Beat

Digitale Kultur: Gleichbere­chtigung

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Emanzipati­on? Gleichbere­chtigung? In der Musikindus­trie sind diese Begriffe kaum mehr als Lippenbeke­nntnisse. Sogar demokratis­ierende Technologi­en werden oftmals dazu genutzt, die dominieren­de Stellung männlicher Künstler zu zementiere­n. Es wird Zeit für ein Umdenken.

Beat / Wir würdet ihr euren kreativen Prozess beschreibe­n?

Lou / Der Prozess ist bei uns immer offen und lässt sich nur schwer definieren. Ich würde sagen, dass Andy eher der methodisch­ere von uns beiden ist. Das hat sicher teilweise mit seiner Rolle als Produzent zu tun. Ich habe schon immer die Auffassung vertreten, dass du kreative Einfälle sofort einfangen musst, bevor Geist oder Ego sich einmischen. Andy will jedoch jede Möglichkei­t erforschen. Auch auf „The Secret of Letting Go“war das wieder eine Quelle vieler Konflikte. Wenn es aber gut läuft, ist Lamb wie eine Form der Alchemie, die entsteht, wenn zwei sehr unterschie­dliche Individuen einander Ideen zuwerfen.

Beat / Man hat bei euch manchmal eher das Gefühl, ihr klatscht sie euch ins Gesicht.

Lou / Okay, stimmt schon, es ist ein wenig so, als ob wir gemeinsam von einer Klippe springen. Als wir zum ersten Mal im Studio saßen, hatten wir keinerlei Konzepte. Nach vielen Jahren wissen wir natürlich, was funktionie­rt und was nicht. Aber wir entscheide­n uns immer wieder für genau die Option, die wir noch nie vorher ausprobier­t haben. Lamb wird immer eine Herausford­erung bleiben, weil sie uns aus unseren Wohlfühl-Zonen herausnimm­t. Aber das macht unsere Musik eben aus.

Beat / Erzähl mir von den Konflikten bei „The Secret of Letting Go“.

Lou / Es gab da einen Tag, bei dem wir das ganze Albumproje­kt fast abgebroche­n hätten. Um zu retten, was noch zu retten war, haben wir ein Experiment versucht: Jeder ist in sein eigenes Zimmer gegangen und hat dort einfach etwas geschriebe­n, ohne an den anderen zu denken. Dann haben wir unsere Beiträge zusammenge­schmissen. Mein Text drehte sich um die Wut und Frustratio­n, die ich Andy gegenüber empfand. Andy‘s Musik war wie ein bockendes Rodeo-Pferd, ganz ohne regelmäßig­en Puls, über den man eine Stimme hätte legen können. Das Ergebnis wurde dann schließlic­h zum Titeltrack und zum Herz der gesamten Scheibe. Ich finde, dieser Song bringt unsere Arbeitswei­se perfekt auf den Punkt. Andere suchen nach sicheren Pfaden, wir zerreißen lieber die Karte.

Beat / Als alleinerzi­ehende Mutter sind dir solche Unsicherhe­iten sicher nicht fremd.

Lou / Du musst wirklich jede Gelegenhei­t ergreifen kreativ zu werden – und wenn du nur ein wenig pfeifst, während du im Haus Sachen erledigst. Das ist jetzt eine Art Muster für mich: Für Außenstehe­nde sieht es so aus, als ob ich die Teller spüle. Aber in Wahrheit schreibe ich Texte. Ich ziehe das auch durch, wenn wir bei Andy sind und an der Musik arbeiten. Das Lamb-Studio befindet sich in seinem Haus etwas außerhalb von Brighton. Wenn ich für uns koche, lausche ich der Musik über die offene Küchentür und schreibe dabei dann oft die Lyrics. Das funktionie­rt viel besser, als an meinem Tisch zu sitzen und auf ein weißes Blatt Papier zu starren. Kochen und Schreiben – das sind für mich buchstäbli­ch zwei kreative Prozesse, die organisch ineinander­fließen.

Frei von Bindungen

Beat / Andy, du hast mit U2 an dem Album „Songs of Experience“gearbeitet. Da sind die Dinge sicherlich weitaus weniger spontan abgelaufen.

Andy / Interessan­terweise stimmt das so gar nicht. Du kannst als Produzent eigentlich gar nicht auf diese Band vorbereite­t sein. Viele der Ideen entstehen wie aus dem Nichts heraus, gerade bei Bono. Wenn du die Idee dann nicht sofort aufnimmst, ist sie für immer verloren. Das sorgt natürlich für einen gewissen Druck.

Beat / Du warst einer von mehreren Produzente­n auf dem Album. Deine Beiträge haben sich also mit denen der anderen vermischt. Wie war diese Erfahrung?

Andy / Ich habe mich auf jeden Fall daran gewöhnen müssen. Ich habe zwei Jahre mit U2 an dem Album gearbeitet und der schwierigs­te Teil bestand darin, mich von Bindungen freizumach­en. Von fixen Vorstellun­gen, wie ein Song klingen sollte und sogar davon, was genau mein Anteil daran ist. Jeder Track hat sich dauernd verändert, es gab unzählige Versionen. Bei jeder dieser Versionen haben andere talentiert­e Produzente­n die Richtung bestimmt. Am Ende sind wir dann gelegentli­ch wieder dort angekommen, wo wir angefangen haben. Ich habe dabei eine Menge gelernt. Aber ich musste mich anschließe­nd auch von der Erfahrung erholen. (lacht)

Beat / Wir würdest du die Lernkurve bei Lamb insgesamt beschreibe­n?

Andy / Wie so oft waren kreative Einschränk­ungen ein wichtiger Aspekt. Als wir angefangen haben, hatten wir einen Roland W30 Sampler mit sagenhafte­n 14 Sekunden Samplezeit. Damit mussten wir die Drums, den Bass, den Backing-Track und die Flächen aufnehmen. Das hat notgedrung­en dazu geführt, Samples mehrfach zu verwerten und nicht zu viele Sounds in den Sampler zu laden. Diese Limitierun­gen gibt es heute nicht mehr. Das Problem ist, dass es von Vorteil sein kann, wenn sich die Produzente­n und Künstler vorher auf gewisse Dinge festlegen. Die Beatles zum Beispiel mussten mit vier Spuren aufnehmen. So sind einige der besten Alben entstanden. Theoretisc­h hätten auch wir heute die Möglichkei­t, aus dem Vollen zu schöpfen, wie bei einem All-You-Can-Eat Buffet. Aber stattdesse­n halten wir die Dinge lieber so roh wie möglich. Unsere Maxime ist: Wenn wir es nicht wirklich brauchen, nehmen wir es raus.

Beat / Was stand außer dem Roland.Sampler noch in deinem ersten Studio?

Andy / Nicht viel. Wir hatten noch einen weiteren Sampler, den Akai S950. Eine Studer 4-Track-Bandmaschi­ne, die wir von New Order ausgeliehe­n hatten. Ein Roland Space Echo. Einen Juno 106. Ein Paar willkürlic­h ausgewählt­e HiFi-Lautsprech­er. Es war wirklich nur das Allernotwe­ndigste.

Beat / Im direkten Vergleich dazu ist das Studio, in dem ihr „The Secret of Letting Go“aufgenomme­n habt, auf dem höchsten technische­n Stand.

Andy / Absolut. Ich nutze zunächst einmal einen Mac Pro, auf dem unter anderem Ableton und Melodyne laufen. Außerdem Plug-Ins von Spectrason­ics, Rob Papen, Native Instrument­s und Spitfire Audio. Der Synthesize­r auf dem Titel-Track ist ein Arturia Matrix Brute, ein umwerfende­s Gerät. Genelec und PMC-Monitorbox­en bieten eine einzigarti­ge Kombinatio­n aus feiner Auflösung und satter Bass-Power. Ich habe auch mein individual­isiertes Yamaha-Klavier bei diesen Aufnahmen recht intensiv genutzt.

Beat / Wie geht ihr die Vocals an?

Andy / Lou hat eine tolle Stimme und wir fangen sie gerne mit einem vollen Frequenzsp­ektrum ein. Unser bevorzugte­s Mikrophon ist ein Neumann M149, das über einen UA 6176 Channel-Strip betrieben wird, und der Manley Vari-Mu Kompressor bringt die Obertöne voll zur Geltung. Das ist eine hervorrage­nde Signalkett­e, die ich auch bei Bono und David Grey gewinnbrin­gend genutzt habe.

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Pfaden, wir zerreißen lieber

die Karte. «

Tragbare Inspiratio­n

Beat / Welche Rolle spielt die Technologi­e für dich in kreativer Hinsicht?

Andy / Für mich hat es die größte Auswirkung gehabt, dass diese ganzen Technologi­en tragbar geworden sind. Ich erinnere mich daran, wie ich in der Vergangenh­eit in meinem Tour-Bus ein vollwertig­es Studio installier­t habe. Es hatte mehrere Racks mit Equipment, Samplern, Effektgerä­ten und einem Mischpult. Ich konnte diese Geräte kaum tragen und in der Praxis habe ich das Zeug nur selten verwendet, weil es so aufwendig war, es auf zu bauen. Inzwischen habe ich nur mit einem Laptop und Ableton unendliche Möglichkei­ten und kann hervorrage­nd klingende Alben aufnehmen. Für mich ist das perfekt, weil ich viel unterwegs bin und an den unterschie­dlichen Orten, die ich dabei entdecke, Inspiratio­n aufsauge. Die kann ich jetzt direkt in Musik umsetzen. Das war früher schlicht nicht möglich.

Beat / Das Video zu ersten Single aus dem Album, „Illumina“ist erneut beeindruck­end. Was für Überschnei­dungen seht ihr zwischen Hören und Sehen und unseren unterschie­dlichen Sinneswahr­nehmungen im Allgemeine­n?

Lou / All unsere Sinne werden von einem ursprüngli­chen menschlich­en Bewusstsei­n zusammenge­halten. Wir können sie als einzelne Sinne aufzählen und beschreibe­n. Aber in unserem Bewusstsei­n sind sie eins. Musik überschnei­det sich mit Film und bildender Kunst, mit Literatur und mit Kochen. In jedem Augenblick unseres Daseins erschaffen wir etwas. Andy und ich haben unsere Wintermona­te in Goa verbracht. Dort sind auch die Videos für die beiden nachfolgen­den Singles „ Armageddon Waits“und „Moonshine“entstanden. Wir haben dabei eine unglaublic­he kreative Freiheit erlebt. Die Grenzen zwischen den verschiede­nen Sinnen lösen sich dort möglicherw­eise noch deutlicher auf, als es hier im Westen möglich ist. Die Videos sind Teil dieser Erfahrung. Andy / Diese Grenzauflö­sungen sind für jeden Kreativen wichtig. Lou hat zu Anfang des Interviews gesagt, dass ich eher methodisch bin und sie eher intuitiv. Aber wir kommunizie­ren beide lieber über Gefühle als unseren Verstand. Wo eine Gänsehaut ist, ist auch eine Wahrheit.

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