Digitale Kultur: Gleichberechtigung
Emanzipation? Gleichberechtigung? In der Musikindustrie sind diese Begriffe kaum mehr als Lippenbekenntnisse. Sogar demokratisierende Technologien werden oftmals dazu genutzt, die dominierende Stellung männlicher Künstler zu zementieren. Es wird Zeit für ein Umdenken.
Emanzipation? Gleichberechtigung? In der Musikindustrie sind diese Begriffe kaum mehr als Lippenbekenntnisse. Sogar demokratisierende Technologien werden oftmals dazu genutzt, die dominierende Stellung männlicher Künstler zu zementieren. Es wird Zeit für ein Umdenken.
Manche meinen, es gäbe so einiges, wofür Rock-Legende David Byrne Reue zeigen könnte. Seine emotionalen Unzulänglichkeiten im Umgang mit anderen Menschen. Seine wiederholte öffentliche Missachtung des kreativen Beitrags seiner Kollegen in der Kunstrock-Formation Talking Heads. Dass er in seinen Shows weiterhin die alten Hits spielt, aber dem Fan-Wunsch nach einer Reunion der Heads nicht nachkommen mag. Bedauern hat er darüber in der Öffentlichkeit nie bekundet. So kam es als eine Überraschung, dass er sich vor Kurzem ausführlich und mit sehr deutlichen Worten für seine aktuelle Scheibe „American Utopia“entschuldigte: „Ich bedauere es, dass ich bei der Arbeit an diesem Album mit keiner einzigen Frau zusammengearbeitet habe. Das ist lächerlich und zeigt nicht die Person, die ich wirklich bin. Es passt auch nicht zu meinen aktuellen Live-Shows, was das Ganze zu einem noch größeren Versäumnis macht.“[1] Klare Worte und ein wichtiger Beitrag zu einer Debatte, die seit Jahren an Bedeutung hinzugewinnt: Der stärkeren Repräsentanz von Frauen in allen Bereichen der Musikindustrie.
Byrne‘s Entschuldigung kommt auch deswegen zu einem passenden Zeitpunkt, da die Musikindustrie gerade, wenn auch schleichend und eher unterschwellig, ihr eigenes #metoo erlebt. Während R Kelly sich nun endlich auch vor Gericht Vorwürfen eines bizarren, sektenähnlichen Netzwerks ausgesetzt sieht, werden inzwischen im vermeintlich so aufgeklärten Underground immer wieder Verdachtsfälle laut. Aktuellstes Beispiel: Der Independent-Rocker Ryan Adams, der Musikerinnen mit dem Versprechen, sie bei ihrer Karriere zu unterstützen, gefügig gemacht und anschließend emotional erpresst haben soll. Es ist verblüffend, wie lange diese und ähnliche Fälle teilweise vor sich hinschwelten, ohne dass jemand ernsthaft Anstoß daran nahm – bei Adams beispielsweise waren über seine vergangenen Beziehungen, darunter
die zu seiner Ex-Frau Mandy Moore, bereits oftmals ähnliche Vorwürfe an die Öffentlichkeit gelangt. [2] Bislang schien das Ausmaß der Problematik gegenüber der Filmbranche vergleichsweise harmlos. Unter der Oberfläche aber offenbart sich immer mehr ein System von Männern für Männer, in dem Sexismus oftmals ganz selbstverständlich als Teil des Systems begriffen wird.
Ausnahmen, die die Regel bestätigen
Zunächst einmal scheint diese Einschätzung schwer zu glauben. Haben bei den Grammys nicht gerade Frauen einige der begehrtesten Trophäen ergattert? Erobern sich weibliche DJs nicht einen ebenbürtigen Platz in der Kanzel neben ihren männlichen Kollegen? Sind es nicht immer wieder Girlbands, die den Independent-Rock gehörig aufmischen? Auch, wenn sich diese Entwicklungen nicht von der Hand weisen lassen, sprechen die nackten Zahlen eine andere Sprache: Von den fast 900 Nominierten bei den Grammys waren in den vergangenen sechs Jahren nicht einmal 10% weiblich. [3] Während Frauen oftmals die beste Newcomerin stellen und dieses Jahr auch das beste Rapund Pop-Album gewannen, spielen sie in den eher technischen Kategorien und im Songwriting nahezu keine Rolle. Lady Gaga, Ariana Grande und Taylor Swift bleiben Ausnahmen, die die Regel bestätigen - kurioserweise sinkt in den deutschen Charts das Verhältnis weiblicher zu männlicher Beiträge seit über zehn Jahren kontinuierlich. [4] Gleiches gilt für viele Labels und die KonzertveranstalterBranche, in denen die Aufstiegschancen vergleichsweise gering sind und Mitarbeiterinnen oftmals enttäuscht aussteigen und sich umorientieren. Sogar junge Firmen wie Spotify, bei denen man eine andere Mentalität vermuten sollte, sind weitestgehend Männer-Clubs geblieben, haben den Langzeit-Trend somit nicht gekehrt, sondern eher bestätigt. Ob Berichte, manche Plattenfirmen würden angeblich nur einen weiblichen Act pro Jahr unter Vertrag nehmen und Radiosender angehalten sind, nicht mehr als einen Song einer weiblichen Künstlern nacheinander zu spielen, wirklich stimmen, bedarf wohl einer genaueren Prüfung. [5] Dass sie überhaupt im Raum stehen und ernsthaft geprüft werden müssen, sagt genug über den Ernst der Lage aus.
Man kann die zunehmend offensivere Herangehensweise vieler Musikerinnen als eine unmittelbare Reaktion auf diese Situation begreifen. Genau zwanzig Jahre ist es nunmehr her, dass die kanadische Folkrock-Sängerin Sarah McLachlan mit Lilith Fair das erste große Musikfestival mit ausschließlich weiblichen Acts organisierte. Lilith Fair hielt sich nur drei Sommer, zwischen 1997 und 1999, aber der Einfluss, den es auf die gesamte Szene hatte, kann kaum überschätzt werden. Gerade in den letzten Jahren tun sich immer mehr Musikerinnen und DJs zu Kollektiven zusammen, organisieren rein weibliche Line-Ups und unterstützen sich gegenseitig. Ein Festival unter völligem Ausschluss von Männern mag radikal und etwas feindselig klingen. Aber dieser drastische Schritt ist zu diesem Zeitpunkt möglicherweise schlicht einfacher umzusetzen als versöhnliche Gesten: „Natürlich wären 50/50 Line-Ups toll, aber bis dahin gibt es noch so viel zu tun, also buchen wir einfach Abende mit ausschließlich weiblichen DJs, um die Ungleichheit direkt anzusprechen“, so die dänische DJ Courtesy, die mit ihrem neunköpfigen Kollektiv SIREN solche Abende aus eigener Kraft bestreiten kann. „Wir halten es sogar für sehr wichtig, dass die Veranstalter solcher Events ebenfalls weiblich sind. Wenn du als Mann nur Frauen buchst, wirkt das oft so, als wolltest du auf einen Trend aufspringen.“[6] Vielmehr solle man lieber Gutes tun und nicht darüber sprechen, weibliche Acts einfach deswegen buchen, weil man sie für musikalisch gut hält und ihnen einen Platz im Rampenlicht einräumen möchte.
Digitales Disaster
Es ist befremdlich, dass wir uns immer noch mit diesen Fragen auseinandersetzen müssen. Denn: Sollte sich die Gender-Ungleichheit im digitalen Zeitalter nicht von selbst erledigen? Um so mehr Spotify, Apple Music & Co mit ihren Playlists und algorithmisch berechneten Mixen bestimmen, was es zu hören gibt, um so mehr sollte das Geschlecht der Performer in den Hintergrund treten. Davon sollten Frauen unmittelbar profitieren, denn im Gegensatz zum Formatradio greifen hier keine künstlich eingeführten Verbote oder Regulierungen. Soweit die Theorie. In der Praxis erweist sich aber gerade Spofity als ein Instrument, dass die Dominanz männlicher Musiker in den Charts zementiert. Das klingt paradox, lässt sicher aber leicht durch die bestimmende Stellung der Playlists erklären. In diese Playlists zu gelangen ist der primäre Schlüssel für Erfolg oder Misserfolg schlechthin geworden. Da männliche Acts von Plattenfirmen – und das, wie erwähnt, nicht ganz zu Unrecht – für am Erfolg versprechendsten gehalten werden, erhalten sie hier deutlich mehr Support als weibliche Mitmusikerinnen. Durch die Bank sind Frauen somit in diesen Schlüsselpositionen unterrepräsentiert, in manchen großen Playlists beträgt ihr Anteil sogar gerade einmal 4%. [7] Das hat nicht nur verheerende Folgen für ihre Streaming-Einnahmen. Weil die Anzahl der „Plays“für Konzertveranstalter und Booker längst zu einem entscheidenden Kriterium für Anfragen geworden ist, hat diese Benachteiligung sogar noch direkte Konsequenzen für den in finanzieller Hinsicht so wichtigen Live-Bereich.
Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch unnötig, denn mangelnde Qualität kann kein Veranstalter ernsthaft noch als Ausrede anführen. Vielleicht hat diese Einsicht ja David Byrne‘s Entschuldigung motiviert : Angesichts der Vielzahl herausragender Musikerinnen mutet es durchaus etwas seltsam an, dass er bei immerhin 25 Gastmusikern auf „American Utopia“nicht eine einzige Frau zu sich ins Studio eingeladen hat. Man muss aber auch festhalten: Wer von einem Kunstwerk verlangt, „politisch korrekt“zu sein und sich doch bitte schön an die gerade gültigen Normen zu halten, verkennt dabei, dass Kunst oftmals abseits, außerhalb oder an den Reibungsflächen dieser Normen, stattfindet. Musik kann zu gesellschaftlichen Bewusstseinsveränderungen und sozialen Verschiebungen beitragen, aber das ist weder ihr primärer Zweck, noch eine Notwendigkeit. Nicht jeder, der nur mit Männern zusammenarbeitet, ist ein Frauenfeind, nicht jede Entscheidung für einen männlichen Künstler eine Entscheidung gegen eine weibliche Alternative. So mutet vieles, was an prinzipiell guten Ideen derzeit in die Praxis umgesetzt wird, oftmals ein wenig verkrampft an. Das gilt auch für die Medienwelt. Das führende Club-Kultur-Magazin Resident Adviser, beispielsweise, führt seit einiger Zeit einen derart schematischen Gleichstellungskurs, das man sich fragt, ob es hier überhaupt noch um Musik geht. Zumindest in den Jahrescharts für 2018 wechselten sich männliche und weibliche Künstler dermaßen präzise getaktet ab, dass man an einen freien, nicht von oben gelenkten Entscheidungsprozess kaum mehr glauben mochte.
Gegenseitige Inspiration
Das ist eine ungute Entwicklung, denn niemand hat etwas von einer gönnerhaften oder schablonenhaften Egalisierungspolitik. Es bestehen ganz offensichtlich reale Unterschiede zwischen Männern und Frauen in ihrem Ausdrucksbedürfnis und diese mit Quoten vertuschen zu wollen, ist eine unerfreuliche Idee. Als Musikjournalist erhalte ich jeden Tag bis zu 30 Promos und gerade im Elektronik-Bereich sind davon bis zu 80-90% von männlichen Produzenten. Im Nachhinein alles auf eine Ungleichbehandlung in den Medien, Labels und der Gesellschaft als Ganzem zu suchen, wirkt da eher realitätsfremd. Auch Linda Perry, eine der wenigen dauerhaft erfolgreichen Songwriterinnen von internationalem Rang, hat immer wieder darauf hingewiesen, dass nicht nur den Sängerinnen und Produzentinnen, sondern vor allem auch den Engineers eine Schlüsselrolle in der Musiklandschaft zukommt – und gerade hier scheinen viele Frauen schlichtweg nicht daran interessiert, sich stärker zu engagieren: „Die wirkliche Macht hat [...] der Tontechniker – er ist derjenige, der kreativ ist, coole Sounds findet und die akustische Welt kreiert, in der der Künstler sein Lied singt.“so Perry. „Aber diese Position ist nicht wirklich sexy.“[8]
In einem bemerkenswerten Beitrag hat die Journalistin und Feministin Bibi Lynch offen zugegeben, dass sie ihre musikalische Erziehung vornehmlich von Männern erhalten hat, die ihre Leidenschaft mit ihr geteilt haben. [9] Doch egal, wie herum der gegenseitige Inspirationsprozess genau stattfindet, entscheidend ist, dass er überhaupt stattfindet. Beide Seiten haben von der anderen eine Menge zu lernen – in der Musik wie auch überall sonst.
» In den deutschen Charts
sinkt das Verhältnis weiblicher zu männlicher Beiträge seit über zehn Jahren kontinuierlich. «