Digitale Kultur: #metoo
In der Musikindustrie finden sich erstaunlich wenige #metoo-Enthüllungen. Bis jetzt. Wenn das wahre Ausmaß der Krise einmal ersichtlich geworden ist, werden sich Abgründe auftun: Was ist, wenn der eigene Lieblingskünstler ein sexueller Gewalttäter ist?
In der Musikindustrie finden sich erstaunlich wenige #metoo-Enthüllungen. Bis jetzt. Wenn das wahre Ausmaß der Krise einmal ersichtlich geworden ist, werden sich Abgründe auftun: Was ist, wenn der eigene Lieblingskünstler ein sexueller Gewalttäter ist?
Auch knapp zwei Monate nach Einführung des #metoo-Hashtags reißen die Enthüllungen nicht ab. Längst reichen die Vergehen weit über die Verfehlungen eines einzelnen Produzenten (Harvey Weinstein) oder eines indiskreten Schauspielers (Kevin Spacey) hinaus und haben mit dem Senatsanwärter Roy Moore die oberste Spitze der amerikanischen Politik erreicht – wo sie mit den straflos gebliebenen Vergehen Donald Trumps freilich bereits vor einem Jahr angekommen waren. Inmitten der Vergewaltigungs-Berichte muten die Anklagen gegen den Komiker Louis Székely alias Louis CK, der vor jungen Kolleginnen ungebeten onaniert hatte, zunächst einmal fast schon bescheiden an. Dennoch sorgt gerade die Akte Székely für ein Dilemma. Denn die Charakterschwächen, derer er nun entlarvt wurde, sind auch die Dreh- und Angelpunkte seiner legendären Shows und was auf der Bühne als geniale Pointe durchgeht, erscheint im echten Leben als Perversion - darf man noch über seine Masturbationswitze lachen, wenn sie keine Fantasien sind, sondern quasi dramatisierte Erlebnisberichte? Seit der Epoche der Romantik haben sich Künstler auf die Position zurück gezogen, dass das Werk absolut sei und von der dahinter stehenden Person getrennt werden müsse, dass Kreativität in gewisser Weise moralische Immunität gewähre. Diese schon immer fragwürdige Argumentation steht mit dem Fall Louis CK – und er ist zweifelsohne nur der erste von vielen, die noch folgen werden - nun endgültig auf der Kippe.
Das Bild kippt
In der Musikbranche hat es vergleichbare Offenbarungen bislang nicht gegeben. Die mediale Stille bedeutet aber keineswegs, dass Musikerinnen einen besonderen Schutz vor sexueller Gewalt genießen. Bislang scheint es lediglich so, als ob sich die meisten Angriffe weniger von Kreativen als Managern und Industrievertretern ausgehen – Ausnahmen wie die des Produzenten Phil Spector, der nach einer bereits gewalttätigen Ehe 2009 des Mordes an der Schauspielerin Lana Clarkson für schuldig befunden wurde, bestätigen die Regel. Besungen haben die betroffenen Songwriterinnen diese Vorfälle in einer traurig stimmenden Playlist des Schmerzes: In „Sullen Girl“, beispielsweise, Fiona Apple‘s Dokumentation einer Vergewaltigung im Alter von gerade einmal elf Jahren. In Sheryl Crow‘s „What I Can Do for You“, einem zynischen Zerrbild männerdominierter Business-Strukturen. Und in dem vielleicht schwer verdaulichsten Brocken schlechthin, Tori Amos‘ acapella vorgetragenem „Me and a Gun“, in dem sie eine Episode beschreibt, in der ihr Leben an einem seidenen Faden hing. Einige dieser Songs reichen bis in die 80er zurück, eine Zeit, als sich in den USA schon einmal eine Generation mit Fragen sexueller Gewalt ausei-
nandersetzen musste und das Schreckgespenst der Date-Rapes – erzwungener, teilweise durch die Verabreichung spezieller Drogen eingeleiteter sexuelle Kontakte bei einer lockeren Verabredung – um ging. Für die Betroffenen war die musikalische Verarbeitung ihrer Wunden in der Musik heilsam und in manchen Fällen, wie beispielsweise bei Amos, die zur Botschafterin für das „Rape, Abuse, Incest National Network“wurde, führte das künstlerische Statement sogar zu greifbaren Verbesserungen. Musiker als Täter jedoch kamen in diesen Geschichten nicht oder praktisch nicht vor – kein Hörer musste seine Präferenzen hinterfragen, keine Ikonen wurden gestürzt, keine Biographien neu geschrieben.
Allmählich jedoch kippt dieses Bild. Die polnische Band Decapitated steht ebenso unter Verdacht kollektiver Vergewaltigung eines weiblichen Fans [1] wie der Backstreet-Boys-Sänger Nick Carter [2]. Die Sängerin Alice Glass hat ihren ehemaligen Bandkollegen Ethan Kath von Crystal Castles der sexuellen Gewalt beschuldigt [3], der Marilyn-Manson-Bassist Twiggy Ramirez soll seine Freundin vergewaltigt haben [4]. Und über die Eskapaden des notorischen Dauersünders Chris Brown mag man schon fast keine Worte mehr verlieren. Ganz offensichtlich sind die USA längst nicht mehr das alleinige Zentrum der Skandale. In einem gemeinsamen Statement haben verschiedene schwedische Musikerinnen von ihren Erfahrungen berichtet, und auch wenn hierbei keine konkreten Namen genannt werden, sollen sich laut den Musikerinnen hinter ihrer Erklärung einige wichtige Persönlichkeiten verbergen. [5]
Freud‘sche Untiefen
Plötzlich stehen auch Songtexte wieder unter Beschuss. Zum ersten Mal wird die Thematik dabei nicht aus einer rein wertkonservativen Perspektive diskutiert. Ein genauerer Blick legt teilweise unfassbare Passagen offen. So stehen Vergewaltigungen in vielen Rap-Lyrics auf der Tagesordnung, sind weitaus mehr als nur Einzelfälle. Gleiches gilt für extreme Formen von Death-Metal und Grindcore, in deren Splatter-Welten eine Vergewaltigung fast schon wie ein Kavaliersdelikt anmutet. Sowohl Metal als auch Rap haben sich lange Zeit gewisse Freiheiten erkauft, indem sie die textlichen Exzesse als düstere Fantasien und als das Nachaußenkehren Freud‘scher Untiefen verteidigt haben, als Spiel mit dem Überschreiten von Grenzen. Diese Ansicht hat der Canibal-Corpse-Drummer Paul Marzurkiewicz kürzlich noch einmal bekräftigt, als er zu Protokoll gab, Frauen müssten schließlich wissen, auf was sie sich bei einem Death-Metal-Gig einließen: „Wir denken über solche Sachen eigentlich gar nicht nicht. Wir schreiben einfach nur unsere Songs. In manchen kommt eben ein wenig mehr Brutalität gegen Frauen vor. (…) Mir scheint, da überreagieren einige und machen viel mehr draus, als es eigentlich ist. Ich möchte einfach nur Death Metal spielen.“[6]
Natürlich löst Zensur rein gar nichts und natürlich machen Texte wie „She was so beautiful I had to kill her. Tied her up, and taped her mouth shut“die Mitglieder von Cannibal Corpse weniger zu potentiellen Vergewaltigern als zu schlechten Dichtern. Und dennoch ist das von Marzurkiewicz in glaubhafter Naivität vorgetragene Statement fast schon gespenstisch und ebenso weltfremd wie die Prahlereien des Rappers Rick Ross in dem Song „U.O.E.N.O.“, in dem er fantasiert, einer Bekanntschaft in einer Bar ein Rauschmittel in den Sekt zu kippen und sie anschließend zum willenlosen Sex in seine Wohnung mit zu schleppen. [7] Vielleicht auch deshalb schlugen gerade diese Aussagen höhere Wellen als die weitaus brutaleren Rape-Lyrics offensichtlicher „Bad Boys“. Denn es waren gerade nicht die abstoßenden Gewaltakte, die an #metoo am meisten schockieren, sondern vielmehr die Tragweite des Phänomens, die Alltäglichkeit des Grauens. Darüber im entspannten Flow zu rappen erscheint da, um es mal salopp auszudrücken, etwas daneben.
Nur eine Nummer?
Ganz eigene Fragen wirft das Beispiel des bereits seit Jahren unter dringendem Verdacht stehenden R Kelly‘s auf. Aktuellen Anschuldigungen zufolge betreibt der alternde RnB-Sänger ein Sekten-ähnliches Netzwerk, in dem er jungen Frauen gegen die Aussicht auf eine erfolgreiche Karriere in die Abhängigkeit zwingt. [8] Es ist nicht das erste Mal, das Kelly sich gegen Anklagen sexueller Nötigung und unmoralischen Verhaltens wehren muss. Bereits ganz zu Anfang seiner atemberaubend erfolgreichen Laufbahn ging er als 25-Jähriger eine Beziehung mit der über zehn Jahre jüngeren Aaliyah ein. Was genau hinter den Kulissen geschah, hat keiner der beiden jemals öffentlich gemacht, Fragen zu einer unrechtmäßigen Hochzeit bleiben bis heute unbeantwortet. Geblieben aber ist eine klingende Rechtfertigung dieser Phase. Während ihrer Beziehung produzierte Kelly das erste Aaliyah-Album, auf dem er ihr mit dem Titeltrack „Age ain‘t Nothing but a Number“eine offene Hymne auf die Liebe zwischen zwei sehr unterschiedlich alten Partnern auf den Leib schrieb. Gerade angesichts der über die Jahre zunehmend häufigeren Vorwürfe von Beziehungen zu minderjährigen Mädchen ist diese Form der Instrumentalisierung der Kunst äußerst bedenklich. Sie macht es zudem problematisch, den Song überhaupt noch getrennt von seiner Entstehungsgeschichte wahrzunehmen. Natürlich könnte man sich auf die Position zurückziehen, dass das Lied für sich stehe. Doch verschließt man damit nicht vor der dahinter stehenden Realität die Augen? Genau wie einem nun bei Louis CK so mancher Lacher im Hals stecken bleibt, so bewegen sich die Lippen nur noch mit Mühe zu den Lyrics von „Age Ain‘t Nothing but a Number“.
Instrumentale Kompositionen mögen auf den ersten Blick von diesen Problemen verschont bleiben, doch wäre das eine eher oberflächliche Sichtweise. Denn in der Musik ist die Frage der Integrität von ganz besonderer Bedeutung. Musiker mögen im Laufe ihrer Karriere in verschiedene Rollen schlüpfen, doch sie spielen letztendlich immer sich selbst. Das wurde alleine schon im Falle des House-Produzenten Ten Walls klar, der mit einer schwulenfeindlichen Facebook-Nachricht die Comunity gegen sich aufbrachte, der er seinen Aufstieg verdankte [9]. Von seiner verbalen Entgleisung hat sich seine Karriere bis heute nicht ganz erholt – und das, obwohl seine Musik ganz ohne Worte auskommt. Ganz anders die Situation in Hollywood. Man kann einen Tom-Cruise-Streifen auch dann noch goutieren, wenn man Scientology ablehnt, man muss auf die genialen Auftritte von Kevin Spacey in Filmen wie „Die üblichen Verdächtigen“oder „American Beauty“nicht wegen seines deplatzierten Verhaltens abseits des Sets verzichten. Als riesige Gemeinschaftsproduktionen, in denen sogar die großen Stars stets nur ein Rad im Getriebe sind, sind Filme nur dann fragwürdig, solange es die in ihnen verbreiteten Inhalte sind. Als weitaus persönlichere und intimere Kunstform kann sich die Musik nicht darauf zurückziehen. Es wird, ganz im Sinne Roman Herzogs, ein Ruck durch die Szene gehen müssen, es werden Fragen der Freiheit in der Kunst, der Trennung von Werk und Leben neu gestellt werden müssen. Die schmutzige Wahrheit ist bereits am Tageslicht – es gibt nun keinen Weg zurück mehr.
Zugleich erscheint es fraglich, ob die Verfehlungen eines Musikers seine Kompositionen automatisch diskreditieren. Es ist mehr als verständlich, dass sich viele Juden von der Musik Wagners weiterhin angegriffen fühlen, dass so mancher Schwuler nicht mehr zu den Hits von Ten Walls tanzen mag. Doch ist es eben auch eines der besonderen Merkmale dieser Kunstform, das sich in ihr gelegentlich eine Schönheit ausdrückt, die im völligen Widerspruch zur übrigen Persönlichkeit zu stehen scheint. Diese Schönheit bleibt auch dann bestehen, wenn die Hässlichkeit ihres Schöpfers offenbart wurde. Das belegen alleine schon die berühmten Songs der Mafia, in denen sich neben Temperament und Leidenschaft auch sehr viel Empfindsamkeit und Zärtlichkeit finden. Auch wenn ein Unterton des Unbehagens immer mitschwingt: Es sollte uns keine Angst bereiten, R Kelly zu gutem, partnerschaftlichen Sex im Schlafzimmer laufen zu lassen.
» In der Musik ist die Frage der Integrität von ganz besonderer Bedeutung. Musiker mögen im Laufe ihrer Karriere in verschiedene Rollen schlüpfen.
Doch sie spielen letztendlich immer sich selbst. «