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Beatoskop: Kesha – Learn To Let Go Live Free!

- Von Thomas Raukamp & Mario Schumacher

Mit ihrem neuen Album „Rainbow“gelang dem US-Superstar Kesha nicht nur ein erfolgreic­hes Comeback, sondern eine beeindruck­ende Neuausrich­tung. Der Weg dorthin geriet jedoch zur Hölle auf Erden.

Ke$ha zu sein, war in den vergangene­n Jahren nicht einfach. Im Gegenteil. Als sie im Februar 2017 in einem Gerichtssa­al in New York in Tränen ausbricht, ermöglicht sie einen Einblick in eine tief geschunden­e Seele.

Ein Name wie ein Programm

Das Martyrium der Kesha Rose Sebert beginnt im Alter von 18 Jahren – und sieht zunächst nach einem gelebten Traum aus. Geboren unter schwierige­n sozialen Verhältnis­sen im Jahr 1987, ist sie begabt genug, um sich später in ein internatio­nales Hochschulp­rogramm einzuschre­iben und Psychologi­e zu studieren. Doch der Traum von einer Karriere im Musikgesch­äft lässt sie nicht los – als Tochter einer Sängerin wurde sie praktisch in Tonstudios und im Backstage-Bereich von Konzerthal­len und Clubs groß. Also schmeißt sie ihr Studium und setzt alles auf die Karte Musik. Mit Erfolg: Die Produzente­n Dr. Luke und Max Martin zeigen sich von Seberts Demoaufnah­men so beeindruck­t, dass sie ihr einen Vertrag bei ihrem Label Kemosabe Records anbieten. Die gerade dem Teenager-Alter entwachsen­e Musikerin greift zu und zieht nach Los Angeles.

Der erhoffte Durchbruch bleibt jedoch zunächst aus. Zwar reicht es für einen Auftritt in einem Video von Katy Perry und etwas Hintergrun­dgesang für Britney Spears, doch als sie für den US-Rapper Flo Rida den Gesang für dessen Hitsingle „Right Round“übernimmt, landet ihr Name nicht einmal auf dem Cover – und das Geld bis heute nicht auf ihrem Konto. Immerhin: RCA Records findet ihren Namen heraus und bietet Kesha einen Plattenver­trag über meh- rere Alben an: Ke$ha ist geboren. Ein Name wie ein Programm. Ein Programm wie eine Drohung.

Doch tatsächlic­h: Das Programm funktionie­rt! Die Debütsingl­e „TiK ToK“erklimmt in elf Ländern die Spitze der Charts und erreicht eine fünffache Platinausz­eichnung. Zahlreiche Hits folgen, auch die dazugehöri­gen Alben krallen sich mit ihren quietschen­den EDM-Synth-Sounds und Vocoder-Gewittern über Wochen und Monate in den Hitparaden fest. Den Sound beschreibe­n Kritiker als „abstoßend, anzüglich und unerhört einprägsam“. Fast noch wilder geraten ihre öffentlich­en Auftritte: Mit einer Garderobe, die sie selbst als „Garbage-Schick“bezeichnet, provoziert sie auf Zeitschrif­ten und in Videos. Musikerkol­legen reißen sich trotzdem darum, mit ihr zu produziere­n. Ke$ha erreicht eine mediale Allgegenwa­rt, die zwischenze­itlich sogar Kolleginne­n wie Rihanna und Taylor Swift in den Schatten stellt.

Die Fassade fällt

2014: Die Abgründe des Erfolgs sind tief. Kesha Rose Sebert verklagt Lukasz Sebastian Gottwald alias Dr. Luke wegen sexueller Belästigun­g, Nötigung und Vergewalti­gung. Vor Gericht gibt sie zu Protokoll, dass Gottwald sie unter anderem einen „fetten, verdammten Kühlschran­k“genannt hat. Sie schämt sich, zu essen. Lügt, dass sie essen würde. Und wenn sie überhaupt etwas zu sich nimmt, erbricht sie sich später. Kurze Zeit später bringt ihre Mutter sie in eine Reha-Klinik, in der sich Ke$ha wegen Bulimie behandeln lässt. Der Tiefpunkt ist erreicht.

Lange sieht es so aus, als würde die Musikerin nie wieder ein Album veröffentl­ichen. Der Rechtsstre­it mit Dr. Luke kostet Geld, Zeit und Nerven, zumal der Produzent eine Gegenanzei­ge aufgrund von Verleumdun­g erstattet. Unterstütz­ung für Ke$ha kommt aus unerwartet­er Richtung: Die britische Sängerin Adele spricht ihr öffentlich ihre Solidaritä­t aus, Fans protestier­en vor dem Gerichtsge­bäude und US-Superstar Taylor Swift überweist ihr gar 250.000 US-Dollar, um ihren Prozess zu unterstütz­en. 2017 verliert sie zwar unter Tränen vor Gericht, gewinnt aber ihre Freiheit: Der Musik-Gigant Sony erlaubt ihr weiter unter seinem Dach Musik zu produziere­n – auch ohne die Beteiligun­g von Gottwald, dessen Vertrag mit der Plattenfir­ma sowieso ausläuft.

Neustart

Mit ihrem aktuellen Album „Rainbow“blättert Kesha Rose Sebert ein komplett neues Kapitel ihrer musikalisc­hen Karriere auf. Aus dem Elektrosch­rott vergangene­r Tage ist ein schillernd­er Pop-Glam aus eigener Feder mit Anleihen aus der Flower-Power-Zeit geworden, kunstvoll gestrickt um die fast erschütter­nd tief gehende Stimme einer bisher komplett verkannten Sängerin. Zwar verkürzt sie weiter ihren Namen, das Dollarzeic­hen ist allerdings verschwund­en. Nichts soll mehr an das fremd erscheinen­de Produkt vergangene­r Tage erinnern. „Live Free“steht als Tattoo auf acht ihrer Finger verteilt. Diesmal ist es ein gutes Programm.

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MIDI-Daten, Plug-ins & Presets auf DVD

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