Im freien Fall
Musik spielt für die meisten Menschen schlicht keine Rolle mehr. Während sich unser Alltag zunehmend politisiert und die Welt auf eine Krise zusteuert, mutet es unzeitgemäß und passiv an, sich hin zu setzen und einfach nur den Klängen zu lauschen. Die Zeichen stehen auf einen tiefen Wandel unserer Art Musik zu konsumieren – und er wird keinen Beteiligten verschonen.
Erkenntnisse ereilen einen in den seltsamsten Situationen. Am zweiten Morgen unseres Geburtsvorbereitungskurses fragte die Leiterin in die Runde, was wir alle am Vorabend, nach dem anstrengenden Programm des Vortages, noch gemacht hätten. Es war eine Smalk-Talk-Frage, die wir jedoch angesichts der frühen Uhrzeit durchaus dankbar annahmen. Der Großteil der Teilnehmer berichtete, noch ein oder zwei Folgen ihrer aktuellen Lieblings-Serie geschaut zu haben. Andere hatten kleine Aufgaben im Haushalt erledigt. Vereinzelte hatten sich kurz unterhalten oder waren einfach unmittelbar ins Bett gegangen. Die Aussagen waren komplett unbemerkenswert und doch nagte etwas an mir. Erst später ging mir auf, was es war: Nicht ein einziger hatte zu Protokoll gegeben, zumindest ein wenig Musik gehört zu haben. Wenn es sich hierbei um einen Einzelfall handeln würde, wäre dies wohl kaum Grund zur Sorge. Die Realität sieht aber eher so aus, dass dieses Szenario jeden Abend immer wieder aufs Neue statt findet. Es ist viel darüber gesprochen worden, dass Musik an Wert verloren habe, weil sie verschenkt und verscherbelt werde, weil es zu viel von ihr gebe und nicht genug davon gut genug sei, weil jeder heute meint ein Komponist sein zu können und wir von den lauwarmen Ergebnissen berieselt werden wie von einer Dusche, die sich einfach nicht ausschalten lässt. All das mag zutreffen. Doch handelt es sich dabei eher um den Nebenschauplatz einer weitaus dramatischeren Entwicklung.
Insbesonders für neue Label oder unbekannte Künstler spitzt sich die Lage zu. Sogar die auserwählten Wenigen, die in den Medien eine Erwähnung finden, deren Tracks vielleicht sogar in einigen Playlist auftauchen oder die eine Einladung zum Interview bekommen, können ein Lied davon singen, wie leidlich gering sich all das auf die Bilanz auswirkt – ganz egal, ob man diese in Seitenaufrufen, Verkäufen, Likes oder aufmunternden Worten misst. Ganz offensichtlich greifen einstmals routinemäßig abrufbare Mechanismen und Kausalketten heute einfach nicht mehr. Es ist keinesfalls so, dass Musikmagazine nicht mehr gelesen würden, dass niemand mehr das Radio einschaltet oder Videoclips nicht ein Publikum erreichen. Doch führt von diesen „Portalen“kein auch nur ansatzweise zwingender Weg mehr zum Produkt oder zu einer näheren Beschäftigung mit ihm. Einst berichtete mir der ehemalige Besitzer eines alternativen Plattenladens in Berlin von einer Vergangenheit, als Kunden mit dem in kleinen Auflagen erscheinenden Kultmagazin „Auf Ab- wegen“in den Laden kamen und eine Sammelbestellung aller Platten aufgaben, bei denen sie vorher ein Kreuz neben die Rezension gemacht hatten. Eine solche Wirkung entfaltet heute nicht einmal eine euphorische Besprechung auf Pitchfork, deren stündliche Zugriffsraten die Gesamtauflage der „Auf Abwegen“bei Weitem in den Schatten stellen. Die einstmals spürbare Dringlichkeit, bestimmte Platte einfach besitzen zu müssen, scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.
Verschiebungen im Konsumverhalten
Natürlich wäre die Behauptung falsch, Musik bedeute uns rein gar nichts mehr. Ein Teil des Phänomens beruht schlicht auf Verschiebungen im Konsumverhalten. 30 neue Songs schickt mir Spotify jede Woche, 120 im Monat, fast 1500 im Jahr, alle erstaunlich präzise kuratiert und auf meinen individuellen Geschmack abgestimmt. Hinzu kommen Playlists für jeden Anlass und jede Tageszeit, die sich schon bald über biometrische Sensoren an unsere Stimmung, Aktivitäten und Bedürfnisse anpassen werden. Ein Album, ganz egal wie gut es sein mag, wird niemals mit einem derart personalisierten, dynamischen, überraschenden und