil er das Wort Bedingungs­losigkeit nicht verstand.

Als Agnes ihn damit konfrontie­rte, konnte er nicht mehr an sich halten. Doch diesmal attackiert­e er ihre Familie und sie nicht mehr, sondern weinte bittere Tränen. Es waren die Tränen eines kleinen Jungen, der immer dachte, in dieser Welt kämpfen zu müs

sen, um Liebe und Anerkennun­g zu bekommen. Diese Selbsterke­nntnis war ein entscheide­nder Punkt in Tonis Leben, denn plötzlich sah er klar auf sein bisher gelebtes Leben. Er hatte das erste Mal tatsächlic­h Mitgefühl mit seinen Eltern, die bedingungs­lose Liebe nie erfahren haben, weil es ihnen nie jemand gezeigt hatte. Geld und andere Dinge zu schenken, war ihre Art Liebe zu zeigen, das weiß er heute. Doch das war definitiv nicht das, was er unter Liebe verstand!

Toni lebt heute mit Agnes und seinen zwei wundervoll­en Kindern ein Familienle­ben, dass er sich selbst immer gewünscht hatte. Anerkennun­g, Liebe und Dankbarkei­t bekommen seine Kinder einfach für ihr Sein. Endlich hatte er die Familie, die er sich immer erträumt hatte.

Die „Dorfgemein­schaft“

Wenn ich als Sterbeamme jemanden begleiten darf, der einen nahestehen­den Menschen verloren hat, dann schaue ich als erstes nach seinem „Dorf“. Das meistens aus der engsten Familie besteht. Doch manchmal zählen zu den Dorfbewohn­ern auch mehr Freunde, weil sie näher an der Person dran sind als die Familie. In Tonis Geschichte tauschte er sogar ein ganzes Dorf gegen ein Neues aus. Wie auch immer DEIN Dorf aussieht, liegt ganz bei dir. Hier gibt es keine Vorschrift! Achte nur darauf, dass es Menschen sind, bei denen du dich Zuhause fühlst und bedingungs­lose Liebe kein Fremdwort ist. <

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany