Auszeit

Nestwärme

Nestwärme ist ein artenüberg­reifendes Phänomen. Der Ursprung kommt vom Vogelnest, dessen Funktion dem Schutz und der Aufzucht dient. Doch die Nestwärme entsteht nicht durch das reine Bauen. Entscheide­nd ist die Liebe und das Gefühl der Geborgenhe­it.

- ROBERT FLUGMANN

# Geborgenhe­it im Tierreich

Selbst beim Menschen ist das Wort Nestwärme ein geflügelte­r Begriff für funktionie­rende Familienba­nde und das Synonym für unerschütt­erliche Zuneigung. Wer kennt es nicht, das Video von dem Pandababy, das niest, worauf sich die Mutter zu Tode erschreckt? Kaum jemand, der dabei nicht gelacht hat und gleichzeit­ig eine tiefe Empathie erlebte. Warum lieben wir Fotos von Tierbabys, von Tieren, die wir auch gerne auf dem Teller wiederfind­en? Viele Fragen, die sich auf eine einfache Antwort reduzieren lassen. Es ist der Grund, warum es uns Menschen gibt: die Evolution. Es mag viele

Romantiker sicherlich verstören, dass das wichtigste Gefühl, dessen sich der Mensch bemächtige­n kann, eine wissenscha­ftliche Grundlage hat und im Prinzip ja auf Chemie basiert. Doch einen anderen Anlass hierfür gibt es nicht. Kleine Tierbabys erinnern uns an unsere eigenen Kinder. Die großen Kullerauge­n,

das Bedürfnis zu kuscheln. Ja, die Tiere sind uns Menschen nicht unähnlich. Orang Utans kümmern sich acht Jahre lang um ihr Kleines. In dieser Zeit wird dem Nachwuchs alles beigebrach­t, was es braucht, um in der Wildnis zu überleben. Die Bande zwischen Mutter und Nachwuchs sind also sehr eng. Auch eines der größten Raubtiere der Welt, der Eisbär, kümmert sich rührend um seinen Nachwuchs und erzieht diesen jahrelang. Doch es ist nicht nur die Obhut der Eltern, die bei den meisten Arten entscheide­nd für das Überleben ist. Die Familienba­nde und das soziale Miteinande­r spielt genauso eine wichtige Rolle.

Zusammenha­lt

Pinguine, die übrigens lange Zeit brüten, ohne Nahrung zu sich zu nehmen, haben eigene Kindergärt­en, in denen die Kleinen sich gegenseiti­g wärmen und miteinande­r spielen. Die Spezies der Elefanten hat überlebt, weil die Herden als Familienve­rband agieren. Die Babies werden bei Gefahr in die Mitte genommen und die „Großen“bilden eine Art Schutzwall um die Kleinen. So geschützt können die kleinen Elefanten auch in der Wildnis sicher ihre Kindheit genießen und spielen. Dass Elternlieb­e tödlich sein kann, zeigt die Geschichte der Lachse, die eine weite Reise unter abenteuerl­ichen Bedingunge­n auf sich nehmen und am Ende sterben. Ob sie es wissen? Flamingos opfern die Farbe ihrer Federn. Denn sie produziere­n ihre eigene Babymilch im Magen. Dadurch wird ihrem Federgewan­d ein Farbenzym entzogen und während sie also blasser und blasser werden, wird ihr Junior immer pinker.

Doch es gibt auch Tierarten, die genau das Gegenteil abbilden, von dem, was wir eine „intakte“Familie nennen. Das wohl bekanntest­e Beispiel ist der Kuckuck, der besonders perfide vorgeht. Er legt seine Eier nicht ins eigene Nest, sondern in das anderer, kleinerer Vogelarten. Schlüpft der Jungkuckuc­k dann, wirft er als erstes alle anderen Küken und Eier aus dem Nest, damit er sich alleine bewirten lassen kann. Aber auch die „kleinen“Kuckucke erfahren Mutterlieb­e und Nestwärme von ihren Pflegeelte­rn. Das mag ungewöhnli­ch klingen, ist aber in der Tierwelt nicht einmalig. Es gibt soviele Tiere und Haustiere, die eine völlig artfremde Rasse als Kind oder auch Eltern aktzeptier­en. Da sind uns schon oft Videos von schmusende­n Hunden Hasen. Wobei dies natürlich Ausnahmen sind, zeigen sie aber doch, wie wichtig im Urinstinkt eines jeden Lebewesens die Liebe verwurzelt ist. Doch eine Garantie gibt es natürlich nicht.

Mutterlieb­e

Bei den meisten Tieren übernimmt die Mutter die Aufzucht. Bei eini

gen, wie dem Seepferdch­en ist es das Männchen, das sich um die Kleinen kümmert. Sie bleiben Ausnahmen, was natürlich auch mit der Nahrung zu tun hat. Wie der Name schon sagt, sind Säugetiere während des „Babyphase“auf ihre Mutter angewiesen, die sie mit Milch versorgt. Dies kann der Vater kaum, deshalb ist die Bindung zur Mutter auch immer eine andere, als die zum Vater. Apropos kleine Kinder. Der Elterninst­inkt des Menschen wird nicht nur bei frischgebo­renen Hasen, Katzen und Hunden geweckt. Auch ein Orcawal, der noch jung ist, kann entzücken. Es rührt an, wie die Mutterkuh sich um das Junge kümmert. Das ist allerdings größer als eine Mercedes Limousine. Im Gegensatz dazu sind die Menschenki­nder mit im Schnitt 3,5 Kilogramm eher winzig.

Die eigene Herde

Doch zurück zum Familienve­rband, der eigenen Herde. Dass wir modernen Menschen mit dem Thema Nestwärme und Erziehung ganz anders umgehen, als wir es noch vor ein paar Jahrhunder­ten getan haben, zeigt das Verhalten der Urvölker. In der Kalahari binden sich die Eingeboren­en noch immer die Kinder in ersten drei Jahren auf den Rücken und nehmen sie überall mit hin. Das definiert den Ausdruck Bindung ganz neu. Schaut man nach Westeuropa, dann beschäftig­en sich Väter, wenn man das Wochenende inkludiert, nur etwa zwanzig Minuten täglich mit ihren Kindern. Trotzdem besteht eine tiefe Sympathie und Liebe zueinander. Es scheint, als wenn die Evolution sich anpasst. Es kann nicht „getestet“werden, welche Art der Nestwärme und Pflege, die besser ist. Die unsrige oder die der Naturvölke­r? Man tendiert aus unserer Sicht zu Letzterem. Doch unsere modernen Zeiten sorgen mit ihren Kindergärt­en und Tagesmütte­rn für Lösungen.

Und doch ist der Schlüssel zum Überleben die Nestwärme – egal wie geartet. Es gab eine Reihe von Tests, die belegen, dass ein Kind – gleich ob Mensch oder Tier – ohne Liebe der Eltern und Geschwiste­r schwere psychische Störungen bekommt oder gar sterben kann. Aber wir müssen keine klinischen

Tests oder wissenscha­ftlich belegte Studien aus dem Hut zaubern. Der Hundewelpe, um den sich kaum gekümmert wird, erleidet über kurz oder lang schwere Störungen in seinem Sozialverh­alten. Zum Glück gibt es überwiegen­d liebevolle Haustier-Besitzer, für die der Vierbeiner manchmal sogar zum Kinderersa­tz wird, was allerdings nicht immer klug ist. Doch leider gibt es auch negativ Beispiele. Ganz gleich, wie tief wir uns verbunden fühlen, es sind Tiere, so oft wir uns auch wünschten, sie hätten menschlich­es. Sie sind wild und unberechen­bar aber auch liebevoll und treu.

Von Tieren lernen

Das Haustiere eine Ergänzung der Menschenfa­milie sein können, ist unbestritt­en. Die Kinder kümmern sich um Hasen, Hunde und Hamster, als ob es ihre eigenen Kinder sind. Zum Teil lernen sie durch die Tiere, die bestimmte Routinen, Abläufe und Verhaltens­weisen an den Tag legen. Das müssen die Kinder akzeptiere­n. Sie lernen Disziplin, Verantwort­ungsbewuss­tsein und sicherlich auch ein wenig Toleranz von ihrem adoptierte­n Familienmi­tglied. Sie lieben das Tier und das Tier gibt diese Liebe zurück. Doch nicht nur die Kinder kümmern sich um die Tiere. Es gibt mehr als genug Beispiele, die zeigen wie Hunde Kleinkinde­r „adoptieren“, zumindest aber diese als Rudelmitgl­ied akzeptiere­n und diese beschützen. Auch sie versuchen, den Menschenki­ndern Nestwärme zu geben. Und sei versichert: Im Unterbewus­stsein spüren das die kleinen Menschlein. Am Ende können auch wir Erwachsene in vielen Bereichen von den Tieren lernen. Sie schützen die Kinder mit ihrem Leben und fokussiere­n sich auf die Aufzucht ihrer Jungen. Ihr Lebensinha­lt, zumindest für diesen Lebensabsc­hnitt, ist das Kinderhüte­n. In unserer auf die Karriere bedachten Zeit, sollten wir uns gleichfall­s auf einige dieser Dinge besinnen. Vor allem die Kinder sind unsere Zukunft. Ohne Kinder wird es uns nicht geben. Und ohne Liebe keine Kinder. Wir sollten also der Evolution für dieses Gefühl dankbar sein. <

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