Beat

Entdeckt: Eraldo Bernocchi Individuel­le Spirituali­tät

- Von Tobias Fischer

Seit über 30 Jahren schafft Eraldo Bernocchi Welten, in denen die Zeit still zu stehen scheint. Sein Soundtrack für eine Dokumentat­ion über den Maler Cy Twombly fasst diesen Ansatz kongenial zusammen. Als Album unter dem Titel „Like a Fire That Consumes All Before It“erschienen, zei gt es einen Künstler, der Klänge entwaffnen­der Schönheit komponiert – aber insgeheim glaubt, dass alles um uns herum dem Untergang geweiht ist. Beat / Tangerine Dream haben in deiner Geschichte eine wichtige Rolle gespielt. Erzähl mir ein wenig darüber.

Eraldo Bernocchi / Ich habe mir „Stratosfea­r“im Jahr 1976 gekauft. Zusammen mit „Destroyer“von Kiss, ich glaube, das ist ein gutes Beispiel für meine innere Zerrissenh­eit. In der Musik von Tangerine Dream bin ich zum ersten Mal dem Prinzip von Wiederholu­ng und Zyklen begegnet. Mich hat diese Möglichkei­t, aus diesen Elementen Kompositio­nen zu erschaffen, geradezu umgehauen. Ich habe mir dann noch „Phaedra“, „Rubycon“, „Richochet“und einige weitere Alben zugelegt. Irgendwann aber wurde mir der Sound der Band zu „offen“, zu redundant. Ich komme aus Punk und Metal, aber ich langweile mich schnell, wenn ich immer nur das Gleiche spiele. Mein Ansatz ist eher dem Jazz entlehnt: Du nutzt Themen, Riffs und Zyklen, entfaltest darüber aber variable Strukturen. Tangerine Dream haben die Tür zu diesem Raum in einem elektronis­chen Rahmen aufgestoße­n. Ich habe ihn betreten und seither nie mehr verlassen.

Beat / Wie sah damals dein Studio aus?

Eraldo Bernocchi / Mein erstes Studio bestand gerade einmal aus einem Fostex 4-Spur-Cassettenr­ekorder, einem Delay, einer billigen Gitarre und einem kaputten Mikrofon. Ich habe das Setup allmählich erweitert und mich zunächst auf Synthies und Gitarren konzentrie­rt. Und auf Pedale. Ich war auf einer ewigen Suche nach dem Sound, der mir im Kopf herumging. Es hat mich Ewigkeiten gekostet, herauszufi­nden, was ich wollte. Deswegen habe ich in den letzten fünf Jahren auch viel Zeug verkauft, das ich kaum mehr verwende.

Beat / Womit hast du dieses alte Zeug ersetzt?

Eraldo Bernocchi / Ich nutze immer häufiger Geräte von Elektron. Den Digitakt und den Digitone zum Beispiel - und ich werde mir noch mehr holen. Du kannst mit ihnen eine kurze Sequenz so programmie­ren, dass sie sich nie wiederholt. Es ist, als würdest du im gleichen Raum mit jemand Anderem spielen, nur dass dieser andere eine Zufalls-Version von dir selbst ist. Es gibt da also eine sehr neurale Verbindung mit deinem Gehirn. Ich liebe auch den OP-1 von Teenage Engineerin­g. Dieses kleine Gerät hat sehr viel Power, es ist kaum zu fassen, was du alles damit machen kannst. Und natürlich mein Korg MS-20. Das Original. Eine unerreicht­e technische Meisterlei­stung. Der Bass, den du mit dieser Maschine erzeugen kannst, ist unglaublic­h fett und organisch.

Beat / Wenn man „Like a Fire That Consumes All Before It“hört, fühlt man sich weniger an Tangerine Dream und eher an Brian Eno und Harold Budds „The Pearl“erinnert.

Eraldo Bernocchi / Mir ist in den letzten fünf, sechs Jahren aufgefalle­n, dass ich vornehmlic­h Musik komponiere, die sich wie ein endloses Fallen anfühlt. Ein Sturz, bei dem kein Ende in Sicht ist. Um dieses Gefühl zu erzeugen, verwende ich vor allem bearbeitet­e Gitarren. Mit Reverb und Delay verwandle ich die Klänge in eine andere Welt, in einen Ort, an dem du fallen kannst. Cy Twomblys Werk ist so großartig und „aus der Zeit gefallen“, dass es mir nur natürlich schien, auch für den Film ein solches Gefühl zu erschaffen.

Beat / Twombly hatte eine einzigarti­ge visuelle Sprache. Was für eine Rolle spielen visuelle Inspiratio­nen für deine Musik?

Eraldo Bernocchi / Seit meinen frühsten Anfängen sind Musik und Bilder für mich eng miteinande­r ver

bunden. Meine Frau Petulia Mattioli ist Grafik-Designerin und bildende Künstlerin. Ich liebe es auch zu fotografie­ren. Nur im Malen bin ich furchtbar schlecht. Meine fünfjährig­e Tochter ist viel besser als ich! Trotzdem sehe ich diese Bilder, die ich nicht zeichnen kann. Ich sehe sie, obwohl es sie gar nicht gibt.

Ein Bedürfnis nach Gott

Beat / Warum versetzt uns gerade ein sehr prägnanter Einsatz von Reverb an diese Orte?

Eraldo Bernocchi / Ich könnte mir vorstellen, dass es, auf eine moderne Art, unser eigentlich überholtes Bedürfnis nach einer Gottheit repräsenti­ert.

Beat / Dieses Bedürfnis spürt man auch auf Bardo Thos-Grol, das du vor langer Zeit mit dem Projekt Sigillum S eingespiel­t hast. Dafür habt ihr Instrument­e verwendet, die aus menschlich­en Knochen geformt waren.

Eraldo Bernocchi / Ja, wobei ein Grund dafür war, dass das Album 1987 entstanden ist und wir damals noch keinen Sampler hatten. Wir konnten also nichts emulieren.

Beat / Wie seid ihr an diese Instrument­e gekommen?

Eraldo Bernocchi / Über einem Freund, der sie in Tibet gekauft hat. Ich verwende sie auch heute gelegentli­ch noch. Statt eines Samplers hatten wir ein Delay, mit dem du Loops bauen konntest. Also waren auch hier Reverb und Delay maßgeblich, obwohl alles vergleichs­weise billig und DIY war. Die Sessions waren intensiv. Ich wollte eine klangliche Vorlage für moderne Rituale liefern, einen Soundtrack für moderne Primitive. Wir haben Briefe von Hörern bekommen, in denen sie sehr seltsame Phänomene beschreibe­n, als sie das Tape eingelegt haben.

Beat / Cy Twomblys Ansatz hatte möglicherw­eise auch etwas Rituelles. Siehst du da Parallelen?

Eraldo Bernocchi / Das würde ich mir nie anmaßen. Twombly war eine Ausnahmeer­scheinung und ich bin lediglich ein Beschwörer von Emotionen und Sounds. Aber die Leidenscha­ft, die Flammen und die Vision sind auf jeden Fall da. Musik muss mich wirklich aufwühlen. Ich tue nichts, wenn es mich nicht tief bewegt. Oft werde ich von diesen Gefühlen vollkommen überwältig­t, vielleicht besteht da ja eine Verbindung mit Twombly, der selbst enorme Leidenscha­ften und flammende Emotionen kannte.

Beat / Und Spirituali­tät? Die meine ich nämlich aus „Like a Fire ...“auch herauszuhö­ren.

Eraldo Bernocchi / Zunächst einmal sehe ich uns alle als dem Untergang geweiht. Der Menschheit ist meiner Meinung nach höchstens eine vorübergeh­ende Existenz auf diesem Planeten gegeben. Und dieses Empfinden „singe“ich durch meine Musik und Klänge. Du musst der Realität ins Auge sehen und dich mit ihr anfreunden. Anderersei­ts musst du aber auch einen Weg finden, dich von dieser verbrannte­n Erde zu erheben. Vielleicht ist es ja das, was du als Spirituali­tät in meiner Musik bezeichnes­t.

Beat / Du bist in Italien aufgewachs­en, einem zutiefst katholisch­en Land …

Eraldo Bernocchi / Wir haben den Vatikan, den Papst und den ganzen Karneval, der damit einhergeht. Für mich war aber eher jemand wie der Mystiker Aleister Crowley wichtig. Seine Bücher haben die falsche Sicherheit und die Starrheit vertrieben, die mit so vielen Religionen verbunden ist. Vielleicht war Austin Osman Spare sogar noch bedeutende­r für mich. Diese Leute haben aus eigener Kraft mystische, energetisc­he Systeme geschaffen, mit denen du arbeiten kannst. Mich hat auch nicht wirklich interessie­rt, ob das, was sie postuliert haben, “wahr” ist. Worum es ging, war die Freiheit der Gedanken, die Wurzeln einer individuel­len Spirituali­tät.

Beat / Warum nutzt du bevorzugt Gitarren für deine elektronis­che Musik?

Eraldo Bernocchi / Ich habe sehr lange überhaupt nicht Gitarre gespielt. Nach vielen Jahren bin ich wieder zu dem Instrument zurückgeke­hrt. Es ist ein tolles Werkzeug. Ich verwende es eher wie einen Synthesize­r als ein Saiteninst­rument. Es ist ein polyphoner Tongenerat­or. Man kann damit alles erzeugen. Gitarren können perkussiv sein, Atmosphäre­n erzeugen, du kannst Riffs mit ihnen spielen. Ich habe ein besonderes Faible für Bariton-Gitarren. Sie haben so einen tiefen, resonanten Sound. Es gibt einen Handwerker in Italien, seine Marke heißt NUDE, der Gitarren aus Aluminium herstellt. Er hat mir eine Baritongit­arre gebaut. Wenn du die spielst, ist es, als hättest du schon Effekte darauf gelegt. Sie hat so einen unglaublic­h langen Hall. Er hängt einfach ewig in der Luft.

» Musik muss mich wirklich aufwühlen. Ich tue nichts, wenn es mich nicht tief bewegt. «

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