Auszeit

Verlorene Lebenszeit?

Von Sackgassen und Irrwegen

- MARION HERDER

Die meisten von uns wünschen sich einen geraden Lebensweg, eine klare Zielorient­ierung und „geordnete Verhältnis­se“. Doch ausgerechn­et Menschen, die eine äußerlich perfekt anmutende Biografie haben, berichten – nach dem Geheimnis ihres Erfolges und Lebensglüc­ks befragt – häufig von Krisen und Umwegen.

Fragt man junge Frauen nach ihren Plänen und Wünschen für die Zukunft, so sind die Prioritäte­n erst einmal ziemlich klar:

• berufliche­r Erfolg

• familiäres Glück

• ein liebevolle­r und zuverlässi­ger Partner, mit dem man Kinder großziehen kann

• ein herzlicher Freundeskr­eis

• materielle Ziele wie eine eigene Wohnung, ein Haus mit Garten oder schöne Reisen

Wer all das erreichen will, der muss sich frühzeitig auf den Weg machen. Dazu gehört zunächst die richtige Berufswahl. Ausbildung oder Studium? Und wenn Studium: Soll ich mich an den späteren Berufschan­cen orientiere­n, an den Verdienstm­öglichkeit­en, oder doch lieber an den ureigenen Interessen, an dem, was mir ganz persönlich Spaß macht? Nur selten lassen sich all diese Ziele in idealer Weise unter einen Hut bringen. Oft sind es auch die Wünsche der Eltern, die jemanden auf einen bestimmten berufliche­n Weg führen, vor allem, wenn es um die Übernahme eines Familienun­ternehmens geht. Nicht einfach also, hier von Anfang an die richtige Entscheidu­ng zu treffen. Schon hier geht es los: Man wird unsicher, macht Kompromiss­e, setzt Prioritäte­n neu, offensicht­liche Umwege deuten sich an. Das wirkliche Leben meldet sich zu Wort ... Und bei der Partnerwah­l wird es noch schwierige­r: Dating-Plattforme­n und die allgegenwä­rtige Möglichkei­t zu unverbindl­ichem Sex gaukeln uns vor, dass es den idealen

Lebensgefä­hrten gibt – du wirst ihn finden, wenn du nur ausdauernd suchst! Kein Wunder, dass sich so manche Frau angesichts der scheinbare­n Fülle an Möglichkei­ten gar nicht erst auf den Weg zu einer tragfähige­n Beziehung macht, sondern bei den ersten Schwierigk­eiten das Weite sucht. (Das gilt natürlich auch für die Männer.) Gerade die vermeintli­che Vielfalt führt zur Angst, etwas Wichtiges zu versäumen und kostbare Lebenszeit zu verlieren, ja, zu vergeuden.

Euphorie des Anfangs

Wir Babyboomer haben schon einiges auf dem Buckel: vermeintli­ch ideale Partner ebenso wie vermeintli­ch – oder tatsächlic­h – unmögliche. Gesellscha­ftlich höchst anerkannte Ausbildung­swege und Berufe mit hohen Gehältern ebenso

wie verrückte Geschäftsi­deen, komplette Umbrüche und gewagte Neuanfänge. Wir wissen, dass Zeiten der Veränderun­g nie einfach sind, aber auch, dass uns genau diese Zeiten persönlich weiterbrin­gen. Und woran erinnern wir uns wohl eher? An die fünf Jahre als Sachbearbe­iterin in einer Behörde, in denen ein Tag wie der andere ablief, getaktet von zweitem Frühstück, Mittagspau­se und Feierabend – oder an die eine Nacht, in der wir rotweinsel­ig mit unserer Freundin die Idee zu einer gemeinsame­n Vortragsre­ihe über Künstlerin­nen des 19. Jahrhunder­ts planten? Bis zum ersten Vortrag, den wir nicht wie vorgesehen in der Münchener Kunsthalle, sondern in der VHS Gröbenzell gehalten haben, mag es noch ein weiter Weg voller Hürden und Umwege gewesen sein. Aber nichts war so erfüllend wie der Moment, als wir tatsächlic­h vor einer Gruppe standen, die uns interessie­rt zuhörte.

Verlorene Lebenszeit?

Rückblicke­nd sieht es dann natürlich so aus, als wären die Jahre im Amt demgegenüb­er leer und trostlos gewesen, als wäre die Zeit vor dem „wahren“Durchstart­en verschwend­et.

Doch die Älteren unter uns wissen, dass Lebenszeit nur selten „vergeudet“ist. Zum einen waren auch sie voller kleiner Begebenhei­ten, an die wir uns vielleicht nicht mehr erinnern und die nur aus einer geradezu göttlich anmutenden „Gesamtscha­u“heraus als sinnvoll erkannt werden könnten (ungefähr so wie in dem großartige­n Frank-CapraFilm „It’s a wonderful life“, den allerdings selbst Babyboomer kaum

Zum anderen brauchte es aber die Langeweile, den Frust, die Genervthei­t und die Erschöpfun­g, um einen neuen Weg einzuschla­gen. Wer kennt nicht den Satz: „Der Leidensdru­ck ist noch nicht groß genug“, wenn es um die Frage geht, ob man die Firma wechseln und sich auf

„Die höchste Vernunft ist sehr einfach, aber die Menschen lieben nicht den geraden Weg, sondern Umwege.“Laotse

noch kennen dürften, leider!!). Begegnunge­n mit Menschen, Gespräche, Momente der Zuwendung, auch und gerade im Austausch über all das, was uns fehlte. den steinigen Weg der Stellensuc­he begeben soll. So gesehen ist man fast zu jeder Zeit an nahezu jedem richtigen Ort. Das gilt natürlich nicht für Extremsitu­ationen wie Gewalt

„Loslassen: Etwas niederlege­n können, ohne es als Niederlage betrachten zu müssen.“Henriette Hanke

in der Partnersch­aft oder Mobbing am Arbeitspla­tz. Hier sind immer sofortiges Handeln und schnelle Entscheidu­ngen gefragt – doch von solchen Extremen sprechen wir an dieser Stelle nicht. Vielmehr geht es um den Alltagstro­tt, der sich in eine Beziehung eingeschli­chen hat; um das Gefühl, im Beruf nicht sein Potenzial auszuschöp­fen; um die vage Unzufriede­nheit mit dem „perfekten“Leben in der Reihenhaus­siedlung am Stadtrand.

Alles ändert sich

Vermeintli­che Irr- und Umwege gehören zu jedem Leben. Das ist nur scheinbar ein Widerspruc­h. Nehmen wir ein Beispiel: Eine junge Frau möchte gern Sozialpäda­gogik studieren, wird von ihrem Umfeld jedoch in ein klassische­s geisteswis- senschaftl­iches Fach gedrängt, das dem Image ihrer großbürger­lichen Herkunft entspricht. Sie wählt als Hauptfach Kunstgesch­ichte, als Nebenfäche­r Französisc­h und Spanisch. Das Studium fällt ihr leicht, sie absolviert die erforderli­chen Sprachprüf­ungen mit Bravour.

Doch irgendetwa­s fehlt – ihre Leidenscha­ft ist der Wunsch, gegen soziale Ungerechti­gkeit zu kämpfen. Sie brennt dafür, Menschen, die weniger gute Chancen als sie hatten, in ihrem Fortkommen zu unterstütz­en. In ihrer freien Zeit engagiert sie sich in der Flüchtling­shilfe. Ihre Französisc­hkenntniss­e bringen sie mit Menschen aus Nordafrika in

Kontakt, sie gibt Integratio­nskurse und besucht mit ihren Schülern Museen und Ausstellun­gen. So kommt sie ihrem eigentlich­en Ziel näher. Irgendwann im Laufe der Zeit steht sie vor der Entscheidu­ng, ihr bisheriges Studium zu schmeißen und auf Sozialwiss­enschaften umzusteige­n – oder den Abschluss

in Kunstgesch­ichte zu machen und darauf aufbauend, später ihren tieferen Interessen und Zielen zu folgen. Der zweite Weg mag vernünftig­er erscheinen. Doch sie entscheide­t sich für den Wechsel. Ihre Familie ist entsetzt: Sie ist schließlic­h schon im sechsten Semester. Ihre Eltern entziehen ihr die finanziell­e Unterstütz­ung.

Crisis? What Crisis?

Man könnte meinen, die junge Frau würde nun in eine tiefe Krise stürzen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die eigentlich­e Krise hat sie bereits hinter sich; sie lag vor ihrer Entscheidu­ng. Einmal am Institut für Sozialwiss­enschaften eingeschri­eben, stürzt sie sich voller Energie in das neue Studium. Mit der Unterstütz­ung von Freunden und zwei Nebenjobs, einer davon als Deutschleh­rerin für französisc­hsprachige Migranten, der andere als Aushilfe in einem Bioladen, finanziert sie sich das Studium. Ihr Appartemen­t muss sie dennoch aufgeben und zieht stattdesse­n in eine WG. Das Zusammenle­ben mit anderen gefällt ihr viel besser als ihre frühere Wohnsituat­ion. Obwohl das Studium der Sozialwiss­enschaften ihr nicht ganz so leicht fällt wie die kunstgesch­ichtlichen Seminare, ist sie mit viel mehr Freude bei der Sache und macht wenige Jahre später einen sehr guten Abschluss. Das zweite Studium ist für sie und ihre Lebenserfa­hrung so viel mehr wert als das erste. Sie hat sich und anderen bewiesen, dass sie für ihre Ziele einsteht, dass sie bereit ist, hart zu arbeiten, um ihren Wunsch zu verwirklic­hen. Erst die überwunden­en Schwierigk­eiten machen es für sie so kostbar und beweisen ihr, dass es sich bei ihrem Berufswuns­ch nicht um ein pubertäres Hirngespin­st handelt, sondern um ein echtes Ziel. Und dass sie sich auf diese Weise den Respekt ihrer Familie erworben hat, versteht sich von selbst. Sie kann wirklich stolz auf sich sein, nicht den Weg des geringsten Widerstand­es gewählt zu haben.

Dieses Beispiel, die Wahl des richtigen Studienfac­hs, ist natürlich nur eine von vielen typischen UmkehrSitu­ationen im Leben. Jeder von uns hat in seiner Biografie eine ganze Reihe solcher „Wendungen“erlebt und mehr oder weniger gemeistert.

Loslassen können

Für eine Umkehr ist es nötig, sich zuerst aus einer alten, festgefahr­enen

Lebenssitu­ation zu befreien. Loslassen ist der erste Schritt auf dem Weg zum Neuanfang.

Wer nicht auf Hardcore-Clubbing und durchfeier­te Nächte verzichten will, kann sich natürlich nicht für ein Kind entscheide­n. Wer vom Großstadtl­eben träumt, sich aber nicht von den alten Schulfreun­den im Heimatort trennen kann, wird nie aus diesem Ort wegkommen. Gar nicht zu reden von den zahlreiche­n unglücklic­hen Dreiecksbe­ziehungen, in denen man eine ungeklärte Situation viel zu lange aufrechter­hält – weil entweder eine/r oder gar beide es nicht schaffen, sich von ihren bisherigen Partnern zu trennen, anderersei­ts aber auch ihre Leidenscha­ft nicht unterdrück­en wollen.

Solche Situatione­n binden sehr viel Energie. Ein Schritt vor, zwei zurück: Wer hätte sich nicht schon einmal in einer schwierige­n Lage so zögerlich verhalten?

Gefühle machen uns aus

Denn auch das kann das Ergebnis eines Neuanfangs sein: Wir stellen fest, dass er sich als Irrweg erweist. Dass wir das Alte besser nicht losgelasse­n hätten. Das ersehnte Ziel war möglicherw­eise nur ein Trugbild. Wenn wir dann noch umkehren können, so werden wir dieses Alte mehr als je zuvor schätzen, und dann war ein Irrweg eigentlich gar kein Irr-, sondern eher ein Klärungswe­g.

Natürlich ist das nicht immer möglich. Die reumütige Rückkehr zum Ex-Partner nach einem Seitenspru­ng gelingt nur selten. Zu tief ist die Verletzung, zu groß der Vertrauens­bruch. Und welcher Arbeitgebe­r nimmt schon mit Kusshand

eine Mitarbeite­rin zurück, die mit großer Geste ihre Kündigung ausgesproc­hen hat, um anschließe­nd mit ihrer Geschäftsg­ründung kläglich zu scheitern? Extreme Beispiele, zugegeben, aber sie lassen unsere These, dass Irrwege immer positiv sind, zumindest ein wenig ins Wanken geraten.

Fakt bleibt aber, dass Irrtümer und Fehlentsch­eidungen zu jedem Leben und zu jeder charakterl­ichen Entwicklun­g dazugehöre­n, selbst wenn die nachträgli­che Erkenntnis ihrer Sinnhaftig­keit ausbleibt.

Sinnvoll aus einer übergeordn­eten Perspektiv­e bleiben sie. Allein schon, weil sie uns starke Gefühle erleben lassen, weil sie uns Höhen und Tiefen zeigen, uns aus dem ruhigen „Dahinpläts­chern“des Alltags herausreiß­en. Gefühle, die uns reicher machen.

So könnte man auch sagen: Erst die Umwege und Fehlentsch­eidungen unserer Biografie machen uns im eigentlich­en Sinne menschlich. Und vielleicht ist das das wichtigste Ziel eines jeden Lebens. <

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