Reise durch das magische Tor
Die Musik von Peter Kersten alias Lawrence geht tiefer als Deep House, ist atmosphärischer als Ambient. Auf seinem neuen Album „Illusion“kommt er seiner eigenen Vorstellung von Club-Musik näher als je zuvor – dabei weiß er immer noch nicht ganz genau, wie er das eigentlich macht.
Man ist es als Journalist längst gewohnt, dass Musiker ihre Tätigkeit gerne verklären. Wer sich nicht vollständig von der Gesellschaft abnabelt, die ganze Nacht hindurch seine Sounds poliert und für seine Kompositionen leidet, so meinen viele von ihnen, kann es mit seiner Kunst nicht wirklich ernst nehmen. Peter Kersten hingegen will sich möglichst wenig Regeln auferlegen. Zufälle seien etwas ganz Wunderbares und überhaupt lasse er sich gerne ablenken – wenn es denn für etwas Angenehmes geschehe: „Manchmal bin ich ganz tief drin in einer Produktion. Und dann kommen Freunde vorbei und schlagen mir vor, zusammen etwas zu essen oder ins Kino zu gehen. Ich liebe das.“Und dann sagt er einen Satz, der viele Kollegen schockieren würde: „Es gibt wichtigere Dinge im Leben als Musik zu produzieren.“
Wer das neue Album von Kersten unter seinem Lawrence-Pseudonym hört, kann sich gar nicht vorstellen, dass er das wirklich so meint. Denn schon wie die Vorgängerwerke ist „Illusion“so tief wie ein wunderschöner Traum, von poetischer Feinheit und voller subtiler Schattierungen, eine Scheibe, auf der jede Note, jede Fläche, jeder Beat eine Bedeutung zu haben scheint. Freilich: Die Welt wird „Illusion“nicht verändern. In den sozialen Medien putschen sich die Fans nicht bis zur Besinnungslosigkeit auf, in den Foren finden keine Flame-Wars statt. Und es stehen auch keine Schlangen vor den Plattenläden - nicht einmal vor „Smallville“, seinem eigenen, den er zusammen mit Julius Steinhoff und Just von Ahlefeld gegründet hat. Und doch wird es wieder eine kleine Gruppe von Hörern geben, deren Puls sich angesichts der Ankündigung einer neuen Lawrence-Scheibe dezent beschleunigt. Die sich vor dem ersten Durchlauf auf dem Plattenteller ein Glas Wein einschenken, das Handy auf Flugmodus stellen und die Augen schließen, um sich wieder in fremdartige Welten, fantastische Filme und verführerische Landschaften entführen zu lassen. Für die Kino, Essen und Freunde für einen kurzen Augenblick schlicht keine Rolle spielen.
Die Ursprünge des Rituals
Es ist ein Ritual, dem sich geneigte Hörer seit dem Jahr 2002 hingeben können. In diesem Jahr nämlich erscheint die erste Lawrence-Platte, die mit ihrer Drone-House-Ästhetik in seiner Diskographie eine Sonderstellung einnimmt. Erst kurz zuvor hatte Kersten seinen ersten eigenen Track überhaupt veröffentlicht. Der war aus einer seltsamen Kombination von Inspirationen und Ideen heraus entstanden, erinnert er sich: „Das Stück hat überhaupt keinen Sinn gemacht. Es war eher eine Art schizophrene Kollage, ein kleines Bisschen von Allem.“Tatsächlich hört man aus dem sechsminütigen „Deadline“sein Interesse an dem Schnippselhaften von Clicks n Cuts genau so heraus wie an zeitlupenhaftem House. Aufsteigend aus einem benebelten Anfang scheint sich die Musik auf den Flügeln cinematischer Streicher zu etwas ganz Großem auf zu schwingen – nur um sich dann in einer Endlosschleife sanft um sich selbst zu drehen, bis jedes Gefühl für Zeit aussetzt. Es klingt wie eine unwahrscheinliche Fusion, doch habe er in seinen DJ-Sets im Hamburger Golden-Pudel-Club ziemlich genau das Selbe aufgelegt, so Kersten: einen buntes Pottpouri aus Herbert, Theo Parrish und SND. Ein kleines Bisschen von Allem halt.
Es mag manche überraschen, dass der atmosphärische, zu langen Kopfhörer-Trips auf dem Sofa einladende Lawrence-Sound seine Wurzeln im Hamburger Untergrund hat. Wer aber genau hinhört, erkennt schon bald, was Kersten in unserem Interview offen ausspricht: „Ich hatte nie eine sehr enge Beziehung zu Technologie und habe auch über die Jahre nur wenig technisches Wissen über Produktion gesammelt. Für mich war vielmehr der Club der eigentliche Ausgangspunkt und auch die Haupt-Referenz für meine Musik.“Nicht nur der Pudel, sondern auch das legendäre Front spielen dabei eine essenzielle Rolle. In letzterem legt Resident Boris Dlugosch auf, eine oftmals verkannte zentrale Figur der Hamburger Szene, der über viele Zwischenstationen den selben Weg zum Deep House findet, den auch Kersten prägen wird.
Für Lawrence ist Dlugosch sein größter Einfluss schlechthin. Und so wird auch er seine Berufung zunächst als DJ sehen. Wobei die Grenzen zwischen Plattenteller und Produktion verschwimmen. So fühlt sich sein „Timeless“-Mix für Sven Väth’s Cocoon-Label fast schon wie ein Künstleralbum an und liefern ihm die Performances in den unterschiedlichsten Clubs der Welt immer wieder neue Ideen. Auch gibt es neben der offiziellen Album-Diskographie einen zweiten Strom an Veröffentlichungen: Einzelne Tracks für Compilations oder 12inches, die eine andere, zugleich funktionalere und deepere Seite zeigen. Man kann sich durch diese Inseln aus Klang hindurchhören, als seien sie unsichtbar miteinander verbunden, ganz so, als bildeten sie zusammen ein virtuell-telepathisches DJ-Set.
Deutliche Referenzen
Während die angesprochene Referenz zum Club auf manchen vergangenen Lawrence-Alben eher in den Hintergrund rückte, erkennt man den Dancefloor-Bezug auf „Illusion“so deutlich wie schon lange nicht mehr. Der Opener „Crystal“klingt wie ein entspanntes Jeff-Mills-Outtake, „Transitions“beschwört die Magie von Scifi-getränktem Electro herauf, das zentrale „Flaunting High“geht so gradlinig nach vorne wie schon lange nicht mehr bei Kersten. Geplant ist davon wie immer so gut wie nichts. Am meisten Spaß mache es vielmehr, wenn man ab und zu die Kontrolle verliere: „Ich kann meinen Prozess gar nicht genau beschreiben. Für mich ist die Musikproduktion ein ziemlich unstrukturiertes Herumspielen mit Klängen und Beats, mit Instrumenten und Maschinen. Es spielt eigentlich überhaupt keine Rolle, ob du dabei mit einer Kickdrum anfängst oder Aufnahmen sampelst, die du mit deiner Band gemacht hast.“Er lacht: „Was alle meinen Stücke gemeinsam haben ist, dass sie nie mit etwas Seriösem anfangen. Es braucht eine Weile, bis sich etwas ergibt. Irgendwann aber habe ich dann einen Loop oder ein Cluster aus Sounds, die mich packen. Dann öffnet sich ein magisches Tor – und die Reise beginnt.“
Außenstehende meinen oftmals, dass Kersten seinen Sound seit seinem Debüt im Wesentlichen nur zunehmend verfeinere. Tatsächlich sind die Unterschiede dezent. Trotzdem hört man aus jedem Album seine Leidenschaft dafür heraus, individuelle, einzigartige Welten aus Klängen zu erschaffen. Dafür greift er auf eine inzwischen recht ansehnliche Sammlung an Instrumenten zurück, darunter ein Vibraphon, eine Steel Drum und chinesische Flöten. Es ist eine ganz eigene Vorstellung von „Sound Design“, die sich hier ausdrückt und sie macht sich bezahlt. So reicht seine Album-Palette von dem zupackend-spacigen „The Absence of Blight“(2003), auf dem man gelegentlich die kosmische Berliner Schule heraus zu hören meint, über das griffige „The Night will last Forever“(2005) bis hin zu dem wundersam-untanzbaren „Until Then, Goodbye“(2009) und den „Alien Funk“(Zitat DJ Koze) von „Films & Windows“(2013). Kersten hat mehrere Jahre in Berlin und New York die tolle Mathew-Gallery betrieben und wie bei einem Maler erkennt man in seiner Musik das Bestreben, Kontraste miteinander zu versöhnen, Farben kunstvoll übereinander zu schichten und abstrakte und konkrete Elemente gegenüber zu stellen. Und doch ist jedes Gemälde absolut einzigartig und so unwiederholbar wie ein DJ-Set, dessen letzte Töne langsam in der Auslaufrille der Nacht verebben.
Ist also alles nur eine Illusion? Vielleicht. Und manchmal ist es sicherlich besser, sich aus der inneren Welt dieser Scheibe los zu reißen und einfach mal ein Bierchen trinken zu gehen oder sich die Nacht im Club um die Ohren zu schlagen. Es mag tatsächlich wichtigere Dinge im Leben geben. Manchmal aber ist diese schöne Illusion genau das, was man zum Glücklichsein braucht.