Alle wollen virtuos sein, dabei ist es viel schwieriger, vor dem Instrument zu stehen und nicht zu spielen!
cher, ihre ersten Remixe fertigstellten. In Italien hatte Carmine Aussichten auf eine Karriere als klassischer Pianist und Matteo war fest in den erfolgreichen Familienbetrieb in Umbrien eingeplant. Gerade in dieser Frühphase, in der man aus Geldmangel nahezu jeden Abend in einer nahe gelegenen Hähnchenbude zu Abend aß, bis ihnen die Schenkel und Brüste zum Halse heraus hingen, hätte das Projekt Musik jederzeit leicht kippen können. Stattdessen haben sich die beiden mit einer spartanischen Arbeitsethik und einem genialen Gespür für Klang, Komposition und Groove ganz nach vorne an die Spitze einer neuen Musikbewegung emporgearbeitet.
Ich durchschreite den Hauptraum und betrete ein dahinter gelegenes, kleineres Zimmer, das wie eine Mischung aus Konferenzraum, Küche und Bar anmutet. Dort sitzt Carmine bereits, begrüßt mich freundlich, bietet mir ein Gläschen eines Ingwerlikörs an, den ich im Regal entdeckt und bewundert habe, und wendet sich dann wieder seinen Zeichnungen zu – den Rest des Gesprächs wird er, angeregt erzählend aber nahezu ohne aufzublicken, jeden Quadratmillimeter des vor ihm liegenden Papiers mit druckvollen, kratzend-kritzeligen Kugelschreiberbewegungen füllen. Die Motive, denke ich, während ich mich zu ihm an einen viel zu langen Tisch setze, erinnern in ihrer naiv-punkigen Schnodrigkeit an die Cover-Entwürfe des Life-and-Death-Labels von DJ Tennis, auf dem Tale of Us mit dem Remix des Thugfucker-Songs „Disco Gnome“im Jahre 2010 ihren Durchbruch feierten. Zeitgleich verabschiedet sich Matteo bereits – auf ihn warten dringendere Aufgaben, aber jeder der beiden, so versichert er mir, spreche auch für den anderen. Tatsächlich wird sich Carmine in unserem Gespräch immer wieder korrigieren und selbst ergänzen, aus einem „ich“ein „wir“machen, neben seiner eigenen Geschichte und Vision auch die geteilte Historie und gemeinsamen Blickwinkel zum Besten geben. Für mich stellt das Solo-Interview ohnehin kein Problem dar. Denn mit wohl kaum jemandem ließe sich besser über das wundersame, weitläufige und gelegentlich angenehm benebelnde „Endless“reden, mit dem Tale of Us gerade Freund und Feind gleichermaßen übertölpelt haben.
Für Carmine hingegen bildet die Scheibe eher einen vollkommen natürlichen Zielpunkt, an dem sich ein erster Kreis schließt, der von einem ersten Erweckungserlebnis mit sechs Jahren bis in die Gegenwart reicht. Als kleiner Junge ist er mit seiner Klasse zu Besuch auf einem klassischen Konzert. Sobald der Pianist die ersten Tasten anschlägt, ist es um ihn geschehen. Sein Körper wird augenblicklich ruhig, in seinem Kopf herrscht vollkommene Klarheit. Man hat einen Lehrer direkt neben ihn gesetzt, da man um seine notorische Hyperaktivität weiß, doch der erweist sich angesichts des verzauberten Carmine als überflüssig: „Er dachte wohl, ich sei krank geworden und man müsse einen Arzt rufen“. Schon am nächsten Tag beginnt er, seinen Vater damit zu nerven, dieser möge ihm ein Klavier schenken und spielt sich schon bald durch das Repertoire der großen Meister, allen voran Chopin. Doch nach einigen Jahren stellte sich allmählich eine tief sitzende Unzufriedenheit ein: „Ich habe mit dem Klavierspiel aus den falschen Gründen angefangen. Übrigens wie so vieles in meinem Leben. Ich war tief bewegt von dem, was dieser Pianist damals in mir ausgelöst hat. Aber ich habe das Instrument nicht wirklich geliebt und der Pfad als professioneller Instrumentalist war nicht meiner. Trotzdem ist eine solche Erfahrung wie eine Droge, die du einmal kostest und dann immer wieder haben musst. Ich versuche, sie mir immer wieder ins Gedächtnis zu rufen und sie mit meinen Tools und meiner Erfahrung zum Leben zu erwecken.“Auf „Endless“, das auf der ruhmreichen Deutschen Grammophon erscheint, entladen sich all diese Erfahrungen und Erinnerungen in einem epischen Strom aus Klavierkristallen, dichten Streichern,