Ganze Fabriken simulieren Dr. Christian Daniel, ISG Industrielle Steuerungstechnik, im Gespräch
Praxiserfahrungen im Maschinen- und Anlagenbau bestätigen, dass die digitalen Testsimulationen Software-in-the-Loop (SILS) und Hardware-in-the-Loop (HILS) Entwicklungsprozesse und Inbetriebnahmen optimieren. Nun geht es im nächsten Schritt darum, komplett
AUTOCAD & Inventor Magazin: (ACM): Herr Dr. Daniel, warum stoßen klassische Simulationswerkzeuge, die auf die virtuelle Inbetriebnahme spezialisiert sind, bei der Hardware-in-the-Loop Simulation großer Produktionsanlagen respektive Fabriken schnell an ihre Grenzen?
Dr. Christian Daniel: Um den Fertigungsprozess einer Anlage in seiner Gesamtheit abzubilden, bedarf es einer viel höheren Modellkomplexität. Schließlich müssen sich alle Interaktionen und Wechselwirkungen zwischen den mechatronischen Prozessen, der Steuerung und dem Bedienverhalten darin wiederfinden. Dafür muss man hochentwickelte Simulationsmodelle aus den unterschiedlichen Disziplinen – Mechanik, Elektrik und Softwaretechnik – zu einem Gesamtmodell zusammenführen. Ferner benötigt man eine größere Modelltiefe der digitalen Zwillinge als bisher, um sämtliche physikalischen Effekte abzubilden. Das hat zur Folge, dass die bei HILS nutzbare Rechenleistung eines Simulationswerkzeugs oft nicht mehr genügt.
ACM: Die Lösung ist eine Plattform zur Echtzeit-Co-Simulation?
Dr. Christian Daniel: Genau. Mit ihr werden zum einen spezialisierte Simulationen zu einer sogenannten gekoppelten oder Multidomain-Simulation kombiniert. Zum anderen ermöglicht sie durch eine echtzeitoptimierte Multicore-Technologie die Ausführung der Simulationen mit deterministischen Ergebnissen. Stichworte sind hier Partitionieren, Parallelisieren und Synchronisieren. Die Echtzeit-Berechnung komplexer Simulationsmodelle etwa wird dadurch möglich, dass man das bausteinbasierte Systemmodell in verschiedene Teilmodelle zerlegt, also partitioniert – sogar über Komponentengrenzen hinweg. Das kann vollständig automatisiert ablaufen oder manuell durch den Anwender erfolgen. Wir lassen dann mehrere Rechenkerne parallel arbeiten, was die Rechenzeiten der Gesamtmodellberechnung signifikant verkürzt. So lassen sich selbst komplexeste Anlagen darstellen, einschließlich der Beschreibung des jeweiligen Prozesses und der Verhaltenssimulierung der Maschine, etwa hinsichtlich Logik, Kinematik und Dynamik sowie der industriellen Steuerungskomponenten mit ihrer Sensorik und Aktorik. In der Modellierungsumgebung sieht der Anwender, wie sich das Gesamtmodell auf die einzelnen Rechenkerne verteilt und kann bei Bedarf Anpassungen und Umkonfigurationen vornehmen.
ACM: Welche weiteren Vorteile ergeben sich durch diese Plattform?
Dr. Christian Daniel: Der Plattform sollte ein offenes Bibliothekskonzept zur Integration von Modellen Dritter zugrunde liegen. Dann erlaubt sie es nicht nur, verschiedene eigene SILS- oder HILS-Modelle miteinander zu kombinieren, sondern auch fremde Simulationsmodelle einzubeziehen. Dazu sind standardisierte Integrationsschnittstellen notwendig, über die man spezifische Bibliotheken von Simulations- und Komponentenexperten in die eigenen Simulationslösungen nahtlos integrieren kann. Der Vorteil für den Anlagenbauer liegt auf der Hand: Er kann die Gesamtheit der Hard- und Softwarekomponenten seiner Anlage durchgängig und ohne Systembruch simulieren und so sogar die Inbetriebnahme ganzer Fabri
ken virtuell durchspielen. Nicht zu vergessen: Eine modular aufgebaute Bibliothek wächst kontinuierlich mit. Der Nutzer kann sich fertiger Teilmodelle zur direkten Integration in verschiedenste Einsatzszenarien bedienen. Nicht nur, dass sich damit der Modellierungsaufwand verringert, da vorgefertigte Modelle die Wirklichkeit eins zu eins abbilden, ist zudem die Aussagekraft der virtuellen Inbetriebnahme höher.
ACM:
Dr. Christian Daniel: Heute gibt es kaum noch Anlagen beziehungsweise Maschinen von der Stange. Die meisten Kunden wünschen sich eine an ihre Bedürfnisse angepasste Einzelanfertigung. Die Crux dabei ist – man weiß oft selbst nicht so genau, was wirklich die beste Lösung ist. Der Anlagenbauer kann seinem Kunden daher bereits vor der eigentlichen Angebotsphase vorschlagen, gemeinsam verschiedene Konfigurationen auf der Simulationsplattform durchzuspielen, und so die optimale Lösung finden. Der Aufwand ist dabei umso geringer, je mehr digitale Komponenten bereits in den Bibliotheken vorhanden sind. Weiterhin könnte ein Anlagenbetreiber das Simulationsmodell seiner Produktionsanlage kostenpflichtig nutzen, um daran seine Anlagenfahrer zu schulen. Der Nutzen ist evident: Am Rechner lassen sich kritische Situationen simulieren, die man in der Realität selbst zu Übungszwecken nicht verursachen kann. Sei es aus Sicherheitsgründen oder weil die Fertigung nicht stoppen darf. Mit dem Training in der virtuellen Welt ist das Bedienpersonal gut auf einen möglichen Ernstfall vorbereitet und weiß, was es zu tun hat. Zudem wird die Anlage für keine Schulung blockiert – die Produktion kann sofort nach der realen Inbetriebnahme anlaufen. Oder nehmen Sie den Fall, dass eine vorhandene Anlage umgerüstet werden soll. Analog zum Engineering bei einer Neuentwicklung lässt sich der Aufwand dafür deutlich reduzieren, wenn der Betreiber das Retrofitting zunächst virtuell auf der Simulationsplattform vollzieht. Und dafür benötigt er die digitalen Zwillinge und Simulationsmodelle des Anlagenbauers.
ACM: Ist das Simulationsmodell einer Anlage auch für Dritte von Nutzen?
Dr. Christian Daniel : Ja, etwa für einen Wartungsdienstleister. Mit einem digitalen Zwilling der Anlage und dem zusätzlichen Einsatz eines Predictive Maintenance Tools könnte das Wartungsunternehmen dem Anlagenbetreiber als zusätzlichen Service eine vorausschauende Wartung anbieten. Die virtuelle Anlage dient dann als „Golden Reference“. Weichen die Parameter der realen Anlage davon ab, dann ist gegebenenfalls ein Eingreifen notwendig. Durch den Vergleich mit historischen Daten, zum Beispiel durch eine integrierte KI-Lösung, kann ermittelt werden, wie sich die Daten höchstwahrscheinlich weiterentwickeln. Damit lässt sich gegensteuern, bevor der Schadensfall eintritt. Ein ebenfalls auf Predictive Maintenance basierendes Geschäftsmodell besteht darin, dass sich der Dienstleister nicht die Wartungsmaßnahmen, sondern eine garantierte Anlagenverfügbarkeit vergüten lässt. An ihm liegt es dann, die Maschine entsprechend in Stand zu halten.
ACM: Eine Simulationsplattform hilft also Kosten zu sparen und Umsatz zu genieren?
Dr. Christian Daniel Das trifft den Punkt. Für den Maschinen- und Anlagenbau ist eine offene und multicore-fähige Simulationsplattform wie ISG-virtuos ein sehr performantes Werkzeug, um mit digitalen Zwillingen kostengünstig ganze Anlagen einschließlich des Steuerungssystems zu konfigurieren. Konstrukteure können so einerseits umfangreiche Testläufe mit unterschiedlichen virtuellen Steuerungen durchführen, um mit relativ geringem Aufwand und in kurzer Zeit das für die jeweilige Anlage optimale Steuerungssystem zu finden. Andererseits lässt sich nun eine Gesamtanlage durchgängig simulieren und damit virtuell in Betrieb nehmen. Die Plattform sollte erweiterbare Simulationsbibliotheken enthalten, die es zudem gestatten, über entsprechende Schnittstellen hochspezialisierte, technologiespezifische Simulationslösungen Dritter zu integrieren.
Von besonderem Interesse, gerade in heutiger Zeit, ist es, dass eine gemeinsame, mitwachsende Online-Plattform sehr krisensicher ist. Stichworte dafür sind ortsunabhängiger Zugriff, Redundanz und Wissenstransfer. Den Anlagenbauern bieten sich zudem neue Erlösquellen – sowohl durch die Bereitstellung der digitalen Zwillinge und Simulationsmodelle als auch durch Dienstleistungen wie vorausschauender Wartung.
ACM: Herr Dr. Daniel, vielen Dank für das Gespräch. ( anm) ■