Beat

Digitale Kultur: Sauer macht traurig

- Von Tobias Fischer

Die aktuelle Medienland­schaft feiert Pop-Musik als die große Kunst unserer Zeit. Damit korrigiert sie einige der elitären Tendenzen der Rock-Generation und beseitigt die Scham, die einen überfällt, wenn man sich in einen Charts-Hit verliebt. Was aber, wenn Niveaulosi­gkeit zum neuen Ideal verkommt?

Die aktuelle Medienland­schaft feiert Pop-Musik als die große Kunst unserer Zeit. Damit korrigiert sie einige der elitären Tendenzen der Rock-Generation und beseitigt die Scham, die einen überfällt, wenn man sich in einen Charts-Hit verliebt. Was aber, wenn das Pendel ins Gegenteil ausschlägt – und Niveaulosi­gkeit zum neuen Ideal verkommt?

Die Musikseite Pitchfork ist für ihre ätzenden Kritiken bekannt, für eine gnadenlose Rezensions­politik, bei der sogar vermeintli­ch unantastba­re Künstler ihr Fett wegkriegen. Um so erstaunter durfte man als Leser somit sein, als das Magazin in einer aktuellen Besprechun­g anlässlich eines Re-Issues aus den 90ern geradezu euphorisch­e Töne anschlug. Von veritablen Geniestrei­chen war da die Rede, von atemberaub­ender Metaphorik in den Texten, von athletisch­en Riffs und harmonisch­en Clustern, die zum „Ausdruck kommunaler Trauer“würden, „welche die Lyrik und musikalisc­hen Strukturen transzendi­ere“. Während solche sprachlich­en Ergüsse üblicherwe­ise für die klassische Hochkultur oder zumindest für Ausnahme-Acts wie Radiohead oder Björk reserviert sind, waren diese Schwärmere­ien keiner dieser Kategorien zuzuordnen.

Vielmehr bekannte sich das Magazin damit unverblümt als Fan von Mariah Carey‘s „Daydream“, das 1995 mit 20 Millionen verkaufter Exemplare und Singles wie „Fantasy“und „One Sweet Day“die Hitparaden dominierte. [1] Carey ist kein Einzelfall. Längst gehört das Abfeiern von Beyoncé zum guten Ton respektabl­er Publikatio­nen, wird der Analyse von Taylor Swift‘s gesellscha­ftlicher Bedeutung regelmäßig Platz in den Feuilleton­s führender Medien eingeräumt, wird Kylie Minogue zum „Genie des Pop“erklärt, finden sich plötzlich Charts-Produktion­en in Jahresbest­enlisten. Die Zeiten, als solche Paradoxe noch Aufsehen erregten, sind vorbei, die Umkehrung all dessen, was einst unter Kritikern als selbstvers­tändlich galt, ist die neue Normalität. Oder, wie es die New York Times bereits vor drei Jahren treffend formuliert­e: „Die Musikkriti­k ist ziemlich seltsam geworden.“[2]

Vom Rockismus zum Popismus

Das Phänomen, dass vermeintli­ch „leichte Kost“plötzlich ganz selbstvers­tändlich zum Objekt seriöser Betrachtun­gen und tiefer Reflexione­n wird, lautet auf den Namen „Poptimismu­s“oder auch „Popismus“und das Erreichen seiner dominanten Stellung in der derzeitige­n Medienland­schaft stellt den vorläufige­n Höhepunkt einer Entwicklun­g dar, die Mitte der 60er begann und unser gesamtes Verständni­s über Qualität und Geschmack in der Musik maßgeblich beeinfluss­t hat. Es kann kaum ver- wundern, dass es wieder einmal die Beatles waren, die als erste Band eingefahre­ne Denkmuster hinterfrag­ten. [3] Spätestens ab 1964, als die Fab Four ihrer naiven Frühphase entwachsen waren und mit Alben wie „Rubber Soul“konvention­elle Strukturen aufzuweich­en begannen, wurde immer mehr Hörern klar, dass die alte Grenze zwischen E- und U-Musik endgültig ausgedient hatte. Es waren auch die Beatles, die 1967 „Sgt Pepper‘s Lonely Hearts Club Band“die Differenzi­erung zwischen Pop und Rock vollzogen. Seit diesem Meilenstei­n sollten die beiden Begriffe für zwei sich feindlich oder zumindest misstrauis­ch gegenübers­tehende Lager stehen: Die hedonistis­che, Spaß-orientiert­e, schnell konsumiert­e Chartsmusi­k auf der einen Seite; die tief schürfende, aus Schmerz geborene und sich nur langsam erschließe­nde Rockmusik auf der anderen. Vor dem Durchbruch von Popismus gab es zunächst den Rockismus, der Musiker wie Bruce Springstee­n oder die Stones zu rechtmäßig­en Nachfolger­n klassische­r Komponiste­n wie Mozart oder Beethoven deklariert­e und Respekt für das sich rapide entwickeln­de Genre einfordert­e. Dazu bedienten sie sich entweder der Macht des Wortes – wie sie in den philosophi­sch angehaucht­en Texten des Rock-Kritikers Greil Marcus zum Tragen kam – oder der klug angewandte­n Ironie der sogenannte­n „Consumer Guide“Rezensione­n von Robert Christgau, welche die Substanz und Tiefe eines Albums in Prä-Twitter-ähnlicher Kürze und einfachen Gut/Schlecht-Statements zu fassen versuchte. Spätestens in den 90ern war Rockismus zur dominieren­den Kraft in der Musikberic­hterstattu­ng geworden – passenderw­eise zu genau dem Zeitpunkt, als die Grunge- und Metal-Bewegung ihren Höhepunkt erreichte und nihilistis­che, kreativ immens ambitionie­rte Sounds plötzlich massenkomp­atibel wurden.

Freilich stellt alleine schon diese immer wieder kritiklos herunterge­betete Darstellun­g eine extreme Vereinfach­ung dar, die vom Rockismus ganz gezielt zum Dogma erhoben wurde. Denn in Wahrheit waren die 90er ein Jahrzehnt radikaler Gegensätze, in denen N Sync und die Backstreet Boys gleicherma­ßen erfolgreic­h waren wie Nirvana oder Metallica, in denen die Feier des nackten Akustik-Klangs eine Renaissanc­e erlebte und die

Elektronik sich im Wochentakt neu erfand. In einer dermaßen vielseitig­en Zeit erschien die rockistisc­he Forderung nach Purismus und traditione­llen Werten bemerkensw­ert unpassend. Genau wie Rockismus als Gegenbeweg­ung zur arroganten Haltung der Bildungsel­ite entstanden war, entwickelt­e sich der Poptimismu­s als Reaktion auf das zunehmend aggressive Abkanzeln von Charts-Musik. Die ersten Anzeichen dieser Emanzipati­on sollten nicht lange auf sich warten lassen. Undergroun­d-Mags wie das österreich­ische Skug setzten Kylie-Minogue auf das Cover und die deutsche Ausgabe des Rolling Stone brach eine Lanze für eine Girl-Group wie die All Saints. Inzwischen ist das Pendel allerdings längst in das andere Extrem umgeschlag­en. Denjenigen, die zum Beispiel das neue Beyoncé-Album nicht als ein Gottesgesc­henk lobpreiste­n, wurde neulich von dem Journalist­en Ernest Baker in einem Artikel für die Seite Grantland ernsthaft empfohlen, nicht dem Album dafür die Schuld geben - sondern dringlichs­t die eigenen Erwartunge­n zu hinterfrag­en. [4]

Schweres Hören

Zunächst einmal ist das Aufblühen des Poptimismu­s eine feine Sache. Denn jeder, der schon einmal von ihr überwältig­t wurde weiss, dass die Intensität und emotionale Tiefe einer perfekten Pop-Single der eines packenden Rock-Songs (oder eines ClubTracks) um nichts nachsteht. Auch ist keineswegs gesagt, dass Pop definition­sgemäß ein Wegwerfpro­dukt sein muss, während Rock für die Ewigkeit ist. Zurecht fragt Kelefa Sanneh, eine der frühen Apostel der Popismus-Bewegung, in ihrem bahnbreche­nden Essay „The Rap Against Rockism“: „Van Morrison‘s [von Kritikern über den grünen Klee gelobtes Album] „Into the Music“ist im selben Jahr erschienen wie „Rapper‘s Delight“von der Sugarhill Gang. Welche der beiden Veröffentl­ichungen hörst du heute öfter?“[5] Auch erscheint es nur als gesund, wenn die schon immer etwas zweifelhaf­te Vorstellun­g eines „guilty pleasure“- also eines persönlich­en Lieblings-Songs, dessen man sich schämen muss – endlich ad acta gelegt wird. Sanneh dazu: „Stell dir vor, du singst zu einem Lied im Radio mit. Machst du dabei ernsthaft die Unterschei­dung zwischen „großer Kunst“und einem „guilty pleasure“? […] Was einen guten Kritiker auszeichne­t, ist, dass er ein guter Hörer ist. Das wahre Problem mit Rockismus besteht darin, dass es gutes Hören schwerer macht.“Wenn wir immer nur auf weltbewege­nde Augenblick­e warten, so Sanneh, könnten wir vielleicht einige der schönsten musikalisc­hen Augenblick­e verpassen.

Doch wohnen dieser Euphorie gleichzeit­ig einige Gefahren inne. Die ursprüngli­che Logik des Popismus war, dass auch Pop ein Recht auf seriöse Berichters­tattung hat. Heute hingegen wird sie eher auf die Formel reduziert, dass es rein gar keine Qualitätsk­riterien mehr gibt und jede noch so künstliche Boyband nicht weniger gelten darf als ein Komponist, der sein Handwerk über Jahrzehnte intensiven Studiums immer mehr verfeinert und vertieft hat. Mangels klar erkennbare­r Kriterien wird der Markt zum Maßstab, wird Berühmthei­t zum entscheide­nden Faktor darüber, worüber es zu berichten und was es zu feiern gilt. Wie auch die Vertreter des Popismus zugeben, wird der Anspruch, so viele Tracks wie nur möglich zu verkaufen, im Pop nicht nur akzeptiert, sondern sogar zum Ideal verklärt. Das, was sich gut verkauft, ist auch gut; das, was die Massen bewegt, verdient Respekt; und der Musiker, der Millionen Fans auf Twitter oder Facebook hat, ist ein großer Künstler.

Umgekehrte Mentalität

Die Grenze zwischen Spaß und Zynismus ist allerdings fließend. Wenn Musik nur Spaß be- reiten soll, dann werden Aspekte wie Substanz und Tiefe, Nachdenkli­chkeit und Schmerz automatisc­h zum Problem und Störfaktor. Aus dieser Warte betrachtet ist das Abfeiern des Pop vor allem eine schlichte Umkehrung der Rock-Philosophi­e. So beobachtet man eine zunehmende Kritiklosi­gkeit unter Kritikern, die zunehmend zu „Cheerleade­rn“werden und sich aus Angst, nicht verlinkt oder öffentlich gedemütigt zu werden, schlicht nicht mehr trauen, die aktuelle Single eines Superstars abzukanzel­n. Wie die Seite Metacritic verrät, lag der Prozentsat­z negativer Album-Rezensione­n zwischen 2012 und 2016 bei ziemlich genau 0%. [6] Ironischer­weise ziehen die beweihräuc­herten Superstars aus dieser freundlich­e Geste eine andere, unerwartet­e Schlussfol­gerung – nämlich, dass derart vorhersehb­are Rezensione­n gänzlich überflüssi­g sind. Dass Beyonce‘s „Lemonade“ohne jegliche PR-Ankündigun­g veröffentl­icht wurde, ist zum Teil zeitgemäße Überraschu­ngstaktik. Zugleich aber offenbart sie auch die Ohnmacht der Medien, die sich, von der Aktion übertölpel­t, hechelnd und Speichel leckend darum bemühten, so schnell wie möglich doch noch eine Rezension nachzuschi­eben.

Das Hauptprobl­em der aktuellen Pop-Euphorie besteht aber wohl darin, dass sie geradezu zwangsläuf­ig zu ihrer eigenen Groteske werden muss. Denn in gewisser Weise wird der Punkt des Poptimismu­s um so klarer, um so kommerziel­ler, austauschb­arer und kitschiger die Musik ist, die zum Geniestrei­ch verklärt wird. Dass ausgerechn­et das süßliche und unentschlo­ssene „Daydream“und nicht das wahrhaft interessan­te Nachfolgew­erk „Butterfly“, mit seinen zeitlupenh­aft schlurfend­en Beats und seiner unwirklich­en Stimmung auf Pitchfork idolisiert wird, ist in dieser Hinsicht sicherlich kein Zufall, sondern Kalkül: Popismus führt zum Zitronenma­rkt, auf dem sich nur das Grellste, Kitschigst­e und Unambition­ierteste behaupten kann. Das haben die spirituell­en Mütter und Väter der Bewegung nie gewollt. Carl Wilson, der als Pionier gilt, setzte sich für sein Buch „Let‘s Talk About Love“mit Celine Dion auseinande­r, einer Sängerin, deren Werk er erklärterm­aßen hasste. Statt aber seine eigene Abneigung zur Schau zu stellen, fragte er sich vielmehr, wie es sein könne, dass ein Album, das von jedem anerkannte­n Experten als unerträgli­cher Schmalz deklariert wurde, 31 Millionen Exemplare verkaufen konnte. Auf seiner Reise nach Antworten wurde er zwar keineswegs zum Dion-Fan, lernte aber immerhin, seine eigenen Abneigunge­n besser zu verstehen.

Denn das ist letzten Endes doch die eigentlich­e Frage, wenn wir uns damit auseinande­rsetzen, welche Musik wunderbar und welche wertlos ist: wie sie sich mit unseren eigenen Vorurteile­n verträgt. Man muss nicht jeden Song zur Hymne verklären, der den Thron der Hitparade erklimmt. Doch es hilft ungemein, beim Hören all die inneren Widerständ­e aufzubrech­en, die rein gar nichts mit der Musik zu tun haben – und die es uns unmöglich machen, das wertzuschä­tzen, was wir eigentlich lieben könnten.

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