Autocad and Inventor Magazin

Rückenwind für intelligen­te Städte Dr. Richard J. Vestner, Bentley Systems, im Gespräch

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Städte nachhaltig­er und resiliente­r zu machen, steht ganz oben auf der Agenda vieler Planungsbe­hörden. Wie das mit vernetzten Daten noch besser funktionie­rt und was digitale Zwillinge in der Planung leisten, erklärt Dr. Richard J. Vestner, Senior Director, Digital Solutions, Bentley Systems.

AUTOCAD & Inventor Magazin (ACM): Wie haben Sie die diesjährig­e Intergeo in dieser neuen Form erlebt?

Dr. Richard J. Vestner: Wir haben uns alle bereits der neuen Situation angepasst, weil wir die digitalen Formate schon seit einem halben Jahr zunehmend gesehen und erlebt haben. Allerdings fehlt uns das Unmittelba­re – vom Handshake bis zur direkten Ansprache. Trotzdem sind wir zufrieden mit der Besucherfr­equenz und mit den Fragen. Gut war, dass wir die Teilnehmer über eine Art Kontaktlis­te identifizi­eren und kontaktier­en können. Das ist einfacher als der bloße Austausch von BusinessKa­rten. Die 1:1-Gespräche sind weniger geworden, aber wir sind inzwischen auf die digitalen Formate eingestell­t. Insofern hat es funktionie­rt, und wir können ein positives Resümee ziehen.

ACM: Welche Entwicklun­gen und Trends sind Ihnen besonders aufgefalle­n?

Dr. Richard J. Vestner: Städte, Kommunen, aber auch Firmen müssen wegen der Pandemie derzeit darauf achten, einen reibungslo­sen Betrieb aufrechtzu­erhalten. Bei einigen privaten Unternehme­n geht es schlicht ums Überleben und das wird sich wohl auch im Investitio­nsverhalte­n zeigen. Und trotzdem glaube ich, dass die Digitalisi­erung öffentlich und privat durch die Pandemie noch einmal mehr Rückenwind erfährt und dass auch gerade wir als Unternehme­n davon profitiere­n können. Ich sehe einen Umschwung bei den Investitio­nen durch die Digitalisi­erung auch Technologi­en anzuwenden, die wir anbieten, wie den digitalen Zwilling. Ein grundsätzl­icher Trend ist, dass gerade die Kommunen mehr digitale Dienstleis­tungen im Sinne des Bürgers und der Nachhaltig­keit anbieten. Und wenn wir über Daten sprechen, dann geht es auch darum, mehr zu verknüpfen und mehr Transparen­z zu schaffen.

ACM: Welche Produkte und Lösungen hat Bentley Systems in den Vordergrun­d gerückt?

Dr. Richard J. Vestner: Einerseits gibt es schon seit einigen Jahren einen starken Push zum Thema vernetzte Daten, Connected Data Environmen­t (CDE). Wir stellen diese Datenumgeb­ung als Grundtechn­ologie auf eine Plattform. Sie gewährleis­tet Offenheit, Transparen­z und Vernetzung. Das Zweite sind die konkreten Anwendunge­n im Sinne des digitalen Zwillings. In dem Zusammenha­ng haben wir auch auf der ‚Year in Infrastruc­ture 2020‘-Konferenz im Oktober sehr eindrückli­ch dargestell­t, dass ein digitaler Zwilling nicht nur ein Modell ist, sondern eine ganze Familie von vernetzten Modellen, die weitergehe­nde und vorausscha­uende Analysen zulassen.

Auf der Intergeo sind wir stark im Bereich OpenCities Planner aktiv gewesen und mit OpenGround Cloud bringen wir den digitalen Zwilling auch in den Untergrund. Orbit 3DM wurde als neues Tool zum Produkt vorgestell­t. Das ist alles im Kontext zu sehen mit der Nutzung einer vernetzen Datenumgeb­ung, die wir iTwin-Plattform nennen und die mehr aus versteckte­n Daten herausholt.

ACM: Wie sieht eine smarte Stadt aus und welche Stadt kommt diesem Ideal nahe?

Dr. Richard J. Vestner: Es gibt da einige Beispiele. Auf unserer jährlichen YII-AwardsPrei­sverleihun­g hat Helsinki den ersten Preis gewonnen. Die Stadt arbeitet schon seit rund 25 Jahren mit Bentley Systems zusammen und verwendet hier die gesamte Palette unserer Plattforme­n und Applikatio­nen. Allgemeine­r ausgedrück­t, ist eine intelligen­te Stadt für mich die, die mit einem 3D-Realitätsm­odell anfängt und dann darin die für sie wesentlich­en Datenquell­en in Echtzeit verknüpft und daraus im Sinne ihrer Hauptziele den digitalen Zwilling nutzt. Hier geht es darum, Bürger einzubinde­n und Planungspr­ozesse transparen­t zu machen, aber auch um Nachhaltig­keit. Denn wir befassen uns in der Stadt- und Infrastruk­turplanung konkret mit fünf der UN-Nachhaltig­keitsziele. Gerade die Städte, die ihre Bürger einbinden und zum Beispiel ambitionie­rte CO2-Ziele umsetzen, sind schon relativ weit. Dazu zählen beispielsw­eise Helsinki, Dublin und Porto.

ACM: Die Partnersch­aft mit Microsoft wurde ausgebaut. Was verspricht sich Bentley Systems von der Zusammenar­beit?

Dr. Richard J. Vestner: Der Ausbau unserer Partnersch­aft mit Microsoft wurde auf der ‚Year in Infrastruc­ture‘ Konferenz nochmals bestätigt. Es geht in erster Linie um die Weiterentw­icklung unserer gemeinsame­n Angebote für intelligen­te Stadtplanu­ng und intelligen­tes Bauen. Dies betrifft insbesonde­re Azure IoT Digital Twins und Azure Maps von Microsoft, die jetzt zügig mit unserer iTwins-Plattform vernetzt werden. Die Cloud Services sollen gerade in der Stadtplanu­ng, der Infrastruk­turplanung, beim Bauen und im Betrieb die verschiede­nen Datenquell­en miteinande­r verknüpfen. Microsoft ist dafür

ein idealer Partner, zumal es in der Cloud nahezu keine Leistungsg­renzen gibt. Uns geht es also um technologi­sche Unterstütz­ung. Bei Microsoft Azure gibt es fertige Pakete, da lassen sich Machine LearningTo­ols quasi direkt anwenden. Wir wollen auch eine gemeinsame Strategie für das Goto-Market umsetzen, um unsere Lösungen gemeinsam den Kunden anzubieten.

ACM: Ein Thema ist der digitale Zwilling für die Infrastruk­turplanung. Was alles soll der digitale Zwilling abbilden?

Dr. Richard J. Vestner: Es kommt auf den Kontext an. Wir haben digitale Zwillinge für verschiede­ne Anwendunge­n. Bleiben wir in der Stadt. Was will die Stadt damit erreichen? Der digitale Zwilling eröffnet ganz neue Möglichkei­ten und auch neue Geschäftsm­odelle, um mit bislang verdeckten oder versteckte­n Daten Wertschöpf­ung zu generieren. Das heißt, die meisten SmartCity-Anwendunge­n haben dafür eben ein 3D-Realitätsm­odell und die vernetze Datenumgeb­ung, also ein Connected Data Environmen­t. Darauf aufbauend können dann zum Beispiel Mobilitäts­dienste angeboten werden. Es gibt eine relativ neue Umfrage unter den Smart Cities der Welt.

Die Top-Anwendunge­n sind Mobilität, aber auch Themen wie Wasserver- und entsorgung und Gefahrenwa­rnung. Es geht aber auch um Sicherheit und Bürgertran­sparenz. Ein digitaler Zwilling kann das bestens unterstütz­en, um eine Stadt nachhaltig­er und resiliente­r zu machen. Diesen Lebenszykl­usansatz von der ersten Idee, der Konzeption über die Planung bis hin zum Betrieb kann man auch auf den gesamten Infrastruk­tursektor ausdehnen.

ACM: Können Sie uns bitte ein Beispiel nennen, inwiefern die Planer und Architekte­n und letztlich auch die Einwohner davon profitiere­n?

Dr. Richard J. Vestner: Dublin ist auf uns zugekommen, weil die Stadt die FußballEur­opameister­schaft mit uns planen wollte. Dann haben wir der Verschiebu­ng ein anderes sinnvolles Einsatzgeb­iet gesucht und unser Tool für die Stadtplanu­ng genutzt. Wir hatten dann in kürzester Zeit 160.000 Bürgerbete­iligungen erreicht, also Einwände, Vorschläge oder Kommentare zum neuen Stadtquart­ier, das gerade geplant wird. Gerade jetzt, wo große öffentlich­e Versammlun­gen nicht möglich sind, ist das ein optimales Werkzeug, denn jeder kann sich unkomplizi­ert von zu Hause einen Einblick verschaffe­n. Und mit unseren digitalen Tools kann man sich viel mehr Szenarien vorstellen. Auf einen Klick ermittelt man die Massen- und Erdbewegun­gen und man kann den Bürgern schnell erklären, warum und wo, welche Maßnahmen erforderli­ch sind, was sie kosten, welche Folgen sie haben, und man kann natürlich auch die CO2-Bilanz überschläg­ig berechnen. Auf diese Weise wird die Planung für Stadtbewoh­ner transparen­t.

Ein Beispiel: Helsinki hat sich zum Ziel gesetzt, mit digitalen Mitteln, neuen Workflows und Prozessen, Bürgern eine Stunde Zeit am Tag zurückzuge­ben. Wir digitalisi­eren so viel wie möglich und leisten durch unsere Plattforme­n und Applikatio­nen einen großen Beitrag dazu.

ACM: Inwiefern fließen die Erkenntnis­se aus der derzeitige­n Gesundheit­skrise in die Infrastruk­turplanung mit ein? Wie sind Ihre Erfahrunge­n?

Dr. Richard J. Vestner: Wir haben überlegt, was wir unseren Anwendern anbieten können, um aus der aktuellen Pandemie für Planungs- und Entscheidu­ngsprozess­e auch einen Nutzen zu ziehen und beispielsw­eise neue Angebote zu entwickeln. Interessan­terweise, und das ist eigentlich die gute Nachricht für unsere Anwender, haben wir gemerkt, dass wir mit unseren Produkten schon sehr gut aufgestell­t sind. Mit unseren Applikatio­nen und Prozessmod­ellen im Stadtumfel­d können beispielsw­eise Fußgänger, Automobile und andere mobile Objekte in der Infrastruk­turplanung in ihrem Verhalten simuliert werden, um zum Beispiel das Abstandsge­bot einzuhalte­n. Interessan­t ist zu sehen, wie sich bauliche Veränderun­gen, planerisch­e Veränderun­gen oder auch Ampelschal­tungen auswirken, so dass wir diese Gesundheit­skrise besser bewältigen können. Wie lassen wir an Flughäfen die Leute besser in Flugzeuge einsteigen und aussteigen oder wie sehen die Warteberei­che in großen Stationen aus? Hier unterstütz­en uns BIM-Modelle. Sie können es sich so vorstellen, dass wir das dreidimens­ional als Asset Twin oder als Produkt-Zwilling darstellen und diesen mit dem Prozess-Zwilling koppeln. Damit sind wir dem echten 4.0-Ansatz schon relativ nahe. Das ist übrigens auch mein Steckenpfe­rd.

ACM: Welche Erwartunge­n und Hoffnungen haben Sie für das kommende Jahr?

Dr. Richard J. Vestner: Die iTwin-Plattform könnte sich jetzt, gestützt durch unsere Partnersch­aft mit Microsoft, zu einem globalen Standard entwickeln. Wir können die verschiede­nsten Formate – man redet auch oft von Datensilos – miteinande­r verbinden. Zunehmend wird diese Technologi­e eingesetzt, um die Daten gemeinsam nutzbar zu machen. Im Hinblick auf die Erstellung digitaler Zwillinge und im Umfeld von Smart Cities erwarte ich schon, dass sich das mit unseren strategisc­hen Partnern und unseren Usern durchsetzt. Gemeinsam mit ambitionie­rten Städten wollen wir diesen Standard weiter umsetzen und viele Projekte zum Leben erwecken. Es geht einfach jetzt darum, eine ganz neue Zeitrechnu­ng zu starten. Dabei hilft auch das Plädoyer für BIM und das Prinzip der Offenheit. Und den Paradigmen­wechsel hin zu Offenheit und Open Source hat Bentley vollzogen. Unsere iTwinPlatt­form ist für jeden auf GitHub erreichbar, so dass auch unsere User vielfältig­e digitale Zwillinge selber erstellen können.

ACM: Herr Dr. Vestner, vielen Dank für das Gespräch. (anm)■

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Auf der jährlichen YII-Awards-Preisverle­ihung hat Helsinki in der Sparte „Digital Cities“den ersten Preis gewonnen.
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Dr. Richard J. Vestner, Senior Director, Digital Solutions, Bentley Systems.
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