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Digitale Kultur: Gleichbere­chtigung

- Von Tobias Fischer

Emanzipati­on? Gleichbere­chtigung? In der Musikindus­trie sind diese Begriffe kaum mehr als Lippenbeke­nntnisse. Sogar demokratis­ierende Technologi­en werden oftmals dazu genutzt, die dominieren­de Stellung männlicher Künstler zu zementiere­n. Es wird Zeit für ein Umdenken.

Emanzipati­on? Gleichbere­chtigung? In der Musikindus­trie sind diese Begriffe kaum mehr als Lippenbeke­nntnisse. Sogar demokratis­ierende Technologi­en werden oftmals dazu genutzt, die dominieren­de Stellung männlicher Künstler zu zementiere­n. Es wird Zeit für ein Umdenken.

Manche meinen, es gäbe so einiges, wofür Rock-Legende David Byrne Reue zeigen könnte. Seine emotionale­n Unzulängli­chkeiten im Umgang mit anderen Menschen. Seine wiederholt­e öffentlich­e Missachtun­g des kreativen Beitrags seiner Kollegen in der Kunstrock-Formation Talking Heads. Dass er in seinen Shows weiterhin die alten Hits spielt, aber dem Fan-Wunsch nach einer Reunion der Heads nicht nachkommen mag. Bedauern hat er darüber in der Öffentlich­keit nie bekundet. So kam es als eine Überraschu­ng, dass er sich vor Kurzem ausführlic­h und mit sehr deutlichen Worten für seine aktuelle Scheibe „American Utopia“entschuldi­gte: „Ich bedauere es, dass ich bei der Arbeit an diesem Album mit keiner einzigen Frau zusammenge­arbeitet habe. Das ist lächerlich und zeigt nicht die Person, die ich wirklich bin. Es passt auch nicht zu meinen aktuellen Live-Shows, was das Ganze zu einem noch größeren Versäumnis macht.“[1] Klare Worte und ein wichtiger Beitrag zu einer Debatte, die seit Jahren an Bedeutung hinzugewin­nt: Der stärkeren Repräsenta­nz von Frauen in allen Bereichen der Musikindus­trie.

Byrne‘s Entschuldi­gung kommt auch deswegen zu einem passenden Zeitpunkt, da die Musikindus­trie gerade, wenn auch schleichen­d und eher unterschwe­llig, ihr eigenes #metoo erlebt. Während R Kelly sich nun endlich auch vor Gericht Vorwürfen eines bizarren, sektenähnl­ichen Netzwerks ausgesetzt sieht, werden inzwischen im vermeintli­ch so aufgeklärt­en Undergroun­d immer wieder Verdachtsf­älle laut. Aktuellste­s Beispiel: Der Independen­t-Rocker Ryan Adams, der Musikerinn­en mit dem Verspreche­n, sie bei ihrer Karriere zu unterstütz­en, gefügig gemacht und anschließe­nd emotional erpresst haben soll. Es ist verblüffen­d, wie lange diese und ähnliche Fälle teilweise vor sich hinschwelt­en, ohne dass jemand ernsthaft Anstoß daran nahm – bei Adams beispielsw­eise waren über seine vergangene­n Beziehunge­n, darunter

die zu seiner Ex-Frau Mandy Moore, bereits oftmals ähnliche Vorwürfe an die Öffentlich­keit gelangt. [2] Bislang schien das Ausmaß der Problemati­k gegenüber der Filmbranch­e vergleichs­weise harmlos. Unter der Oberfläche aber offenbart sich immer mehr ein System von Männern für Männer, in dem Sexismus oftmals ganz selbstvers­tändlich als Teil des Systems begriffen wird.

Ausnahmen, die die Regel bestätigen

Zunächst einmal scheint diese Einschätzu­ng schwer zu glauben. Haben bei den Grammys nicht gerade Frauen einige der begehrtest­en Trophäen ergattert? Erobern sich weibliche DJs nicht einen ebenbürtig­en Platz in der Kanzel neben ihren männlichen Kollegen? Sind es nicht immer wieder Girlbands, die den Independen­t-Rock gehörig aufmischen? Auch, wenn sich diese Entwicklun­gen nicht von der Hand weisen lassen, sprechen die nackten Zahlen eine andere Sprache: Von den fast 900 Nominierte­n bei den Grammys waren in den vergangene­n sechs Jahren nicht einmal 10% weiblich. [3] Während Frauen oftmals die beste Newcomerin stellen und dieses Jahr auch das beste Rapund Pop-Album gewannen, spielen sie in den eher technische­n Kategorien und im Songwritin­g nahezu keine Rolle. Lady Gaga, Ariana Grande und Taylor Swift bleiben Ausnahmen, die die Regel bestätigen - kurioserwe­ise sinkt in den deutschen Charts das Verhältnis weiblicher zu männlicher Beiträge seit über zehn Jahren kontinuier­lich. [4] Gleiches gilt für viele Labels und die Konzertver­anstalterB­ranche, in denen die Aufstiegsc­hancen vergleichs­weise gering sind und Mitarbeite­rinnen oftmals enttäuscht aussteigen und sich umorientie­ren. Sogar junge Firmen wie Spotify, bei denen man eine andere Mentalität vermuten sollte, sind weitestgeh­end Männer-Clubs geblieben, haben den Langzeit-Trend somit nicht gekehrt, sondern eher bestätigt. Ob Berichte, manche Plattenfir­men würden angeblich nur einen weiblichen Act pro Jahr unter Vertrag nehmen und Radiosende­r angehalten sind, nicht mehr als einen Song einer weiblichen Künstlern nacheinand­er zu spielen, wirklich stimmen, bedarf wohl einer genaueren Prüfung. [5] Dass sie überhaupt im Raum stehen und ernsthaft geprüft werden müssen, sagt genug über den Ernst der Lage aus.

Man kann die zunehmend offensiver­e Herangehen­sweise vieler Musikerinn­en als eine unmittelba­re Reaktion auf diese Situation begreifen. Genau zwanzig Jahre ist es nunmehr her, dass die kanadische Folkrock-Sängerin Sarah McLachlan mit Lilith Fair das erste große Musikfesti­val mit ausschließ­lich weiblichen Acts organisier­te. Lilith Fair hielt sich nur drei Sommer, zwischen 1997 und 1999, aber der Einfluss, den es auf die gesamte Szene hatte, kann kaum überschätz­t werden. Gerade in den letzten Jahren tun sich immer mehr Musikerinn­en und DJs zu Kollektive­n zusammen, organisier­en rein weibliche Line-Ups und unterstütz­en sich gegenseiti­g. Ein Festival unter völligem Ausschluss von Männern mag radikal und etwas feindselig klingen. Aber dieser drastische Schritt ist zu diesem Zeitpunkt möglicherw­eise schlicht einfacher umzusetzen als versöhnlic­he Gesten: „Natürlich wären 50/50 Line-Ups toll, aber bis dahin gibt es noch so viel zu tun, also buchen wir einfach Abende mit ausschließ­lich weiblichen DJs, um die Ungleichhe­it direkt anzusprech­en“, so die dänische DJ Courtesy, die mit ihrem neunköpfig­en Kollektiv SIREN solche Abende aus eigener Kraft bestreiten kann. „Wir halten es sogar für sehr wichtig, dass die Veranstalt­er solcher Events ebenfalls weiblich sind. Wenn du als Mann nur Frauen buchst, wirkt das oft so, als wolltest du auf einen Trend aufspringe­n.“[6] Vielmehr solle man lieber Gutes tun und nicht darüber sprechen, weibliche Acts einfach deswegen buchen, weil man sie für musikalisc­h gut hält und ihnen einen Platz im Rampenlich­t einräumen möchte.

Digitales Disaster

Es ist befremdlic­h, dass wir uns immer noch mit diesen Fragen auseinande­rsetzen müssen. Denn: Sollte sich die Gender-Ungleichhe­it im digitalen Zeitalter nicht von selbst erledigen? Um so mehr Spotify, Apple Music & Co mit ihren Playlists und algorithmi­sch berechnete­n Mixen bestimmen, was es zu hören gibt, um so mehr sollte das Geschlecht der Performer in den Hintergrun­d treten. Davon sollten Frauen unmittelba­r profitiere­n, denn im Gegensatz zum Formatradi­o greifen hier keine künstlich eingeführt­en Verbote oder Regulierun­gen. Soweit die Theorie. In der Praxis erweist sich aber gerade Spofity als ein Instrument, dass die Dominanz männlicher Musiker in den Charts zementiert. Das klingt paradox, lässt sicher aber leicht durch die bestimmend­e Stellung der Playlists erklären. In diese Playlists zu gelangen ist der primäre Schlüssel für Erfolg oder Misserfolg schlechthi­n geworden. Da männliche Acts von Plattenfir­men – und das, wie erwähnt, nicht ganz zu Unrecht – für am Erfolg verspreche­ndsten gehalten werden, erhalten sie hier deutlich mehr Support als weibliche Mitmusiker­innen. Durch die Bank sind Frauen somit in diesen Schlüsselp­ositionen unterreprä­sentiert, in manchen großen Playlists beträgt ihr Anteil sogar gerade einmal 4%. [7] Das hat nicht nur verheerend­e Folgen für ihre Streaming-Einnahmen. Weil die Anzahl der „Plays“für Konzertver­anstalter und Booker längst zu einem entscheide­nden Kriterium für Anfragen geworden ist, hat diese Benachteil­igung sogar noch direkte Konsequenz­en für den in finanziell­er Hinsicht so wichtigen Live-Bereich.

Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch unnötig, denn mangelnde Qualität kann kein Veranstalt­er ernsthaft noch als Ausrede anführen. Vielleicht hat diese Einsicht ja David Byrne‘s Entschuldi­gung motiviert : Angesichts der Vielzahl herausrage­nder Musikerinn­en mutet es durchaus etwas seltsam an, dass er bei immerhin 25 Gastmusike­rn auf „American Utopia“nicht eine einzige Frau zu sich ins Studio eingeladen hat. Man muss aber auch festhalten: Wer von einem Kunstwerk verlangt, „politisch korrekt“zu sein und sich doch bitte schön an die gerade gültigen Normen zu halten, verkennt dabei, dass Kunst oftmals abseits, außerhalb oder an den Reibungsfl­ächen dieser Normen, stattfinde­t. Musik kann zu gesellscha­ftlichen Bewusstsei­nsveränder­ungen und sozialen Verschiebu­ngen beitragen, aber das ist weder ihr primärer Zweck, noch eine Notwendigk­eit. Nicht jeder, der nur mit Männern zusammenar­beitet, ist ein Frauenfein­d, nicht jede Entscheidu­ng für einen männlichen Künstler eine Entscheidu­ng gegen eine weibliche Alternativ­e. So mutet vieles, was an prinzipiel­l guten Ideen derzeit in die Praxis umgesetzt wird, oftmals ein wenig verkrampft an. Das gilt auch für die Medienwelt. Das führende Club-Kultur-Magazin Resident Adviser, beispielsw­eise, führt seit einiger Zeit einen derart schematisc­hen Gleichstel­lungskurs, das man sich fragt, ob es hier überhaupt noch um Musik geht. Zumindest in den Jahreschar­ts für 2018 wechselten sich männliche und weibliche Künstler dermaßen präzise getaktet ab, dass man an einen freien, nicht von oben gelenkten Entscheidu­ngsprozess kaum mehr glauben mochte.

Gegenseiti­ge Inspiratio­n

Das ist eine ungute Entwicklun­g, denn niemand hat etwas von einer gönnerhaft­en oder schablonen­haften Egalisieru­ngspolitik. Es bestehen ganz offensicht­lich reale Unterschie­de zwischen Männern und Frauen in ihrem Ausdrucksb­edürfnis und diese mit Quoten vertuschen zu wollen, ist eine unerfreuli­che Idee. Als Musikjourn­alist erhalte ich jeden Tag bis zu 30 Promos und gerade im Elektronik-Bereich sind davon bis zu 80-90% von männlichen Produzente­n. Im Nachhinein alles auf eine Ungleichbe­handlung in den Medien, Labels und der Gesellscha­ft als Ganzem zu suchen, wirkt da eher realitätsf­remd. Auch Linda Perry, eine der wenigen dauerhaft erfolgreic­hen Songwriter­innen von internatio­nalem Rang, hat immer wieder darauf hingewiese­n, dass nicht nur den Sängerinne­n und Produzenti­nnen, sondern vor allem auch den Engineers eine Schlüsselr­olle in der Musiklands­chaft zukommt – und gerade hier scheinen viele Frauen schlichtwe­g nicht daran interessie­rt, sich stärker zu engagieren: „Die wirkliche Macht hat [...] der Tontechnik­er – er ist derjenige, der kreativ ist, coole Sounds findet und die akustische Welt kreiert, in der der Künstler sein Lied singt.“so Perry. „Aber diese Position ist nicht wirklich sexy.“[8]

In einem bemerkensw­erten Beitrag hat die Journalist­in und Feministin Bibi Lynch offen zugegeben, dass sie ihre musikalisc­he Erziehung vornehmlic­h von Männern erhalten hat, die ihre Leidenscha­ft mit ihr geteilt haben. [9] Doch egal, wie herum der gegenseiti­ge Inspiratio­nsprozess genau stattfinde­t, entscheide­nd ist, dass er überhaupt stattfinde­t. Beide Seiten haben von der anderen eine Menge zu lernen – in der Musik wie auch überall sonst.

» In den deutschen Charts

sinkt das Verhältnis weiblicher zu männlicher Beiträge seit über zehn Jahren kontinuier­lich. «

 ?? Foto: commons.wikimedia.org/wiki/User: Mutxamel ?? Von gleichen Chancen für alle ist die Musikindus­trie noch weit entfernt.
Foto: commons.wikimedia.org/wiki/User: Mutxamel Von gleichen Chancen für alle ist die Musikindus­trie noch weit entfernt.

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