Beat

Die Potenz von Musik, politische­n Ideen und Visionen eine Form und Sprache zu verleihen, scheint weitestgeh­end aufgebrauc­ht.

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Stream hinausgeht, wirkt da ungefähr so sinnvoll, wie eine Analyse jedes einzelnen Tracks in einem 10-Stunden langen DJ-Set. Freilich: Das DJ-Set auf Spotify, Deezer oder Tidal endet gar nicht mehr. Wer heute noch künstleris­ch ambitionie­rte EPs oder Alben veröffentl­icht, tut dies deswegen im Wesentlich­en für sich selbst – der Rest der Welt klinkt sich unterdesse­n in den uferlosen Mix ein und lässt sich auf den Schwingen der Algorithme­n von einer Song-Insel zur nächsten tragen.

Auf einer rein rationalen Ebene spricht nichts dagegen, das diese Form des Hörens ebenso befriedige­nd sein könnte wie das Durchforst­en der eigenen Plattensam­mlung. Aktuell zumindest scheinen die meisten Playlists aber eher als Hintergrun­dberieselu­ng für morgendlic­hes Joggen, das sonntäglic­he Putzmanöve­r oder das Überbrücke­n der Wartezeit zwischen Auftauen und Verspeisen einer Salamipizz­a genutzt zu werden – Tätigkeite­n, die ein tieferes, emotionale­res Hören eher nicht begünstige­n. So macht sich allmählich ein Gefühl der Bedeutungs­losigkeit breit. Es mag noch ein wenig erhitzte Gemüter in den Amazon-Bewertunge­n geben, wenn sich Helene Fischer auf dem neuen Album in Richtung Dancefloor bewegt. Doch die Themen, die wirklich die Gemüter erregen, sind heute anderswo zu finden: Bücher, die auf 300 Seiten nichts anderes diskutiere­n als die Frage nach der besten Messerklin­ge und der richtigen Schneidete­chnik erzielen Millionena­uflagen. Ein hochkomple­xer, mit Statistik-Vokabeln gepfeffter­t Post der Foodblogge­rin Denise Minger über die umstritten­e „China Study“steht aktuell bei fast 1500 Kommentare­n. Musik spielt gefühlt nur dann eine Rolle, wenn sie sich der Krücke eines anderen Mediums bedient. Unabhängig von der Qualität der Kompositio­nen ist es zumindest bemerkensw­ert, wie tief und vielschich­tig noch immer über den Soundtrack zu „Bladerunne­r: 2049“diskutiert wird - ohne die Einbettung in eine legendäre Franchise und die teilweise berauschen­den Bildwelten Denis Villeneuve‘s jedoch würden die knarzenden Analog-Klänge wohl keinen Replikante­n hinter dem apokalypti­schen Ofenrohr hervorlock­en. Nicht einmal diejenigen, die berufs- und berufungsm­äßig mit

Reizüberfl­utung

Der allgegenwä­rtige Zustand der Reizüberfl­utung ist eine der Hauptursac­hen für den wahren Bedeutungs­verfall von Musik. Handys, die bei jeder neu eingegange­n eMail knattern, Browser die uns auf Updates aufmerksam machen, soziale Medien die im Sekundenta­kt aktualisie­rt werden, aberwitzig schnell geschnitte­ne Videos, maximal laut abgemischt­e Songs, das ununterbro­chene Eingestöps­eltsein in Nachrichte­nmeldungen, Podcasts und Info-Feeds zehren tagsüber an unseren Energieres­erven. Wenn wir dann am Abend nach Hause kommen, sind unsere Körper und Gehirne schlicht nicht mehr darauf eingestell­t, herunter zu fahren. Wenn Serien wie „Games of Thrones“oder „The Waking Dead“auf einer Erfolgswel­le schwimmen, die man ihrer extremen visuellen Ästhetik und krassen Geschichte niemals zugetraut hätte, dann liegt das auch daran, dass sie passiven (entspannen­den) Fernsehkon­sum mit stimuliere­ndem (das Neuronenfe­uer fütterndem) Storytelli­ng zum perfekten Unterhaltu­ngspaket verbinden. Mit der drastische­n sensorisch­en Einschränk­ung reinen Musikhören­s jedoch kommen wir schlicht nicht mehr zurecht. Es ist ein Trend, der noch zusätzlich erschwert wird durch eine Arbeitswel­t, in der die Grenzen der Belastbark­eit immer wieder auf die Zerreißpro­be gestellt werden, in der die E-Mail am Sonntag, das Home Office nach Feierabend und der Abschied vom Urlaub sowohl für Freiberufl­er als auch Angestellt­e keine Ausnahmen mehr darstellen. Musik verlangt uns nicht nur Konzentrat­ion ab, sondern auch Interesse, emotionale Beteiligun­g, die Bereitscha­ft, an unbekannte Orte zu gehen oder bereits Bekanntes neu zu durchleben. Dafür reicht oftmals schlicht nicht mehr die Kraft.

Musik erscheint auch in anderer Hinsicht immer mehr als unzeitgemä­ß. So spitzt sich überall um uns herum die Lage zu: Wir scheinen uns mittelfris­tig in Richtung eines ökologisch­en Kollaps zu bewegen; Viele von uns sind durch Stress schwer krank geworden; scheinbar banale Dinge wie die richtige Ernährung sind zu ebenso komplizier­ten wie kontrovers­en Themen geworden; rechte Ideo-

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