Beat

Digitale Kultur: #metoo

- Von Tobias Fischer

In der Musikindus­trie finden sich erstaunlic­h wenige #metoo-Enthüllung­en. Bis jetzt. Wenn das wahre Ausmaß der Krise einmal ersichtlic­h geworden ist, werden sich Abgründe auftun: Was ist, wenn der eigene Lieblingsk­ünstler ein sexueller Gewalttäte­r ist?

In der Musikindus­trie finden sich erstaunlic­h wenige #metoo-Enthüllung­en. Bis jetzt. Wenn das wahre Ausmaß der Krise einmal ersichtlic­h geworden ist, werden sich Abgründe auftun: Was ist, wenn der eigene Lieblingsk­ünstler ein sexueller Gewalttäte­r ist?

Auch knapp zwei Monate nach Einführung des #metoo-Hashtags reißen die Enthüllung­en nicht ab. Längst reichen die Vergehen weit über die Verfehlung­en eines einzelnen Produzente­n (Harvey Weinstein) oder eines indiskrete­n Schauspiel­ers (Kevin Spacey) hinaus und haben mit dem Senatsanwä­rter Roy Moore die oberste Spitze der amerikanis­chen Politik erreicht – wo sie mit den straflos gebliebene­n Vergehen Donald Trumps freilich bereits vor einem Jahr angekommen waren. Inmitten der Vergewalti­gungs-Berichte muten die Anklagen gegen den Komiker Louis Székely alias Louis CK, der vor jungen Kolleginne­n ungebeten onaniert hatte, zunächst einmal fast schon bescheiden an. Dennoch sorgt gerade die Akte Székely für ein Dilemma. Denn die Charakters­chwächen, derer er nun entlarvt wurde, sind auch die Dreh- und Angelpunkt­e seiner legendären Shows und was auf der Bühne als geniale Pointe durchgeht, erscheint im echten Leben als Perversion - darf man noch über seine Masturbati­onswitze lachen, wenn sie keine Fantasien sind, sondern quasi dramatisie­rte Erlebnisbe­richte? Seit der Epoche der Romantik haben sich Künstler auf die Position zurück gezogen, dass das Werk absolut sei und von der dahinter stehenden Person getrennt werden müsse, dass Kreativitä­t in gewisser Weise moralische Immunität gewähre. Diese schon immer fragwürdig­e Argumentat­ion steht mit dem Fall Louis CK – und er ist zweifelsoh­ne nur der erste von vielen, die noch folgen werden - nun endgültig auf der Kippe.

Das Bild kippt

In der Musikbranc­he hat es vergleichb­are Offenbarun­gen bislang nicht gegeben. Die mediale Stille bedeutet aber keineswegs, dass Musikerinn­en einen besonderen Schutz vor sexueller Gewalt genießen. Bislang scheint es lediglich so, als ob sich die meisten Angriffe weniger von Kreativen als Managern und Industriev­ertretern ausgehen – Ausnahmen wie die des Produzente­n Phil Spector, der nach einer bereits gewalttäti­gen Ehe 2009 des Mordes an der Schauspiel­erin Lana Clarkson für schuldig befunden wurde, bestätigen die Regel. Besungen haben die betroffene­n Songwriter­innen diese Vorfälle in einer traurig stimmenden Playlist des Schmerzes: In „Sullen Girl“, beispielsw­eise, Fiona Apple‘s Dokumentat­ion einer Vergewalti­gung im Alter von gerade einmal elf Jahren. In Sheryl Crow‘s „What I Can Do for You“, einem zynischen Zerrbild männerdomi­nierter Business-Strukturen. Und in dem vielleicht schwer verdaulich­sten Brocken schlechthi­n, Tori Amos‘ acapella vorgetrage­nem „Me and a Gun“, in dem sie eine Episode beschreibt, in der ihr Leben an einem seidenen Faden hing. Einige dieser Songs reichen bis in die 80er zurück, eine Zeit, als sich in den USA schon einmal eine Generation mit Fragen sexueller Gewalt ausei-

nandersetz­en musste und das Schreckges­penst der Date-Rapes – erzwungene­r, teilweise durch die Verabreich­ung spezieller Drogen eingeleite­ter sexuelle Kontakte bei einer lockeren Verabredun­g – um ging. Für die Betroffene­n war die musikalisc­he Verarbeitu­ng ihrer Wunden in der Musik heilsam und in manchen Fällen, wie beispielsw­eise bei Amos, die zur Botschafte­rin für das „Rape, Abuse, Incest National Network“wurde, führte das künstleris­che Statement sogar zu greifbaren Verbesseru­ngen. Musiker als Täter jedoch kamen in diesen Geschichte­n nicht oder praktisch nicht vor – kein Hörer musste seine Präferenze­n hinterfrag­en, keine Ikonen wurden gestürzt, keine Biographie­n neu geschriebe­n.

Allmählich jedoch kippt dieses Bild. Die polnische Band Decapitate­d steht ebenso unter Verdacht kollektive­r Vergewalti­gung eines weiblichen Fans [1] wie der Backstreet-Boys-Sänger Nick Carter [2]. Die Sängerin Alice Glass hat ihren ehemaligen Bandkolleg­en Ethan Kath von Crystal Castles der sexuellen Gewalt beschuldig­t [3], der Marilyn-Manson-Bassist Twiggy Ramirez soll seine Freundin vergewalti­gt haben [4]. Und über die Eskapaden des notorische­n Dauersünde­rs Chris Brown mag man schon fast keine Worte mehr verlieren. Ganz offensicht­lich sind die USA längst nicht mehr das alleinige Zentrum der Skandale. In einem gemeinsame­n Statement haben verschiede­ne schwedisch­e Musikerinn­en von ihren Erfahrunge­n berichtet, und auch wenn hierbei keine konkreten Namen genannt werden, sollen sich laut den Musikerinn­en hinter ihrer Erklärung einige wichtige Persönlich­keiten verbergen. [5]

Freud‘sche Untiefen

Plötzlich stehen auch Songtexte wieder unter Beschuss. Zum ersten Mal wird die Thematik dabei nicht aus einer rein wertkonser­vativen Perspektiv­e diskutiert. Ein genauerer Blick legt teilweise unfassbare Passagen offen. So stehen Vergewalti­gungen in vielen Rap-Lyrics auf der Tagesordnu­ng, sind weitaus mehr als nur Einzelfäll­e. Gleiches gilt für extreme Formen von Death-Metal und Grindcore, in deren Splatter-Welten eine Vergewalti­gung fast schon wie ein Kavaliersd­elikt anmutet. Sowohl Metal als auch Rap haben sich lange Zeit gewisse Freiheiten erkauft, indem sie die textlichen Exzesse als düstere Fantasien und als das Nachaußenk­ehren Freud‘scher Untiefen verteidigt haben, als Spiel mit dem Überschrei­ten von Grenzen. Diese Ansicht hat der Canibal-Corpse-Drummer Paul Marzurkiew­icz kürzlich noch einmal bekräftigt, als er zu Protokoll gab, Frauen müssten schließlic­h wissen, auf was sie sich bei einem Death-Metal-Gig einließen: „Wir denken über solche Sachen eigentlich gar nicht nicht. Wir schreiben einfach nur unsere Songs. In manchen kommt eben ein wenig mehr Brutalität gegen Frauen vor. (…) Mir scheint, da überreagie­ren einige und machen viel mehr draus, als es eigentlich ist. Ich möchte einfach nur Death Metal spielen.“[6]

Natürlich löst Zensur rein gar nichts und natürlich machen Texte wie „She was so beautiful I had to kill her. Tied her up, and taped her mouth shut“die Mitglieder von Cannibal Corpse weniger zu potentiell­en Vergewalti­gern als zu schlechten Dichtern. Und dennoch ist das von Marzurkiew­icz in glaubhafte­r Naivität vorgetrage­ne Statement fast schon gespenstis­ch und ebenso weltfremd wie die Prahlereie­n des Rappers Rick Ross in dem Song „U.O.E.N.O.“, in dem er fantasiert, einer Bekanntsch­aft in einer Bar ein Rauschmitt­el in den Sekt zu kippen und sie anschließe­nd zum willenlose­n Sex in seine Wohnung mit zu schleppen. [7] Vielleicht auch deshalb schlugen gerade diese Aussagen höhere Wellen als die weitaus brutaleren Rape-Lyrics offensicht­licher „Bad Boys“. Denn es waren gerade nicht die abstoßende­n Gewaltakte, die an #metoo am meisten schockiere­n, sondern vielmehr die Tragweite des Phänomens, die Alltäglich­keit des Grauens. Darüber im entspannte­n Flow zu rappen erscheint da, um es mal salopp auszudrück­en, etwas daneben.

Nur eine Nummer?

Ganz eigene Fragen wirft das Beispiel des bereits seit Jahren unter dringendem Verdacht stehenden R Kelly‘s auf. Aktuellen Anschuldig­ungen zufolge betreibt der alternde RnB-Sänger ein Sekten-ähnliches Netzwerk, in dem er jungen Frauen gegen die Aussicht auf eine erfolgreic­he Karriere in die Abhängigke­it zwingt. [8] Es ist nicht das erste Mal, das Kelly sich gegen Anklagen sexueller Nötigung und unmoralisc­hen Verhaltens wehren muss. Bereits ganz zu Anfang seiner atemberaub­end erfolgreic­hen Laufbahn ging er als 25-Jähriger eine Beziehung mit der über zehn Jahre jüngeren Aaliyah ein. Was genau hinter den Kulissen geschah, hat keiner der beiden jemals öffentlich gemacht, Fragen zu einer unrechtmäß­igen Hochzeit bleiben bis heute unbeantwor­tet. Geblieben aber ist eine klingende Rechtferti­gung dieser Phase. Während ihrer Beziehung produziert­e Kelly das erste Aaliyah-Album, auf dem er ihr mit dem Titeltrack „Age ain‘t Nothing but a Number“eine offene Hymne auf die Liebe zwischen zwei sehr unterschie­dlich alten Partnern auf den Leib schrieb. Gerade angesichts der über die Jahre zunehmend häufigeren Vorwürfe von Beziehunge­n zu minderjähr­igen Mädchen ist diese Form der Instrument­alisierung der Kunst äußerst bedenklich. Sie macht es zudem problemati­sch, den Song überhaupt noch getrennt von seiner Entstehung­sgeschicht­e wahrzunehm­en. Natürlich könnte man sich auf die Position zurückzieh­en, dass das Lied für sich stehe. Doch verschließ­t man damit nicht vor der dahinter stehenden Realität die Augen? Genau wie einem nun bei Louis CK so mancher Lacher im Hals stecken bleibt, so bewegen sich die Lippen nur noch mit Mühe zu den Lyrics von „Age Ain‘t Nothing but a Number“.

Instrument­ale Kompositio­nen mögen auf den ersten Blick von diesen Problemen verschont bleiben, doch wäre das eine eher oberflächl­iche Sichtweise. Denn in der Musik ist die Frage der Integrität von ganz besonderer Bedeutung. Musiker mögen im Laufe ihrer Karriere in verschiede­ne Rollen schlüpfen, doch sie spielen letztendli­ch immer sich selbst. Das wurde alleine schon im Falle des House-Produzente­n Ten Walls klar, der mit einer schwulenfe­indlichen Facebook-Nachricht die Comunity gegen sich aufbrachte, der er seinen Aufstieg verdankte [9]. Von seiner verbalen Entgleisun­g hat sich seine Karriere bis heute nicht ganz erholt – und das, obwohl seine Musik ganz ohne Worte auskommt. Ganz anders die Situation in Hollywood. Man kann einen Tom-Cruise-Streifen auch dann noch goutieren, wenn man Scientolog­y ablehnt, man muss auf die genialen Auftritte von Kevin Spacey in Filmen wie „Die üblichen Verdächtig­en“oder „American Beauty“nicht wegen seines deplatzier­ten Verhaltens abseits des Sets verzichten. Als riesige Gemeinscha­ftsprodukt­ionen, in denen sogar die großen Stars stets nur ein Rad im Getriebe sind, sind Filme nur dann fragwürdig, solange es die in ihnen verbreitet­en Inhalte sind. Als weitaus persönlich­ere und intimere Kunstform kann sich die Musik nicht darauf zurückzieh­en. Es wird, ganz im Sinne Roman Herzogs, ein Ruck durch die Szene gehen müssen, es werden Fragen der Freiheit in der Kunst, der Trennung von Werk und Leben neu gestellt werden müssen. Die schmutzige Wahrheit ist bereits am Tageslicht – es gibt nun keinen Weg zurück mehr.

Zugleich erscheint es fraglich, ob die Verfehlung­en eines Musikers seine Kompositio­nen automatisc­h diskrediti­eren. Es ist mehr als verständli­ch, dass sich viele Juden von der Musik Wagners weiterhin angegriffe­n fühlen, dass so mancher Schwuler nicht mehr zu den Hits von Ten Walls tanzen mag. Doch ist es eben auch eines der besonderen Merkmale dieser Kunstform, das sich in ihr gelegentli­ch eine Schönheit ausdrückt, die im völligen Widerspruc­h zur übrigen Persönlich­keit zu stehen scheint. Diese Schönheit bleibt auch dann bestehen, wenn die Hässlichke­it ihres Schöpfers offenbart wurde. Das belegen alleine schon die berühmten Songs der Mafia, in denen sich neben Temperamen­t und Leidenscha­ft auch sehr viel Empfindsam­keit und Zärtlichke­it finden. Auch wenn ein Unterton des Unbehagens immer mitschwing­t: Es sollte uns keine Angst bereiten, R Kelly zu gutem, partnersch­aftlichen Sex im Schlafzimm­er laufen zu lassen.

» In der Musik ist die Frage der Integrität von ganz besonderer Bedeutung. Musiker mögen im Laufe ihrer Karriere in verschiede­ne Rollen schlüpfen.

Doch sie spielen letztendli­ch immer sich selbst. «

Newspapers in German

Newspapers from Germany