ICH HABE ES GETAN
Wenn Festhalten keinen Sinn mehr macht
Es war an einem schönen Tag im Juni 1986. Ich war damals 17 Jahre alt und stand irgendwo in West-Berlin. Neben mir ein Koffer und mein bester Freund, mit dem ich gemeinsam aus unserer Heimat, dem Iran, geflüchtet bin. Das einzige deutsche Wort, das ich damals kannte, war: Asyl!
In meinem Körper spürte ich in diesem Moment ein unbekanntes Kribbeln. Es war ein gemischtes Gefühl aus Angst, Ohnmacht, Neugierde und Freude. Ich merkte, dass ich den Jugendlichen in mir nicht mehr spürte. Innerhalb von wenigen Minuten war ich zu einem erwachsenen Mann geworden. Es waren jetzt keine Eltern und Verwandtschaft da, die mich begleiten oder unterstützen würden. Jetzt musste ich meine Entscheidungen ganz allein treffen und mit ihren Konsequenzen leben. Ich schaute einmal innerlich zurück: Hinter mir ein Land und eine Kultur mit ihren Traditionen, die mir vertraut waren. Der Blick nach vorne, ins Unbekannte, machte mir jedoch Angst. Das neue Land, die neue Sprache und Kultur. Was erwartet mich jetzt? Alles schien vor mir wie ein unbesiegbarer Berg. Es gab keine andere Wahl, als den Blick nach vorne zu richten. Ich schaute innerlich noch einmal zurück und ließ mein Leben vor meinem geistigen Auge bis zu diesem Zeitpunkt im Schnelllauf Revue passieren. Nun war der Zeitpunkt gekommen, um alles jetzt hinter sich zu lassen und den Schritt in ein neues unbekanntes Leben zu wagen. Dieser Schritt wird alles verändern. Das Loslassen von meinem Heimatland, Verwandten und Freunden hat sehr weh getan und eine tiefe Wunde hinterlassen. Anfangs konnte und wollte ich mich mit meinem Leben in einer neuen Welt nicht identifizieren. Ich habe es als Feind angesehen und wie ein Fremdkörper abgestoßen. Die Angst, zum Leben in Deutschland ja zu sagen, war massiv. Ich hatte das Gefühl, ich würde dann mein Heimatland mit allem, was dazugehört, verraten. Dieser Denkfehler begleitete mich viele Jahre und hat mich lange daran gehindert, in Deutschland anzukommen. In mir entfachte ein innerer Krieg zwischen zwei Welten, der sich letztendlich auch im Außen zeigte. Mein Leben lief in dieser Zeit alles andere als geschmeidig. Die erste zehn Jahren in Deutschland waren die schwierigsten und die intensivste Zeit meines Lebens. Ich hatte oft das Gefühl,
"Wir müssen bereit sein, uns von dem Leben zu lösen, das wir geplant haben, damit wir in das Leben finden, das auf uns wartet.“Oscar Wilde
zerrissen und verloren zu sein, und so fiel ich einen Abgrund hinunter, ohne aufzustoßen. Manchmal müssen wir erst ins Chaos stürzen, um dann aufzuwachen und unser Leben zu ordnen. Erst mit Unterstützung einer Therapeutin konnte ich erkennen, dass ein Teil von mir in meiner Heimat zurückgeblieben ist. Ich erkannte, dass mein erster Schritt damals in Berlin sich zu einem Spagat zwischen zwei unterschiedlichen Welten entwickelt hatte. Mit der Zeit habe ich mich immer mehr für meine persönliche Entwicklung interessiert. Ich lernte: Dass, was im Außen geschieht, hat etwas mit mir zu tun. Ich fing an, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Ich habe erkannt, dass es wichtig ist, sich mit dem Tempo der Seele im Leben zu bewegen. Loslassen funktioniert nicht mit Gewalt und Unterdrückung. Wir müssen auf dieser Reise alle Anteile in uns mitnehmen. Und wenn ein Teil in uns nicht gleich loslassen will, dann müssen wir so lange warten. Und manchmal müssen wir sogar akzeptieren, dass ein Teil selbst in uns nie loslassen wird. In diesem Fall hilft nur unsere radikale Akzeptanz, dass es so ist, wie es ist. Wenn wir zum „Nicht-loslassen-können“von ganzem Herzen JA sagen, dann hört der Krieg in uns auf. Bald erfuhr ich, dass meine Wut mit meiner neuen Welt nichts zu
tun hat. Sie gehört ganz allein zu mir. Das ist der im Stich gelassene kleine Junge in mir, der in der Heimat zurückgeblieben ist und zu Recht wütend ist. Erst, als ich bedingungslos akzeptiert habe, dass dieser Teil selbst für immer im Iran bleiben darf, kehrte langsam Frieden und Optimismus in mir ein. Ein gesunder Optimismus bedeutet, dass wir die unumgänglichen Höhen und Tiefen des Lebens zu akzeptieren lernen. Das Leiden hört erst dann auf, wenn wir unsere Realität so annehmen, wie sie ist. Das, was wir loslassen wollen, hat uns einmal gedient und war womöglich von existenzieller Bedeutung. Deshalb sollten wir immer sehr achtsam mit dem Thema Loslassen umgehen. Loslassen ist kein Kampf zwischen Gut und Böse. Es ist ein Akt der Liebe und Dankbarkeit. Loslassen ist Hingabe
"Manche Leute glauben, Durchhalten macht uns stark. Doch manchmal stärkt uns gerade das Loslassen.“Hermann Hesse
an das Leben. Sie hilft uns, unsere Probleme loszulassen und darauf zu vertrauen, dass alles gut wird und eine höhere Instanz sich darum kümmert. Wenn heute ein Thema an meine Tür klopft und das Loslassen von etwas signalisiert, greife ich nicht sofort zu irgendwelchen vorgefertigten Methoden und Konzepten. Ich gehe einfach lange spazieren oder über mehrere Tage wandern. Ich spüre in mich hinein: Wer oder was in mir hält fest? Was braucht dieser Anteil in mir, um loszulassen? Und was, wenn ich oder der Anteil in mir nicht loslassen will oder kann? Dann vertraue ich darauf, dass das Leben mich an die Hand nimmt und diese Fragen beantwortet. Schon „Virginia Woolf“bezeichnete das einen Spaziergang als „Schleichpfad zur Selbstfindung“. Wenn wir uns bewusst machen, dass das Loslassen in einer bestimmten Situation angebracht ist, dann sind wir die Hälfte des Weges gegangen. Alles andere kommt als Ergebnis unseres bewussten Umgangs mit der Situation auf uns zu. So machen wir exakt die Erfahrungen, die wir in diesem Prozess benötigen, um liebevoll und achtsam loszulassen. Oft ist das, was losgelassen werden will, nicht das, was uns festhält. Es ist immer ein Gedanke oder ein Gefühl in uns, der dieses unsichtbare Band aufrechterhält, rational schwer zu erfassen. Nur das Licht unseres Bewusstseins kann diese Band sichtbar machen. Heute frage ich mich manchmal, ob in meinem Fall der Spagat zwischen den Welten irgendwann aufhört. Die Antwort ist ganz klar: Nein! Aber ich habe gelernt, mit dieser Situation zu leben. Dieser Spagat ist ein Teil meiner Geschichte und gehört wie ein Körperteil zu mir. Seit ich bewusst damit umgehe, tut er nicht mehr weh und macht mich nicht wütend. Was einmal so schmerzhaft war und mein Leben fast ruiniert hat, ist heute mein Freund, Wegweiser und inspiriert mich immer wieder aufs Neue. Zwei Kulturen in sich zu vereinen, ist ein Geschenk. Es ist ein wunderbarer Schatz, den ich nicht mehr hergeben möchte. Auch heute gestatte ich mir eine Reise und kehre innerlich zum kleinen Jungen in meiner Heimat zurück. Er ist nicht mehr so wütend, da er weiß, dass er nicht mehr allein ist. Wir haben uns mit der Situation arrangiert und lernen voneinander. Loslassen ist kein Allheilmittel. Manchmal ist es durchaus sinnvoll, etwas festzuhalten und in sein Leben zu integrieren, statt es loszulassen. Iran ist und bleibt meine Heimat, daran ist nichts zu rütteln. Aber Deutschland ist mein Zuhause, dem ich mich genau so verbunden fühle. Heute sind sie ein starkes Team und eine Inspirationsquelle, aus denen ich täglich Kraft schöpfe. <