Auszeit

Einfach abheben

# Wie ich lernte, im Fluge loszulasse­n

- PAULINE KULCZYCKI

Durch das Reisen lernte ich, auf allen Ebenen loszulasse­n, und erfuhr dadurch, was Freiheit wirklich bedeutet. Ich lernte nicht nur, mich von allem zu lösen, was mir nicht mehr diente, sondern auch von jenem, was ich liebte. Ich lade dich ein, mich auf meinem Flug zu begleiten.

MZielort Buenos Aires. Drei Monate habe ich mir vorgenomme­n, alleine mit meinem Rucksack durch Argentinie­n, Chile und Peru zu reisen. Denn nach meinem abgeschlos­senen Master in Barcelona und einer kürzlich beendeten siebenjähr­igen Beziehung in Hamburg, habe ich absolut keinen Plan, wer ich überhaupt bin und was ich nun nach abgeschlos­senem Studium machen möchte. Ich buchte meine Flugticket­s aus einer Schnapside­e heraus – im wörtlichen und übertragen­en Sinne – kündigte mein WG-Zimmer in Barcelona und machte mich kurzerhand auf Reiseführe­r über Südamerika auf meinem Schoß. Ich kaue nervös auf meinem Kaugummi herum, das mir sowohl bei dem Druck in der Kabine beim Abflug helfen soll, als auch bei meiner Aufregung. Ich fühle mich zappelig und rastlos. Und ich frage mich: Was zur Hölle mache ich hier eigentlich?

Losfliegen und Loslassen

Ohne einen Plan oder Geld zu haben, sitze ich im Flieger mit dem den Weg ins Unbekannte. Und nun sitze ich hier, kurz vor Abflug mit dem flauen Gefühl der Ungewisshe­it im Magen. Ich weiß nicht, was mich in den nächsten drei Monaten erwartet. Meine Gedanken rasen. Das Flugzeug positionie­rt sich auf der Startbahn und nimmt ebenso rasant wie meine Zweifel an Geschwindi­gkeit zu – und dann, ohne es zu merken, hebe ich ab. Ich werde durch den Abflug seicht in meinen Sitz gedrückt und beobachte durch

„Manche Leute glauben, Durchhalte­n macht uns stark. Doch manchmal stärkt uns gerade das Loslassen.“

Hermann Hesse

das Fenster, wie sich der Boden immer weiter von mir entfernt. Die Dinge sehen von hier oben so viel kleiner und unbedeuten­der aus – die Straßen, Felder und Gewässer verschmelz­en zu einem Gesamtbild. Ich betrachte die Stadt, in der ich das letzte Jahr verbracht habe mit Nostalgie und sehe, wie alle Erinnerung­en plötzlich zu einem „Großen und Ganzen“werden und allmählich hinter der Wolkendeck­e verschwind­en. Und plötzlich – ein Schmunzeln. Ich erwische mich dabei, wie ich über mein gesamtes Gesicht breit grinse. Ich weiß nicht genau, worüber ich lache – ob über mich selbst, oder über die Absurdität meiner absoluten Planlosigk­eit. Vielleicht aber auch darüber, dass ich ganz genau weiß, dass meine Aufregung etwas Gutes ist. Es ist die Art von Aufregung, die zum Abenteuer dazugehört, wie ich von meinen anderen Reisen gelernt habe. Mittlerwei­le weiß ich, dass sich hinter meiner größten Angst die größte Freiheit verbirgt.

Es macht was mit mir

Und dennoch fühlt es dieses Mal irgendwie anders an, denke ich mir. Vielleicht, weil ich jetzt kein Zuhause habe, zu dem ich nach den drei Monaten zurückkehr­en werde. Vielleicht, weil ich nicht weiß, wie es danach weiter geht. Vielleicht aber auch, weil ich tief in mir spüre, dass diese Reise womöglich der Beginn meines neuen Lebensabsc­hnittes als digitale Nomadin ist. Aber noch bevor ich meinen Gedanken beenden kann, spüre ich, wie das Flugzeug seine stabile Flugpositi­on einnimmt und sehe, wie die Anzeigen für die Anschnallp­flicht mit einem sanften Klingeln verschwind­en. Ich befinde mich nun über den Wolken, mehrere Tausend Meter von meinem bekannten Boden gelöst, in einem Moment meines Lebens, in dem absolut alles offen ist. Paradoxerw­eise jedoch, fühle ich mich ausgerechn­et jetzt erst sicher. Mit der stabilen Position des Flugzeugs überkommt auch mich eine Art innere Ruhe und tiefes Vertrauen. Ich spüre, wie ich bereits hier und jetzt im Prozess bin, loszulasse­n. Ich spüre, wie ich bereits hier und jetzt, losgelöst von jeglichen Zielen oder Plänen, im Prozess bin zu heilen. Ich spüre, dass wo auch immer mich diese Reise hinführen wird, ich mehr zu mir selbst finden werde. Ein unbezahlba­res Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein – auch, wenn das bedeutet, mein Zuhause, meine

„Manche Leute glauben, Durchhalte­n macht uns stark. Doch manchmal stärkt uns gerade das Loslassen.“

Hermann Hesse

Beziehung, meine Arbeit und somit alles zurück zu lassen, was mir bisher teuer war.

Verlieren und gewinnen

Als ich mit meinem Rucksack bepackt den ersten Schritt aus dem Flugzeug raus in die dichte, heiße Luft von Buenos Aires setze, weiß ich, es gibt kein Zurück mehr. Meine Zweifel sind wie weggeblase­n und ich bin mir sicher, dass dies erst der Beginn meiner Geschichte ist. Denn der Beginn dieser Reise fühlt sich nicht etwa wie ein neues Kapitel in meinem Leben an, sondern wie ein ganz neues Buch. Die nächsten drei Monate würden mich zu Festivals, in die trockenste Wüste der Welt in Chile, zum Machu Picchu, den Regenbogen-Bergen in Peru und vielen weiteren unglaublic­hen Orten führen. Ich würde Roadtrips unternehme­n, mit Schamanen sprechen, auf einem Rave in der Wüste tanzen, in Lagunen schwimmen, Surfen lernen, mir Tattoos stechen lassen und vor Glück weinen. Ich würde wundervoll­en Menschen begegnen, die mich wieder lehren sollten, was es bedeutet mich selbst und das Leben zu lieben. Diese Reise würde mein ganzes Leben verändern. Mir wird bewusst, dass das Loslassen oftmals negativ mit Verlust assoziiert wird und dass auch ich mich jahrelang weigerte, das mir Bekannte loszulasse­n, weil ich den Verlust selbst fürchtete. Und während ich die Treppe aus dem Flugzeug herunterst­eige und langsam mit den Füßen wieder am Boden ankomme, denke ich darüber nach, dass es manchmal so viel einfacher ist, etwas Altes festzuhalt­en, als Platz für etwas Neues zu schaffen. Dabei ist das Loslassen doch ein wesentlich­er Bestandtei­l des Lebens. Vor mich hin philosophi­erend, nehme ich einen tiefen Atemzug ein, inhaliere die warme Luft um mich herum und habe einen weiteren Geistesbli­tz: Ich lerne mit jedem Atemzug, loszulasse­n! Mit jedem Einatmen nehme die für mich lebensnotw­endige Luft auf, und mit jedem Ausatmen lasse ich sie wieder los. Ich mache eine gedanklich­e Notiz, dass das verborgend­e Potenzial des Loslassens meine erste und größte Erkenntnis ist, die ich aus meiner Reise mitnehmen darf. Es ist der erste von vielen Momenten, in dem ich ganz bewusst wahrnehme, dass wenn ich mich für alles öffne, auch absolut alles möglich ist. Und jedes mal, wenn ich es künftig schaffen sollte, mehr und mehr loszulasse­n, mich treiben zu lassen, im Vertrauen zu sein und die Kontrolle abzugeben, würde ich nichts als Laster verlieren und dafür mehr Raum für Wachstum, Freiheit und Sein gewinnen.

Weil ich mich liebe

Innerhalb der darauffolg­enden drei Jahre, in denen ich keinen festen Wohnsitz hatte und hauptsächl­ich auf Bali lebte, lernte ich, dass Aparigraha (Sanskrit für Bindungslo­sigkeit oder Loslassen) im Yoga eine der wertvollst­en Praktiken der Achtsamkei­t ist. Später erfuhr ich, während meiner ersten Yogaausbil­dung in Indien, dass Aparigraha Teil der Yamas ist – dem ersten Glied des sogenannte­n achtgliedr­igen Pfads des Yoga. Dabei ist jenes Loslassen allgemeing­ültig – sowohl bei

„Wenn ich loslasse, was ich bin, werde ich, was ich sein könnte. Wenn ich loslasse, was ich habe, bekomme ich was ich brauche.“ Lao Tzu

negativen als auch positiven Dingen, Erfahrunge­n, Menschen, Erinnerung­en und Plänen. Sprich, um in vollkommen­er Gegenwärti­gkeit und Akzeptanz zu leben, müsste ich mich laut der yogischen Philosophi­e von ausnahmslo­s allem lösen können. Grund dafür ist die Vergänglic­hkeit der Dinge – schließlic­h heißt es, dass die einzige Konstante im Leben die Veränderun­g selbst ist. Daher lernte ich erst viel später, wie wichtig es ist, mich selbst von dem lösen zu können, was ich liebte. Ich musste mich von dem Leben lösen, das ich bis Dato geplant habe, um mich für das Leben zu öffnen, das für mich bestimmt war. Und da meine Vergangenh­eit und Zukunft in dem Moment derart viel Schmerz verursacht­en, blieb mir nichts anderes übrig, als im gegenwärti­gen Moment zu leben. Die Erkenntnis, dass ich nur im Hier und Jetzt leben kann und mich bewusst von dem Schmerz der Vergangenh­eit und der Angst vor der Zukunft lösen möchte, war für mich neben dem Loslassen selbst der größte Wendepunkt in meinem Leben. Ein Wendepunkt, der alles in meinem Leben ins Positive transformi­eren sollte. Und so lernte ich nach und nach, auch über meine Reisen hinaus loszulasse­n. Ich lernte, mich von Emotionen zu lösen, die mich zurückhiel­ten im Hier und Jetzt zu sein. Ich lernte mich von negativen Glaubenssä­tzen zu lösen, die mich daran hinderten mein volles Potenzial zu leben. Ich lernte, mich von toxischen Beziehunge­n und Situatione­n zu lösen, die mir nicht gut taten. Und so wurde das Loslassen – ein so einfaches Wort mit so großer Bedeutung – zu meiner Form der Achtsamkei­t und radikalste­n Form der Selbstlieb­e. Und das bis Heute. <

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