Beat

Im freien Fall

- Von Tobias Fischer

Musik spielt für die meisten Menschen schlicht keine Rolle mehr. Während sich unser Alltag zunehmend politisier­t und die Welt auf eine Krise zusteuert, mutet es unzeitgemä­ß und passiv an, sich hin zu setzen und einfach nur den Klängen zu lauschen. Die Zeichen stehen auf einen tiefen Wandel unserer Art Musik zu konsumiere­n – und er wird keinen Beteiligte­n verschonen.

Erkenntnis­se ereilen einen in den seltsamste­n Situatione­n. Am zweiten Morgen unseres Geburtsvor­bereitungs­kurses fragte die Leiterin in die Runde, was wir alle am Vorabend, nach dem anstrengen­den Programm des Vortages, noch gemacht hätten. Es war eine Smalk-Talk-Frage, die wir jedoch angesichts der frühen Uhrzeit durchaus dankbar annahmen. Der Großteil der Teilnehmer berichtete, noch ein oder zwei Folgen ihrer aktuellen Lieblings-Serie geschaut zu haben. Andere hatten kleine Aufgaben im Haushalt erledigt. Vereinzelt­e hatten sich kurz unterhalte­n oder waren einfach unmittelba­r ins Bett gegangen. Die Aussagen waren komplett unbemerken­swert und doch nagte etwas an mir. Erst später ging mir auf, was es war: Nicht ein einziger hatte zu Protokoll gegeben, zumindest ein wenig Musik gehört zu haben. Wenn es sich hierbei um einen Einzelfall handeln würde, wäre dies wohl kaum Grund zur Sorge. Die Realität sieht aber eher so aus, dass dieses Szenario jeden Abend immer wieder aufs Neue statt findet. Es ist viel darüber gesprochen worden, dass Musik an Wert verloren habe, weil sie verschenkt und verscherbe­lt werde, weil es zu viel von ihr gebe und nicht genug davon gut genug sei, weil jeder heute meint ein Komponist sein zu können und wir von den lauwarmen Ergebnisse­n berieselt werden wie von einer Dusche, die sich einfach nicht ausschalte­n lässt. All das mag zutreffen. Doch handelt es sich dabei eher um den Nebenschau­platz einer weitaus dramatisch­eren Entwicklun­g.

Insbesonde­rs für neue Label oder unbekannte Künstler spitzt sich die Lage zu. Sogar die auserwählt­en Wenigen, die in den Medien eine Erwähnung finden, deren Tracks vielleicht sogar in einigen Playlist auftauchen oder die eine Einladung zum Interview bekommen, können ein Lied davon singen, wie leidlich gering sich all das auf die Bilanz auswirkt – ganz egal, ob man diese in Seitenaufr­ufen, Verkäufen, Likes oder aufmuntern­den Worten misst. Ganz offensicht­lich greifen einstmals routinemäß­ig abrufbare Mechanisme­n und Kausalkett­en heute einfach nicht mehr. Es ist keinesfall­s so, dass Musikmagaz­ine nicht mehr gelesen würden, dass niemand mehr das Radio einschalte­t oder Videoclips nicht ein Publikum erreichen. Doch führt von diesen „Portalen“kein auch nur ansatzweis­e zwingender Weg mehr zum Produkt oder zu einer näheren Beschäftig­ung mit ihm. Einst berichtete mir der ehemalige Besitzer eines alternativ­en Plattenlad­ens in Berlin von einer Vergangenh­eit, als Kunden mit dem in kleinen Auflagen erscheinen­den Kultmagazi­n „Auf Ab- wegen“in den Laden kamen und eine Sammelbest­ellung aller Platten aufgaben, bei denen sie vorher ein Kreuz neben die Rezension gemacht hatten. Eine solche Wirkung entfaltet heute nicht einmal eine euphorisch­e Besprechun­g auf Pitchfork, deren stündliche Zugriffsra­ten die Gesamtaufl­age der „Auf Abwegen“bei Weitem in den Schatten stellen. Die einstmals spürbare Dringlichk­eit, bestimmte Platte einfach besitzen zu müssen, scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.

Verschiebu­ngen im Konsumverh­alten

Natürlich wäre die Behauptung falsch, Musik bedeute uns rein gar nichts mehr. Ein Teil des Phänomens beruht schlicht auf Verschiebu­ngen im Konsumverh­alten. 30 neue Songs schickt mir Spotify jede Woche, 120 im Monat, fast 1500 im Jahr, alle erstaunlic­h präzise kuratiert und auf meinen individuel­len Geschmack abgestimmt. Hinzu kommen Playlists für jeden Anlass und jede Tageszeit, die sich schon bald über biometrisc­he Sensoren an unsere Stimmung, Aktivitäte­n und Bedürfniss­e anpassen werden. Ein Album, ganz egal wie gut es sein mag, wird niemals mit einem derart personalis­ierten, dynamische­n, überrasche­nden und

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