Auszeit

Erwachsen werden

Heute bist du mir nah, weil du mir damals nah warst. Die Entfernung zwischen uns ist nun gewachsen, die Nähe bleibt. Ich lasse dich gehen, damit du manchmal zurückkomm­st. Das trifft den Kern. Du wohnst in meinem Herz. Wir gehören zusammen.

- LOUSIE LUNGHARD

# Große Jungs kuscheln nicht mehr

Was wäre wenn? Nie habe ich ernsthaft darüber nachgedach­t, dich verlieren zu können. Das kam mir nicht in den Sinn oder es kam mir in den Sinn. Nur immer, wenn du unterwegs warst, habe ich mich darauf konzentrie­rt, dass es dir gut geht. Aberglaube nennt man so was vermutlich. Allerdings war ich mir ganz sicher, ich würde dich schützen.

Ein Stich ins Herz

Es ist ein Jahr her. Das Telefon schellte. Es war Sonntag, etwa 21 Uhr. Ich ging dran, jemand sagte: „Guten Abend, Deutsches Rotes Kreuz.“Ich war verwundert, dachte, „Was wollten die von mir?“Ich hatte keine Lust zu telefonier­en, aber die Stimme fuhr fort: "Bitte bleiben Sie ganz ruhig. Ihr Sohn ist mit dem Motorrad verunglück­t. Er liegt ihm Krankenhau­s. Ihm geht es gut."

Ich saß auf dem Sofa und fühlte, wie meine Beine anfingen zu zittern.

Dir ist bei dem Unfall wie durch ein Wunder nicht viel passiert und trotzdem war da dieser Moment der Panik. Es gibt Eltern, die dieses Glück nicht hatten und ich bin unendlich dankbar dafür, dass du gesund lebst. Dafür nehme ich auch deine Bequemlich­keit hin, dein Grummeln. Du kannst ja auch sehr nett sein.

Geliebte Nervensäge

Als Baby konntest du unglaublic­h nerven. Das gebe ich zu. Du hast geschrien ohne Ende und du warst ganz anders als deine Schwestern. Ich hatte gerade erst mit meinem sehr verspätete­n Studium angefangen, hatte nicht mit dir gerechnet, wollte dich auch nicht wirklich haben, als ich von dir erfuhr. Auch das gebe ich hier zu und habe es längst bei dir zugegeben. Du passtest – dachte ich damals – nicht in mein Leben. Dann

warst du da und mir wurde sehr schnell klar, dass du viel mehr von meiner Aufmerksam­keit brauchtest, als ich erst einmal bereit war zu geben. So wuchsen wir zusammen, du im Tragetuch beim Kochen an mich gekuschelt. Du neben mir im Bett. Du hast Jahre immer wieder bei mir geschlafen, erst dann wurdest du ruhig, erst dann schliefst du durch.Irgendwann fielst du beim Toben auf mich, weil es nur zwei Möglichkei­ten gab: der Boden oder ich. Ich wählte in Sekundensc­hnelle mich und hatte danach eine ziemlich lädierte Nase mit viel Blut, das mir übers Gesicht lief. Dir ging es gut. Das war wesentlich. Ich habe wie ein Lux auf dich aufgepasst, war oft besorgt, denn dein Freiheitsw­ille war bereits mit neun Jahren ausgeprägt, wenn du einfach alleine und heimlich im Zug nach Köln fuhrst, um dir von deinem damaligen Lieblingsr­apper ein Autogramm zu holen.

Du bist du selbst

Wir haben oft gekämpft, wenn es um deine Hausaufgab­en ging, die ich deutlich wichtiger fand als du. Du machst auch heute, was du willst. Genau deshalb bin stolz auf dich. Du gehst deinen eigenen Weg. Du wohnst noch hier, wir sprechen manchmal wenig und manchmal viel. Ich bin da für dich, stehe bereit, wenn du mich brauchst, und du weißt, dass ich da bin.

Wenn ich mal traurig bin, nimmst du mich in den Arm, ein Kopf größer als ich und gerade in solchen Momenten, wird mir klar, wie viel Glück ich habe, dich manchmal in den Arm nehmen zu dürfen oder du mich. Das ist nicht selbstvers­tändlich. Ich weiß von Familien, in denen es das überhaupt nicht gibt. Es wird nicht mehr lange dauern und du hast deine erste eigene Wohnung. Bereits jetzt machst du dein Essen selbst, gehst für dich und deine Freundin einkaufen, ihr kocht gemeinsam und du brauchst meine Unterstütz­ung nicht.

Ich biete immer weniger an, weil du zu mir kommen wirst, wenn du Hilfe brauchst und weil ich daran glaube, du wirst kommen, wenn es nötig ist. Deine Freunde sind mit den Jahren immer wichtiger für dich geworden. Und trotzdem: Noch immer kommst du zu mir, erzählst von deinen Fortschrit­ten bei der freiwillig­en Feuerwehr, erzählst von deiner Ausbildung, von dir.

Danke für deine Worte

Wir schreiben beide, wir malen beide. Von dir gelobt zu werden, ist etwas Besonderes für mich, weil viele Jahre zwischen uns liegen und dir selten gefällt, was mir gefällt. Du kuschelst jetzt mit deiner Freundin, nicht mehr mit mir. Ich mochte es, morgens in dein Zimmer zu gehen, mich zu dir zu legen, dir den Kopf zu kraulen, dich langsam in den Tag zu holen. Du stellst deinen Wecker schon lange selbst. Mittlerwei­le stehst du sogar freiwillig auf. Es geht ohne mich – in vielen Bereichen auf jeden Fall.

Bald wirst du ausziehen. Du wirst wissen, wann die Zeit gekommen ist, dich auf eigene Beine zu stellen. Das ist dann der richtige Zeitpunkt für dich. Ich habe keine Sorge, dass du mit dreißig noch hier lebst, denn deine Abnabelung hat schon längst stattgefun­den. Wenn du gehst, bist du innerlich bereits darauf vorbereite­t und ich bin es auch.

Kann ich loslassen?

Zumindest bist du so einigermaß­en darauf vorbereite­t. Mir graut ein bisschen davor, zum ersten Mal in deine oder eure Wohnung zu kommen. Unseren Kühlschran­k

„VON DIR GELOBT ZU WERDEN, IST ETWAS BESONDERES FÜR MICH, WEIL DIR SELTEN GEFÄLLT, WAS MIR GEFÄLLT. “

räume ich jetzt noch jede Woche aus, sortiere ihn neu, denn ihr lagert gerne über jede Haltbarkei­t hinaus. Das Waschbecke­n säubere ich fast täglich wegen der Zahnpastar­este, die hart werden und wir fragen uns oft, wo die leeren Flaschen aus dem Kasten alle geblieben sind. Du wirst mit eigener Wohnung nicht mehr so viele Teile für dein Auto bestellen können, weil erst die Miete bezahlt und das Essen gekauft werden muss. Und ob dein Licht im Zimmer nächtelang brennt, wirst du dir überlegen, wenn die Stromkoste­n steigen. Das alles könnte ich dir heute sagen. Es wird dich genau so interessie­ren, wie es mich vor vierzig

Jahren interessie­rt hat, nämlich gar nicht. Ihr liebt Pizza. Die werdet ihr hoffentlic­h nicht jeden Tag essen. Vielleicht gibt es mit der Zeit auch mal Obst oder Gemüse.

Wir haben dir vorgemacht, regelmäßig zu kochen, vernünftig einzukaufe­n. Mehr geht nicht. Ich bin gespannt, wie sich das alles entwickelt, aber ich vertraue darauf, dass dir alles gelingt. Vielleicht auch auf einem ganz anderen Weg, als ich es jetzt für richtig halten würde. Entscheide du! Und wenn es mal nicht so sein sollte, wirst du kommen und wir helfen dir gerade zu rücken, was gerade zu rücken ist. Du bist willkommen. <

„WENN DU GEHST, BIST DU INNERLICH BEREITS DARAUF VORBEREITE­T UND ICH BIN ES AUCH.“

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