Beatoskop: Kesha – Learn To Let Go Live Free!
Mit ihrem neuen Album „Rainbow“gelang dem US-Superstar Kesha nicht nur ein erfolgreiches Comeback, sondern eine beeindruckende Neuausrichtung. Der Weg dorthin geriet jedoch zur Hölle auf Erden.
Ke$ha zu sein, war in den vergangenen Jahren nicht einfach. Im Gegenteil. Als sie im Februar 2017 in einem Gerichtssaal in New York in Tränen ausbricht, ermöglicht sie einen Einblick in eine tief geschundene Seele.
Ein Name wie ein Programm
Das Martyrium der Kesha Rose Sebert beginnt im Alter von 18 Jahren – und sieht zunächst nach einem gelebten Traum aus. Geboren unter schwierigen sozialen Verhältnissen im Jahr 1987, ist sie begabt genug, um sich später in ein internationales Hochschulprogramm einzuschreiben und Psychologie zu studieren. Doch der Traum von einer Karriere im Musikgeschäft lässt sie nicht los – als Tochter einer Sängerin wurde sie praktisch in Tonstudios und im Backstage-Bereich von Konzerthallen und Clubs groß. Also schmeißt sie ihr Studium und setzt alles auf die Karte Musik. Mit Erfolg: Die Produzenten Dr. Luke und Max Martin zeigen sich von Seberts Demoaufnahmen so beeindruckt, dass sie ihr einen Vertrag bei ihrem Label Kemosabe Records anbieten. Die gerade dem Teenager-Alter entwachsene Musikerin greift zu und zieht nach Los Angeles.
Der erhoffte Durchbruch bleibt jedoch zunächst aus. Zwar reicht es für einen Auftritt in einem Video von Katy Perry und etwas Hintergrundgesang für Britney Spears, doch als sie für den US-Rapper Flo Rida den Gesang für dessen Hitsingle „Right Round“übernimmt, landet ihr Name nicht einmal auf dem Cover – und das Geld bis heute nicht auf ihrem Konto. Immerhin: RCA Records findet ihren Namen heraus und bietet Kesha einen Plattenvertrag über meh- rere Alben an: Ke$ha ist geboren. Ein Name wie ein Programm. Ein Programm wie eine Drohung.
Doch tatsächlich: Das Programm funktioniert! Die Debütsingle „TiK ToK“erklimmt in elf Ländern die Spitze der Charts und erreicht eine fünffache Platinauszeichnung. Zahlreiche Hits folgen, auch die dazugehörigen Alben krallen sich mit ihren quietschenden EDM-Synth-Sounds und Vocoder-Gewittern über Wochen und Monate in den Hitparaden fest. Den Sound beschreiben Kritiker als „abstoßend, anzüglich und unerhört einprägsam“. Fast noch wilder geraten ihre öffentlichen Auftritte: Mit einer Garderobe, die sie selbst als „Garbage-Schick“bezeichnet, provoziert sie auf Zeitschriften und in Videos. Musikerkollegen reißen sich trotzdem darum, mit ihr zu produzieren. Ke$ha erreicht eine mediale Allgegenwart, die zwischenzeitlich sogar Kolleginnen wie Rihanna und Taylor Swift in den Schatten stellt.
Die Fassade fällt
2014: Die Abgründe des Erfolgs sind tief. Kesha Rose Sebert verklagt Lukasz Sebastian Gottwald alias Dr. Luke wegen sexueller Belästigung, Nötigung und Vergewaltigung. Vor Gericht gibt sie zu Protokoll, dass Gottwald sie unter anderem einen „fetten, verdammten Kühlschrank“genannt hat. Sie schämt sich, zu essen. Lügt, dass sie essen würde. Und wenn sie überhaupt etwas zu sich nimmt, erbricht sie sich später. Kurze Zeit später bringt ihre Mutter sie in eine Reha-Klinik, in der sich Ke$ha wegen Bulimie behandeln lässt. Der Tiefpunkt ist erreicht.
Lange sieht es so aus, als würde die Musikerin nie wieder ein Album veröffentlichen. Der Rechtsstreit mit Dr. Luke kostet Geld, Zeit und Nerven, zumal der Produzent eine Gegenanzeige aufgrund von Verleumdung erstattet. Unterstützung für Ke$ha kommt aus unerwarteter Richtung: Die britische Sängerin Adele spricht ihr öffentlich ihre Solidarität aus, Fans protestieren vor dem Gerichtsgebäude und US-Superstar Taylor Swift überweist ihr gar 250.000 US-Dollar, um ihren Prozess zu unterstützen. 2017 verliert sie zwar unter Tränen vor Gericht, gewinnt aber ihre Freiheit: Der Musik-Gigant Sony erlaubt ihr weiter unter seinem Dach Musik zu produzieren – auch ohne die Beteiligung von Gottwald, dessen Vertrag mit der Plattenfirma sowieso ausläuft.
Neustart
Mit ihrem aktuellen Album „Rainbow“blättert Kesha Rose Sebert ein komplett neues Kapitel ihrer musikalischen Karriere auf. Aus dem Elektroschrott vergangener Tage ist ein schillernder Pop-Glam aus eigener Feder mit Anleihen aus der Flower-Power-Zeit geworden, kunstvoll gestrickt um die fast erschütternd tief gehende Stimme einer bisher komplett verkannten Sängerin. Zwar verkürzt sie weiter ihren Namen, das Dollarzeichen ist allerdings verschwunden. Nichts soll mehr an das fremd erscheinende Produkt vergangener Tage erinnern. „Live Free“steht als Tattoo auf acht ihrer Finger verteilt. Diesmal ist es ein gutes Programm.