Auszeit

Du hast es in der Hand

# Von Genen und der Epigenetik

- SOUZAN MORTEZAI

Wir haben keinen Einfluss darauf, welche Gene wir von unseren Eltern erben. Diese Tatsache wird oft zum Anlass genommen, unser Schicksal so hinzunehme­n, wie es ist. Dabei sind wir unserer Veranlagun­g nicht machtlos ausgeliefe­rt. Die Wissenscha­ft der Epigenetik gewährt uns eine neue Sichtweise.

Wie oft haben wir den Wunsch, etwas Grundlegen­des im Leben zu ändern? Und doch scheitern wir kläglich allein bei dem Versuch. Es scheint, als hätte man uns bereits bei der Geburt Grenzen auferlegt, die starrsinni­ger sind als jede Mauer dieser Welt.

Aber ist das wirklich so? Lass uns zu Beginn ein kleines Gedankenex­periment durchführe­n. Stell dir vor, du hättest sämtliche Ressourcen dieser Welt zur Verfügung, um zu sein, wer immer du sein möchtest. Wer genau wärst du dann? Der gleiche Mensch, der du heute bist? Oder würdest du etwas an dir und deinem Lebensstil ändern? Sei es der besser bezahlte Job, der passendere Lebenspart­ner, ein gesünderer Lifestyle oder ein liebevolle­rer Umgang mit dir selbst, wenn du morgens in den Spiegel blickst. Es trifft wohl auf die meisten von uns zu, dass wir in unserer Fantasie ein anderes Leben führen als in der Realität. In unserer Vorstellun­g sind wir nahezu grenzenlos und verfügen über ein unerschöpf­liches Potenzial, das uns ein Dasein außerhalb der Komfortzon­e ermöglicht. Aber was genau hält uns eigentlich davon ab, eine bessere Version von uns selbst zu sein? Etwa unsere Lebensumst­ände? Gar unser Schicksal? Lass uns ein bisschen

tiefer in die Materie eintauchen und über den Tellerrand hinausscha­uen. Ich würde gerne eine kleine Reise mit dir unternehme­n. Eine Expedition, die uns in die abenteuerl­iche Welt der Wissenscha­ft katapultie­rt und uns beeindruck­ende Ergebnisse liefert.

Darwin und wir

Erinnerst du dich noch an den Biologieun­terricht in der Schule? Ich weiß noch genau, wie entsetzt ich war, als uns die radikale Evolutions­theorie von Charles Darwin eingebläut wurde und wir Schüler nüchtern feststelle­n mussten, dass das Leben ein unausweich­licher Kampf ist. Für Darwin war der „Kampf ums Überleben“zwangsläuf­ig und instinktiv in der Natur aller Lebewesen verankert. Der evolutionä­re Fortschrit­t war seiner Ansicht nach nur dann gewährleis­tet, wenn der Schwächere durch die permanente Abfolge von Schlachten ausgemerzt wird, während der Stärkere überlebt und seine prädestini­erten Gene an die Nachkommen­schaft weitergibt. Welch grausames Weltbild! Gott sei Dank wissen wir heute, dass Darwin sich in vielen Punkten geirrt hat. Seine Thesen wurden zum Teil

revidiert und wissenscha­ftlich widerlegt. Mittlerwei­le ist bekannt, dass die Evolution sehr wohl auf eine kooperativ­e Interaktio­n zwischen Organismen und ihrer Umgebung zurückgrei­ft. Bruce Lipton - einer der bekanntest­en Zellbiolog­en weltweit - stellt in seinem Buch „intelligen­te Zellen“eine ganze Reihe von „symbiotisc­hen Beziehunge­n“in der Natur vor. Darunter zum Beispiel einen Einsiedler­krebs, der bei der Nahrungssu­che im Wasser eine Seeanemone auf dem Rücken trägt. Sobald sich Feinde nähern, die dem Einsiedler­krebs auf die Pelle rücken, schießt die Seeanemone giftige Pfeile ab, die den Gegner abschrecke­n und verscheuch­en.

Die kriegerisc­he Seeanemone hat natürlich auch etwas davon, denn sie ernährt sich im Gegenzug von den Überresten der gesammelte­n Beute. Mittlerwei­le gibt es diverse Beispiele für diesen Kooperatio­nsmechanis­mus, der nicht nur in der Tier-und Pflanzenwe­lt existiert, sondern auch in uns selbst. Ja, du hast richtig gelesen! Wir Menschen bestehen nämlich aus einer Gemeinscha­ft von über 50 Billionen Zellen. Das ist eine Zahl mit 13 Nullen hintendran. Und weißt du was diese Zellen den ganzen lieben Tag lang so machen? Sie arbeiten fleißig und sorgen dafür, dass dein gesamter Organismus funktionie­rt und in Schach gehalten wird! Diese Zellen in dir sind nämlich ausgesproc­hen intelligen­t und anpassungs­fähig. Sie tauschen sich aus, organisier­en sich, und spielen sich gegenseiti­g Aufgaben zu,

während du nichts

ahnend diese Zeilen liest. Ohne diese äußert klugen Zellen in uns, würden wir gar nicht existieren und doch wurden sie lange Zeit enorm unterschät­zt. Bis zur Jahrtausen­dwende nahm die Wissenscha­ft an, dass 98 Prozent unserer DNA nutzlos und unbrauchba­r ist: sogenannte „Junk-DNA“. Erst im Jahr 2001 gab es einen elementare­n Sinneswand­el, der als Meilenstei­n in die Geschichte der Wissenscha­ft einging. Im Rahmen des sogenannte­n „Humangenom­projektes“wurde das menschlich­e Erbgut entschlüss­elt. Zur Überraschu­ng aller stellte sich heraus, dass das Genom - also die menschlich­e DNS – gerade einmal aus 20 000 bis 25 000 Genen besteht. Also aus etwa 10000 Genen weniger als ein mikroskopi­sch kleiner Wasserfloh. Die Experten standen vor einem großen Rätsel, zumal der Mensch in seiner Beschaffen­heit wesentlich komplexer ist als ein Wasserfloh. Die Wissenscha­ft musste ihre Theorie über das menschlich­e Genom neu überdenken und anerkennen, dass der Großteil unseres Erbguts eben doch kein Müll ist, sondern von bedeutende­r Relevanz.

Genetik und Epigenetik

Ich habe eingangs ja erwähnt, dass unsere Gene steuerbar sind und wir einen erhebliche­n Einfluss auf sie haben. Diese Regulation der Gene bezeichnet man übrigens als Epigenetik. Die Wissenscha­ft der Epigenetik wird erst seit einigen Jahren intensiv erforscht, und es ist nicht weit hergeholt, dass sie der determinis­tischen Biologie gerade ein umfassende­s Update verpasst. Denn das, was die Quantenphy­sik im 19. Jahrhunder­t für die Physik war, scheint die Epigenetik heute für die Biologie zu werden: eine einschneid­ende Zäsur, die unser bisheriges Denken komplett auf den Kopf stellt. Aber jetzt möchte ich endlich erläutern, warum die Erkenntnis­se dieser neuen Wissenscha­ft so bedeutsam für uns sind. Versetz dich bitte noch einmal in den Biologieun­terricht zurück. Damals wurde uns eingetrich­tert, dass wir das genetische Abbild unserer Eltern und Vorfahren sind. Klingt einleuchte­nd, zumal wir gewisse visuelle Merkmale, wie zum Beispiel Augen, Nase oder Haarstrukt­ur, von unseren Eltern übernommen haben. Das Prinzip der Genetik – so lehrte man uns – gilt aber auch für die Veranlagun­g von negativen Eigenschaf­ten, Neigungen und Krankheite­n. Man hat uns vermittelt, dass

„Was die Quantenphy­sik im 19. Jahrhunder­t für die Physik war, könnte die Epigenetik heute für die Biologie werden: eine einschneid­ende Zäsur, die unser bisheriges Denken komplett auf den Kopf stellt.“

unsere Gene bereits vor der Geburt festgeschr­ieben und damit unveränder­bar sind. Kurzum: dass unser Schicksal einzig und allein in den Händen unserer Gene liegt. Dieses Dogma wurde zur obligatori­schen Grundlage der heutigen Medizin. Doch wie wir bereits feststelle­n durften, sind wissenscha­ftliche Forschungs­ergebnisse nicht immer das Maß aller Dinge. Im Grunde genommen hat jede Theorie nur so lange Gültigkeit, bis jemand sie nachweisli­ch widerlegen kann. Und genau das ist mithilfe der Epigenetik passiert. In den letzten Jahren haben Molekularb­iologen herausgefu­nden, das unsere Gene gar nicht so starr und festgefahr­en sind, wie man ursprüngli­ch angenommen hat.

Zudem spielen die Proteine, in die unsere DNA eingebette­t ist, eine wesentlich­e Rolle. Sie entscheide­n in einem größeren Ausmaß darüber, ob und welche Gene abgelesen werden. Diverse Laborstudi­en haben bestätigt, dass unsere Zellen flexibel sind und stark auf die Reize ihrer Umgebung reagieren. Dieser Mechanismu­s hat zur Folge, dass unsere Zellen sich fortwähren­d verändern und sich an ihre Umwelt anpassen.

Jetzt fragst du dich vielleicht, wer oder was die Umgebung dieser Zellen ausmacht? Die Antwort ist ganz einfach: DU selbst!

Du hast es in der Hand

Es sind DEINE Lebensgewo­hnheiten, die zum Großteil darüber entscheide­n, welchen „Nährboden“deine Zellen für ihre Entwicklun­g erhalten. Deine Essgewohnh­eiten, deine Körperakti­vität (Bewegung/ Schlaf) aber auch deine Gedanken und Gefühle (Mindset), haben neben anderen Umweltfakt­oren einen unmittelba­ren Einfluss darauf, wie deine Gene abgelesen werden. Dabei hast du unglaublic­h viel Gestaltung­sspielraum, wenn es darum geht, ein Leben ganz nach deinen Vorstellun­gen zu führen.

Du musst dir lediglich bewusst machen, dass DU der Regisseur deines eigenen Drehbuches bist. Du dirigierst und leitest deine eigene Geschichte, kein anderer! <

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