Der letzte Meter zwischen Mensch und Maschine
Maurizio Galardo, Aveva, über XR und Gamification in der Industrie
Ursprünglich vor allem im Gaming zu Hause, etablieren sich Virtual- und Extended-Reality-Lösungen zunehmend auch in den Unternehmen. Heute kommen KI, AR und VR in vielen Disziplinen zum Einsatz, so etwa beim virtuellen Training. Maurizio Galardo, Chief Technologist für XR bei Aveva, erklärt unter anderem, wie Gamification dabei hilft, komplexe Sachverhalte auf spielerische Weise anschaulich zu machen.
AUTOCAD & Inventor Magazin (ACM): Was fasziniert Sie an den immersiven Technologien wie Extended Reality (XR)? Maurizio Galardo: Ich finde es spannend, Zeuge der neu aufkommenden Ära der Mensch-Maschine-Interaktion zu sein. Denn genau das wird XR für zukünftige Generationen sein.
ACM: Was verstehen Sie unter Extended Reality im Vergleich zu Augmented Reality (AR) und Virtual Reality ( VR)? Maurizio Galardo: Extended Reality ist ein Sammelbegriff, der sich auf alle real-virtuell kombinierten Umgebungen und Mensch-Maschine-Interaktionen bezieht, die durch Computertechnologie und tragbare Geräte erzeugt werden. XR umfasst Technologien wie Virtual, Augmented und Mixed Reality und ist eine Möglichkeit, sich auf neue Technologien und Geräte zu konzentrieren, die unsere Sicht auf die Welt und unsere Interaktion mit ihr erweitern können.
ACM: Wo sehen Sie das größte Potenzial für entsprechende Lösungen in Fertigungsunternehmen?
Maurizio Galardo: XR wird das virtuelle Training in Zukunft stark verändern. Während der Pandemie haben viele Unternehmen weltweit ihre Pläne zur digitalen Migration beschleunigt. Infolgedessen setzen immer mehr Unternehmen auf immersives virtuelles Training und erkennen die Vorteile, wie zum Beispiel eine effektivere Datenerfassung, erhöhte Sicherheit und verbesserte Produktivität.
Das Konzept der „Gamification” – die Prinzipien und Theorien rund um das Computerspielen – birgt großes Potenzial für die Weiterentwicklung des virtuellen Trainings. Diese Techniken werden zunehmend auch bei realen Anwendungsfällen in der Industrie angewendet. Sie helfen, die Übertragung von komplexem Wissen für Maschinen- und Anlagenbediener:innen oder für das allgemeine Personal zu vereinfachen. Die Anwendung von künstlicher Intelligenz (KI) in Verbindung mit neuen Technologien wie AR, VR und XR wird die Gamification auf die nächste Stufe heben. Wenn KI in gamifizierte Trainingsprozesse einfließt, können Unternehmen die Prinzipien der Gamification in Echtzeit nutzen und vom Training zum Learning by Doing übergehen. Dazu wird ein Immersive Training System (ITS) verwendet. Die KI-gesteuerten ITS-Simulatoren reduzieren die Einarbeitungszeit, verbessern die Kosteneffizienz und optimieren den Return on Investment (ROI). Unsere Daten zeigen, dass je nach Unternehmen das ITS die Kosten um 30 bis 40 Prozent senken, die Wiederherstellungszeiten nach Stillständen um 15 bis 20 Prozent verkürzen und die Wartungsbudgets um 1 bis 3 Prozent reduzieren kann. In bestimmten Branchen lassen sich einige Vorteile einfach nicht in Zahlen fassen – etwa die Vermeidung menschlicher Fehler beim Betrieb von Kernkraftwerken.
ACM: Welche Aufgaben lassen sich mit XR besser meistern als ohne? Maurizio Galardo: Durch den Einsatz von XR können Unternehmen bereits während des Baus einer Anlage Schulungsprogramme für Mitarbeiter durchführen. Auf diese Weise ist die Anlage sofort nach Fertigstellung in Betrieb und spart wertvolle und kostspielige Stillstandszeiten. In einer nachgebildeten virtuellen Umgebung lernen Teams zusammenzuarbeiten
und mit dem Personal des Kontrollraums zu interagieren.
ACM: Können Sie uns, bitte, dafür ein Beispiel nennen?
Maurizio Galardo: Das Immersive Training System (ITS) verbindet einen originalgetreuen Prozesssimulator mit einer virtuell begehbaren Umgebung einer Anlage (sogenannter digitaler Zwilling). Darüber kann jede Aktion in einer virtuellen Umgebung so eingestellt werden, dass sie die thermodynamisch korrekte Reaktion in der Anlage in Echtzeit auslöst. So ist es möglich, alle Daten einer Anlage – oder sogar mehrerer Anlagen – in einer digitalen Darstellung auf einem Tablet zusammenzufassen und dann einen bestimmten Prozess in einer einzelnen Anlage zu aktivieren.
Wenn Mitarbeiter dann eine Maßnahme an einer bestimmten Anlage durchführen müssen, sollte dies in einer absolut sicheren Umgebung geschehen. Die Person sollte den Status der Maschine abfragen und sich vergewissern können, dass alles sicher ist, bevor sie etwas macht. Augmented Reality führt sie dann durch die notwendigen Schritte. Bei einer Störung oder einem unlösbaren Problem kann das System Informationen wie technische Anleitungen zur Verfügung stellen. Bei Bedarf können auch Fachleute am anderen Ende der Welt angerufen werden, um in Echtzeit Hilfestellungen und Unterstützung zu geben. All diese Aspekte sind also der Schlüssel, um vom Training in die reale Umgebung zu wechseln.
ACM: Was würden Sie Industrieunternehmen empfehlen, die XR beispielsweise in der Anlagenplanung einführen wollen?
Maurizio Galardo: Der erste Schritt sollte sein, Informationen der digitalen Transformation und der Digitalisierungsstrategie zu sammeln. Industrieunternehmen müssen verstehen, wie sie die erforderlichen Materialen für ihren digitalen Zwilling aufzubereiten haben. Wenn dieser Plan steht, können sie Ziele und Zeitfenster definieren und Personas festlegen, die mit dem digitalen Zwilling interagieren dürfen.
ACM: Wie sieht die Verbindung zwischen den verschiedenen Anwendungsbereichen von XR wie Anlagenplanung, Mitarbeiterschulungen und Wartung aus und wie sollte diese am besten funktionieren?
Maurizio Galardo: Der digitale Zwilling ist das Zentrum aller Aktivitäten, die für ein XR-Erlebnis – egal welches – benötigt werden. Davon ausgehend können wir Anwendungen mit einem präzisen Umfang erstellen, die auf mehreren Geräten und Betriebssystemen laufen. Wirklich wichtig ist bei diesem Thema die verwendete Entwicklungsumgebung, um zu vermeiden, dass mehrere Projekte für verschiedene Leistungen erstellt werden müssen. Mit XR Studio ist es möglich, die Anwendung so zu programmieren, dass die endgültige Paketdatei einzigartig und für mehrere Zwecke verwendbar ist. Dies ist nur eines der vielen Vorteile und Anwendungsmöglichkeiten, um die Reise in die erstaunliche XR-Welt zu beschleunigen.
ACM: Was leistet dabei der digitale Zwilling und in welcher Form können die im Anlagenbetrieb gewonnenen Analysedaten mit in die XR-Anwendungen einfließen?
Maurizio Galardo: Der digitale Zwilling einer Anlage – auch einer Produktionslinie, einer Maschine oder ähnlichem – ist eine digitale Darstellung einer realen Anlage. Er ist ein digitaler Container, der alle Informationen zu dieser Anlage und den mit ihr verbundenen Assets sammelt. Das macht ihn zum zentralen Schlüsselelement. Wir betrachten ihn als Basis der gesamten Datenstruktur, die erstellt wird, und als ein Live-Element, das von mehreren Daten gespeist wird: Konstruktionsdaten, simulierte Prozessdaten, Daten zur vorausschauenden Wartung usw. Die Daten können sowohl vor Ort als auch in der Cloud gespeichert werden. Die XR-Komponente ist die Schicht über dem oben beschriebenen, um damit viele Daten in einer konsistenten und umfassenden Weise über Wearables oder andere Geräte zu visualisieren.
Das Wesentliche dieser Anwendungen ist die Möglichkeit, direkten Zugriff auf Daten zu haben. Sie sind in diesem Fall der Schlüssel, denn während beim reinen Training der Simulator die Realität nur widerspiegelt, wird bei der realen Einspeisung eine Live-Datenverbindung in Echtzeit hergestellt. Im Falle eines Fehlers oder einer anderen gefährlichen Situation steht sofort jede Art von Erkenntnis und Wissen zu Verfügung.
ACM: Welche Hürden bestehen nach Ihrer Erfahrung noch für den Einsatz der XR-Lösungen?
Maurizio Galardo: Die eigentliche Herausforderung, die wir in der täglichen Arbeit mit unseren Kunden sehen, ist der Mangel an Daten. Wenn sie einen digitalen Zwilling erstellen möchten, müssen sie die Konstruktionsdaten ihrer Gebäude und Anlagen für die Einspeisung haben. Nicht alle Unternehmen besitzen diese Informationen, die sie für die Integration einer XR-Anwendung benötigen, aber wir können sie dank unseres 360°-Portfolios bei ihrer digitalen Reise unterstützen.
ACM: Wie wird sich die Arbeit in den kommenden Jahren durch immersive Anwendungen verändern?
Maurizio Galardo: XR wird in Zukunft für die letzten Meter der Kommunikation zwischen Mensch und Maschine zuständig sein. Es wird neue Möglichkeiten geben, mit Daten zu interagieren und definitiv anders sein, als wir es heute gewohnt sind. Das neue Format wird hauptsächlich die dritte Dimension berücksichtigen. Ich denke, dass wir uns endlich in Richtung 3D in Echtzeit bewegen – damit auch weg von der reinen Unterhaltung hin zu industriellen Schulungszwecken. Jetzt kommt die 3D- Visualisierung auf die bestehenden Benutzeroberflächen, ohne die Zeit zwischen Mensch und Maschine zu verzögern. Für die Mensch- Maschine-Schnittstelle ( HMI) gehe ich davon aus, dass in naher Zukunft eine dünne Visualisierungsschicht durch eine fortschrittlichere 3D-Maschine anstelle einer 2D-Maschine bereitgestellt werden kann. Selbst wenn sie über eine Cloud oder einen Webbrowser genutzt wird. Die eigentliche Killer-Anwendung für XR und generell für 3D-Visualisierung wird die Möglichkeit sein, komplexe Datensätze in einem 3D-Raum mit neuer Hardware wie Wearables zu visualisieren. Dann nutzen wir endlich unser normales Sehvermögen, aber sehen in 3D.
ACM: Herr Galardo, vielen Dank für das Gespräch. ( anm) ■