Digitale Kultur: Remastering
Immer mehr klassische Alben werden heute als Remaster neu veröffentlicht, manchmal bereits zum wiederholten Mal. Doch stellen sie wirklich einen Gewinn an Klangqualität dar? Während Befürworter klare Optimierungen erkennen, kritisieren Skeptiker den Verlust an Wärme und Dynamik. Die Situation ist verwirrend – doch hat sie auch ihre Vorzüge.
Immer mehr klassische Alben werden heute als Remaster neu veröffentlicht, manchmal bereits zum wiederholten Mal. Doch stellen sie wirklich einen Gewinn an Klangqualität dar? Während Befürworter klare Optimierungen erkennen, kritisieren Skeptiker den Verlust an Wärme und Dynamik. Die Situation ist verwirrend – doch hat sie auch ihre Vorzüge.
Selten waren die 60er und 70er präsenter als gerade jetzt. Die Jahre 2009 und 2011 beispielsweise wurden eindrucksvoll von vollständigen Werks-Ausgaben der Beatles und Pink Floyd dominiert. Die betagten Herren ließen die aktuellen Charts-Stars alt aussehen – ganze 30 Millionen mal verkaufte sich die aufwendig gestaltete Beatles-Box. Dafür gab es einen Grund: das Remastering, welches den klassischen Werken einen zeitgemäßen, magischen Schimmer verleihen sollte. Bei Pink Floyd hatte die EMI die Aufgabe an James Guthrie übertragen, der bereits in ihrer Hochphase mit Waters, Gilmour und Co gearbeitet hatte. Bei den Beatles-Ausgaben hatte ein formidabel besetztes, siebenköpfiges Team um den Engineer Allan Rouse sogar ganze vier Jahre in den Abbey-Road-Studios verbracht, war tief in die Studio-Historie der größten Pop-Band aller Zeiten eingetaucht. Dennoch war die Resonanz gespalten. Während die Optimierung bei den Beatles offenkundig war, handelte es sich bei der aktuellen Pink-Floyd-Edition lediglich um eine weitere von unzähligen vorangegangenen.
Schon die von der Legende Doug Sax präsentierte 1994er-Ausgabe galt gemeinhin als „definitiv“. Die leidenschaftlich geführten Diskussionen um teilweise mikroskopisch kleine Differenzen belegen: Remastering, ein in den 90ern entwickeltes Verfahren zur klanglichen Optimierung antiquierter Analog-Aufnahmen, ist inzwischen zu einem eigenständigen Genre herangereift, mit seinen eigenen Gesetzen, Philosophien und Hör-Ritualen. Faszinierend oder Fetisch? Für so manche ist der Gipfel der Absurdität längst erreicht.
Atemberaubend viele Projekte
Der Stellenwert von Remastering lässt sich alleine an der atemberaubenden Zahl von Projekten ablesen, die sich dem interessierten Konsumenten anbieten. Weil Lizenzen immer wieder an mehrere Labels vergeben werden, buhlen teilweise verschiedenen Remaster des selben Albums gleichzeitig um die Gunst der Hörer. Ein gutes Beispiel ist das Oeuvre der Elektronik-Pioniere Tangerine Dream. Virgin Records begann bereits Mitte der 80er, LPs ihrer wohl berühmtesten Phase zu digitalisieren. 1995 erschien die von Simon Heyworth betreute „Definitive Edition“, die seitdem immer wieder neu verpackt wurde – zuletzt in zwei kostengünstigen Samplern. Um diese Achse ranken sich verschiedene Kleinstauflagen, darunter einige Japan-Ausgaben, mit jeweils eigenem Klangbild. Weil Tangerine Dream aber sowohl vor, als auch nach ihrer Virgin-Ära bei anderen Labels unter Vertrag stand, wurde die Angelegenheit für Komplettisten zunehmend unübersichtlicher. Die vier experimentellen Frühwerke „Electronic Meditation“, „Alpha Centauri“, „Zeit“und „Atem“erschienen erstmals bei der inzwischen eingegangenen Jive/Electro auf CD, mit einem umstrittenen, ultra-minimalistischen Artwork. Nur zwei Jahre später versuchte sich das Relativity-Label von Produzent Barry Kobrin an einer klanglichen Aufarbeitung des Materials. Danach blieb die Front zehn Jahre lang ruhig. 1999 sicherte sich das aufstrebende Imperium um die Sanctuary-Group die Rechte und veröffentlichte unter dem Sublabel Castle Music einen Remaster aller vier LPs. Eine zweite Remaster-Welle des
selben Rechteinhabers folgte ein weiteres Jahrzehnt später, diesmal unter Mitwirkung der angesehenen Experten Wouter Bessels (Premastering) und Ben Wiseman (Mastering). Nahezu alle CDs dieser Edition enthielten spannendes Bonus-Material in der Form von raren Sampler-Beiträgen oder bisher unveröffentlichten Konzertmitschnitten. Und dennoch erschien bereits kurz darauf ein wunderbar gestaltetes Box-Set mit komplett neuem Remastering und im liebevoll gestalteten Original-LP-Design, diesmal allerdings ohne das Bonus-Material.
Welches Mastering ist nun das Beste? Für eher peripher Interessierte wird die Angelegenheit zunehmend schwieriger und irritierender. Andere hingegen haben Blut geleckt. Denn jede der genannten Ausgaben weist ein gänzlich eigenes Klangprofil auf, wodurch die Suche nach dem Heiligen Gral Indiana-Jones’sche Dimensionen annimmt. Bei den Jive-Electro-CDs handelt es sich weitestgehend um „flache“, also unbearbeitete Übertragungen der Vinyl-Mixe in die digitale Welt. Ihr Sound ist entsprechend räumlich, dynamisch und druckvoll, aber zugleich ein wenig muffig und dumpf, wie man es von einer unangepassten 1:1-LP-Übertragung erwarten würde. Bei den Castle-Remastern handelt es sich um den ersten ernsthaften Versuch, die Charakteristiken des CD-Formats aus zu nutzen, ein seinerzeit revolutionärer Ansatz, der schon bald zu umfangreichen Remastering-Projekten bei den Majors führen sollte. Ebenso wie die Relativity-Ausgaben tendiert das Ergebnis aber ein wenig zu sehr ins Klinische, Kalte und geradezu Industrielle. Die Esoteric-Mixe aus 2012 merzen viele dieser Eigenschaften wieder aus, klingen weicher und runder und dennoch laut. Doch geht ihnen der Charme der Vinyl-Ausgaben weitestgehend ab, wohl auch deswegen, weil sie offenbar nicht von den Original-Mastertapes stammen, sondern lediglich klanglich bearbeitete Klone früherer CDs sind. Erst die 2018er-Ausgabe kehrt zu dem Ursprungs-Sound zurück, unter anderem mit einem deutlich hörbaren Grundrauschen. Damit schließt sich der Kreis, freilich nicht ganz ohne einen Hauch von Ironie: Dass die derzeit aktuelle und möglicherweise beste Ausgabe letzten Endes wieder so klingt, wie die ursprüngliche LP aus den frühen 70ern, hätten sich die fortschrittsverliebten ersten Remaster-Meister sicherlich nicht erträumt.
Fortschritt und Hörgewohnheiten
In diesen unterschiedlichen Remaster-Wellen spiegelt sich zum einen der Fortschritt von Klangbearbeitungs-Applikationen, die in immer tiefere Sound-Schichten einzudringen und immer feinere Artefakte zu isolieren und entfernen vermögen.
Zum anderen aber reflektieren sie unsere sich ständig wandelnden Hör-Gewohnheiten und Ideale, versuchen immer wieder, die Musik in die Gegenwart zu transportieren. Welchen Remaster man vorzieht, ist somit niemals nur eine Frage, die sich mit DR-Diagrammen oder technischem Fachvokabular klären lässt, sondern bei der der eigene Geschmack eine zentrale Rolle spielt. Ob der 1994er oder 2011 Remaster von Pink Floyd‘s „Animals“besser ist oder auch nur einer der beiden tatsächlich eine Verbesserung gegenüber dem 70er-Vinyl darstellen, erscheint beispielsweise zunächst einmal als eine überflüssige Frage. Beide lösen die Musik weitaus transparenter in ihre Bestandteile auf, bringen Elemente nach vorne, die vorher nahezu unhörbar im Mix begraben lagen. Sie sind knackiger, klarer, haben mehr „Punch“. Und dennoch finden sich mehr als genug Fans der „flachen“CD-Ausgaben. Denn gerade das Unscharfe, leicht Vernebelte der Erstauflagen verleiht ihnen eine geheimnisvolle Aura, die sich weitaus weniger erschließt, wenn man jeden Hihat-Tupfer von Nick Mason dreidimensional vor sich hat. Ähnlich ergeht es einem bei den Tangerine-Dream-Alben der „Definitive Edition“: Objektiv ist diese Bearbeitung sicherlich „besser“– doch mag man sie eher selten von Anfang bis Ende hören, laufen einem nicht mehr wohlige Schauer über den Rücken, wie noch bei den weitaus undifferenzierteren frühen Übertragungen.
Über diese Fragen wird in immer längeren und zahlreicheren Foren-Threads und in den sozialen Medien trefflich gestritten. Doch nicht nur der eigene Geschmack verhindert eine endgültige Klärung. Denn die grundlegenden Parameter des Klangs schließen sich teilweise gegenseitig aus. Oder anders gesagt: Man kann nicht alles auf einmal haben. Um so transparenter die Höhen, um so klarer die Mitten, beispielsweise und um so mehr Details werden ersichtlich. Auf Jean-Michel Jarre‘s „Oxygene 4“erklingt in David Dadwater‘s Remaster plötzlich ein ratterndes Electro-Hi-Hat, das in vorangegangen Generationen kaum zu hören war. Doch geht diese „Auffrischung“zulasten der Bassfrequenzen – und gerade in diesen ruht oftmals der besagte wohlige Schauer. Tangerine Dream‘s „Force Majeure“„knallt“seit 1995 mehr denn je, das Schlagzeug steht geradezu plastisch im Raum. Doch die bemerkenswerte Leistung von Simon Heyworth vermag nicht eine Sekunde lang die transzendente Tiefe der Vinyl-Ausgabe zu erreichen.
Andersherum darf man einige Remaster mit gutem Recht als die eigentlichen Master bezeichnen. Iggy Pop‘s „Raw Power“wurde im Erscheinungsjahr von David Bowie in einer viel zu kurz angesetzten Session verflacht und verwässert. Als Pop 2011 selbst hinter dem Mischpult saß, zog er alle Regler nach oben und schuf einen der ersten „Loudness-War“Mixe, digitales Clipping eingeschlossen. Was seinerzeit als der schlechteste Remaster aller Zeiten galt, wirkt inzwischen eher wie ein Geniestreich – genau so brutal, überdreht und verzerrt sollte diese Musik doch immer klingen! Die heute gängige Vorstellung, ein möglichst breites dynamisches Spektrum sei immer die Optimallösung, ist ein verständlicher, aber verhängnisvoller Irrtum. Rock und Techno beispielsweise brauchen ein gewisses Maß an Kompression, wirken in einem zu dynamischen Raum lust- und kraftlos. Bei extrem hohen DRs werden die Lautstärkekontraste teilweise slapstickhaft überzogen, verschwinden leise Passagen im Nirgendwo, während die lauten Stellen die Beziehung zu den Nachbarn bedrohen.
Liebe, zu spät
Es gibt noch weitaus grundlegendere Probleme. Sogar, wenn Plattenfirmen mit höchstem Respekt an die Originale herangehen, kommt bei manchen Master-Tapes jede Liebe zu spät – man muss davon ausgehen, dass an Alben wie Tangerine Dream‘s „Zeit“längst der – Entschuldigung – „Zahn der Zeit“genagt hat. Kompromisse sind somit unvermeidbar. Es ist deswegen durchaus begrüßenswert, dass immer mehr Remastering-Engineers ihren Job als eine umfassende kreative Tätigkeit verstehen. Als Steve Hoffman „Hotel California“von den Eagles remastern sollte, war er von dem schlechten Sound des Masters erschüttert. Erst, als er die Scheibe auf der selben Konfiguration anhörte, mit denen sie 1974 abgemischt wurde, erschloss sich ihm das Problem: Die Studio-Boxen hatten die Abmischung zu stark gefärbt. Sein neuer Ansatz klingt nun auf allen Anlagen lebendiger denn je, ohne das sanfte 70er Jahre Flair aufzugeben. [1] Der unermüdliche Steven Wilson wiederum vermischt die Grenzen zwischen Remastern und Remixing gleich ganz. Für seine viel gepriesenen Neuabmischungen von Prog-Rock-Bands wie Yes und Jethro Tull greift er direkt in einzelnen Spuren ein, statt nur den Gesamtklang umzuformen. Interessanterweise liefert dieser weitaus radikalere Ansatz Ergebnisse, welche im Feeling den Originalen näher kommen als die meisten aktuellen Remaster. Man darf somit gespannt sein, wie seine Arbeit ausfällt, wenn im Sommer ein umfangreiches Tangerine-Dream-Paket unter seiner Regie erscheint.
Das bemerkenswerteste aber an dem Remastering-Hype ist, wie sich Tausende von Hörern auf höchstem Niveau über Feinheiten von Musik austauschen, an die sogar in den vermeintlichen goldenen Jahren der Industrie niemand gedacht hätte. Wenn manche Fans – und ich bekenne mich hier ausdrücklich schuldig – mehrere Remaster der selben Scheibe im Regal stehen haben, dann ähnelt das sehr der Praxis, die unterschiedlichen Interpretationen klassischer Meisterwerke von Bach bis Beethoven einander im direkten Hörvergleich gegenüberzustellen. Nur steht hier nicht der Interpret, sondern der Engineer im Vordergrund. Es ist die Liebe zum Klang, welche diese Leidenschaft entfacht, die Suche nach dem perfekten Sound. Und ganz egal, was einem die Plattenfirmen vorgaukeln mögen: Definitiv kann keines der Ergebnisse jemals sein.
Manche Fans haben mehrere Remaster der selben Scheibe im Regal – ähnlich wie Klassik-Fans unterschiedliche Interpretationen der Meisterwerke von Bach bis Beethoven.