Vom Geben und Nehmen
Der Kreislauf des Lebens ist wundervoll und jede seiner Facetten einzigartig. Die Geschichte jedes Menschen ist jedoch irgendwann im Alter einmal zu Ende erzählt. Auch dieses letzte Kapitel kann von Liebe und Geborgenheit geprägt sein.
# Mit einem Lächeln altern
Wie in den meisten Familien prägten auch ihn seine Großeltern. Bei ihnen traf sich jedes Wochenende fast die gesamte Familie zu Kaffee und Kuchen. Man wertete gemeinsam die vergangene Woche aus, beschwerte sich über die Politik und erfreute sich an Trainingserfolgen und guten Schulnoten der Kinder. Vor allem den Jüngsten im Kreise wurde viel Aufmerksamkeit gewidmet und jeder erste Schritt oder Erlebnisse in Kindergarten und Schule gewürdigt.
Opa haut nix um
Seine Oma hatte ohne Ausnahme immer selbst gebackenen Kuchen im Haus. Er mochte am liebsten den gefüllten Streuselkuchen, denn der war nicht so trocken. Wenn er keine Lust mehr auf die Debatten im Wohnzimmer hatte, ging er mit den anderen Kindern in den Garten. Denn dort schwelte regelmäßig ein kleines Gartenfeuer von Opa vor sich hin, das in Kürze seinen letzten Funken aushauchen würde. Und wie fast jede Woche wurde wieder versucht, ihm neues Leben einzuhauchen und es wieder anzufachen. Wenn dabei auch mal ein guter Scheit vom Kaminholz dran glauben musste, war das nicht schlimm, geschimpft wurde wegen solcher Unwichtigkeiten nicht. Generell bewahrten seine Großeltern stets die Ruhe, wenn der Nachwuchs mal wieder etwas ausgefressen hat. Die faulen Birnen in den Nachbargarten geschossen – hat niemand gesehen. Mit dem Luftgewehr das Garagentor getroffen – nicht mal
nen Kratzer zu entdecken. Komm rein, iss nen Stück Kuchen, ist doch ganz schön kalt gewesen draußen.
Wenn die Kraft nachlässt
Seit über vierzig Jahren begleiteten ihn seine Oma und sein Opa mittlerweile. Während die Familie weiter wuchs, schwanden bei den Senioren die Kräfte. Die Bewegungen wurden langsamer, die Einschränkungen im Tagesablauf nahmen zu. Der Körper entwickelte sich zurück – ganz langsam. Früher sagte sein Opa einmal, dass es keinen Tag mehr gebe, an dem nicht irgendetwas zwickte oder wehtat. Diese Aussichten waren nicht gerade rosig. Damals war er noch Anfang 80, später war sein
Opa über 90 Jahre alt und meisterte gemeinsam mit seiner Jugendliebe noch immer den Alltag – auch wenn die Arzttermine zunahmen. Wer möchte nicht alt werden und so viel wie möglich von der Welt sehen und beobachten, wie die eigenen Kinder, Enkel sowie Urenkel sich entwickeln? Das ist wohl der Preis dafür. Und irgendwann kommt der Punkt, an dem sich das Blatt wendet. Bei einigen Familien passiert es früher, bei einigen später. Die Kinder werden von ihren Eltern behütet und irgendwann werden die erwachsenen Kinder für ihre eigenen Eltern in die Pflicht genommen – das ist der Generationenvertrag, der seit Jahrtausenden genau so funktioniert. Die Ausgestaltung geht aber meilenweit auseinander.
Einer kann immer
In der globalisierten Welt driften viele Familien auseinander und auf einmal ist da keine Verwandtschaft mehr in der Nähe, die sich um die Großeltern kümmern kann. Oder die Arbeit steht über der Familie und das persönliche Wohlbefinden überwiegt den Familienbanden.
Nun war es also anders herum und die Familie kümmerte sich um die Großeltern. Es passierte nicht von einem Tag auf den anderen, sondern ging fließend ineinander über. Das Auto wurde abgeschafft und die beiden Senioren fuhren zu Arzt und Supermarkt mit ihren Elektromobilen. Für alle weiteren Wege fand sich immer wieder eines der Kinder oder Enkelkinder, damit kein Familienfest oder der Urlaub in der Sommerresidenz verpasst wurde. War einer der beiden Senioren im Krankenhaus, hatte er täglich Besuch und war nicht vom Familienleben abgeschnitten. Dies war auch die Zeit, in der er sich erstmals regelmäßig über den Generationenvertag Gedanken machte. Denn die Geschichte seiner anderen Großeltern war damals
längst zu Ende geschrieben und verlief gegensätzlich. Sie lebten in einer anderen Stadt, rund 150 Kilometer von seiner Heimat weg. Sie hatten nur ein Kind, das der Liebe wegen den Wohnort wechselte und somit weit entfernt seine Familie gründete. Besuche der Großeltern waren aufgrund der Entfernung seltener. Er war noch ein Teenager als der Großvater starb und die Großmutter fortan allein in ihrer Wohnung fern der Familie lebte. Die ersten Jahre unternahm sie noch regelmäßig Kaffeefahrten mit einer Freundin und traf sich mit Bekannten. Aber irgendwann schwanden auch bei ihr die Kräfte und das Leben allein in der Wohnung war ihr nicht mehr möglich. Seine Oma kam in ein Seniorenheim in die Nähe der Familie – in eine für sie neue Stadt mit fremden Menschen. Regelmäßig besuchte er die Großmutter im Heim, die in dem kleinen Doppelzimmer mit einer älteren Dame wohnte und nicht glücklich wirkte. Sie klagte nicht über gesundheitliche Probleme, sondern schimpfte über das Leben im Heim, ihre Mitbewohnerin, die Langeweile, das Essen.
Liebe kennt kein Alter
Seine Oma war dort nicht glücklich, fand sich aber mit der neuen Umgebung ab, denn eine echte Alternative gab es nicht. Oder doch? Über 20 Jahre später kann darüber nur spekuliert werden. Hätte die Großmutter in einer eigenen Wohnung in der Nähe der Familie auch ein paar Jahre durchgehalten? Gab es damals schon betreutes Wohnen? Egal, für sie schien es der beste Weg zu sein.
Und dann passierte etwas, was ihm bis in alle Ewigkeit ein Vorbild sein sollte: Sein Papa besuchte die Oma fast täglich im Heim. Ein Ort, der damals für die Teenager nicht leicht zu ertragen war: Viele, sehr alte Leute, scheinbar durch die Flure umher irrend, der latente Geruch nach alten Menschen. Gänsehaut. Aber sein Papa war stets an der Seite der Oma, auch als sie das Bett nicht mehr verlassen konnte und irgendwann vom Geschehen um sie herum nicht mehr viel wahrnahm. So hatte sie am Ende doch noch ihre Familie um sich.
Teilhabe ein Leben lang
Im Alter verschieben sich die Werte. Irgendwann sammelt sich das Geld auf dem Konto, es muss nicht mehr das neueste Auto in der Garage und der beste Fernseher im Wohnzimmer stehen. Dann geht es neben der Gesundheit darum, am Familienleben teilzunehmen. Den Kindern, Enkeln und Urenkeln zuzuschauen, wie sie ihren Weg im Leben meistern und ihre eigenen Familien gründen. Diese Beobachtungen müssen wir unseren Großeltern ermöglichen und ihnen die Liebe zurück geben, die sie uns einst als Kindern gaben. Beim Gedanken an seine Großeltern, die immer noch zusammenwohnten, musste er lächeln. Denn noch immer gibt es bei ihnen fast jede Woche frisches Gebäck, wenn er sie mit seinen Kindern besucht. Doch mittlerweile bringt er die mit seinen Kindern nach Omas Rezept gebackenen Kuchen selbst mit. Am liebsten den gefüllten Streusel, denn der ist nicht so trocken. <