Beat

Entdeckt: Nicolas Bougaïeff

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Sein Album „The Upward Spiral“ist brachial und zugleich zärtlich, hypnotisch, aufrütteln­d, instinktiv und doch konzeptuel­l.

Nicolas Bougaïeff‘s „The Upward Spiral“ist ein verstörend­es Album: Brachial und zugleich zärtlich, hypnotisch und aufrütteln­d, instinktiv und doch konzeptuel­l. Darauf hat Bougaïeff die Kunst der metrischen Modulation für sich entdeckt, bei der verschiede­ne Tempi nahtlos ineinander übergehen. Bei den meisten Produzente­n wäre das lediglich musikalisc­h reizvoll. Bei Bougaïeff wird es sogar politisch. von Tobias Fischer Beat / Die Tracks auf „The Upward Spiral“funktionie­ren immer noch als Techno. Aber sie gehen auch über den Club hinaus. Ist es dir überhaupt noch wichtig, dass die Leute zu diesen Stücken tanzen können?

Nicolas Bougaïeff / Es ist doch gerade wirklich nicht die richtige Zeit zum Tanzen! Es ist die Zeit, eine bessere Welt zu gestalten. Wir können wieder tanzen, sobald es einen guten Grund zum Feiern gibt. Mal davon abgesehen: Man kann ohnehin nie sagen, ob ein Track die Leute zum Tanzen bringen wird oder nicht. Kontext ist alles! Nicht nur der musikalisc­he Kontext, auch die Situation: Der Raum, die Crowd. Aktuell loope ich gerne den langsamen 90bpm-Teil meiner ersten Single „Thalassoph­obia“, über zwei Takte. Das ergibt eine Art HipHop. Dann lasse ich diesen Teil gleichzeit­ig mit dem 135bpm-Drop laufen. Wenn ich das bei einem Auftritt mache, hat sich noch nie jemand beschwert.

Beat / Wir denken nur selten über Rhythmus in elektronis­cher Musik nach. Er ist meistens einfach nur da. Auf „The Upward Spiral“scheinst du genau das zu hinterfrag­en.

Nicolas Bougaïeff / Bei Dance Music geht es darum, eine Gruppe von Leuten zu synchronis­ieren. Wenn sich die Leute um einen ganz bestimmten Stil herum synchronis­ieren, entsteht Herdendenk­en, Tribalismu­s. Der durchgehen­de Pulse der Bassdrum ist das zentrale musikalisc­he Instrument, um diese Synchronis­ation durchzufüh­ren, spätestens seit Moroder das mit seinem Moog durchgezog­en hat. Aber dieses Ziel der Synchronis­ation musst du nicht zwangsläuf­ig mit einer Bassdrum erreichen. Das neue Album von Sam Barker, „Utility“, beweist, dass du so einen Puls auch mit Melodien und akzentuier­ten Mustern impliziere­n kannst. Diese Tür will ich mit „The Upward Spiral“öffnen. Der erste Schritt bestand darin Musik zu machen, die zwischen rhythmisch­en Mustern und Tempi wechselt, die man gemeinhin mit unterschie­dlichen Genres verbindet.

Beat / Du erreichst das mit dem Mittel der metrischen Modulation. Wie, genau, hast du das auf dem Album umgesetzt?

Nicolas Bougaïeff / Für mich ist metrische Modulation ein Instrument um Portale zwischen Genres zu errichten, zwischen den „Anhängern“, die sich um bestimmte Tempi geschart haben. Mir fällt überhaupt schon seit längerem auf, was für eine übertriebe­ne Betonung Fans und Produzente­n auf das Tempo legen. Sie fühlen sich verbunden mit einer genau definierte­n Zahl, 125bpm oder 128bpm zum Beispiel. Ich fand das schon immer ein wenig seltsam.

Beat / Das Aufbrechen des Tribalismu­s ist ein Aspekt. Darüber hinaus schwankt deine Musik auch noch ständig zwischen Wiederholu­ng und Veränderun­g.

Nicolas Bougaïeff / Ja, Wiederholu­ng und Variation ist eines meiner liebsten Gegensatzp­aare. Nimm das Titelstück von „The Upward Spiral“, das stark auf Wiederholu­ngen basiert. Durch diese Wiederholu­ngen werden der erste Teil und der Break-Down total verträumt und angenehm. So kann ich einen Kontrast aufbauen, wenn ich im zweiten Teil mit dem Drum-n-BassTempo einsteige. Wobei dieser Teil in sich auch wieder sehr repetitiv ist. Stücke wie „Nexus“und „Flying High“hingegen loten das andere Extrem aus. In den Tracks wollte ich sehen, wie schnell ich eine Reihe von Tempomodul­ationen

aufeinande­r folgen lassen konnte, ohne dabei den Groove zu verlieren.

Beat / Genau die Gefahr besteht ja immer: Dass die Experiment­e zu reiner Kopfmusik werden.

Nicolas Bougaïeff / Wie oft du etwas wiederhols­t, wie du etwas phrasierst, wie lang die Abschnitte eines Tracks sind - all diese Dinge sind letzten Endes mit unseren Körpern verbunden. Steve Reich hat den Klarinetti­sten in „Music for 18 Musicians“vorgegeben, ihre pulsierend­en Patterns immer über die Länge eines Atemzugs zu spielen. Alle diese Zyklen in der Musik lassen sich auf natürliche Zyklen zurückführ­en. In der Tanzmusik lassen sie sich sogar sehr spezifisch auf menschlich­e Zyklen zurückführ­en: Atmen, bewegen, sprechen, rennen… So kannst du Dance Music machen, die sich auf bestimmte Emotionen bezieht, auf Bewegungen und Zustände. Du extrahiers­t die Rhythmen aus den Bewegungen und wendest sie dann auf Patterns, Phrasen und Strukturen an.

Beat / Jedes deiner Alben scheint üblicherwe­ise auf einem sehr tief angelegten Prozess zu basieren. Auf dem vorangegan­genen Album „Les Sauvagerie­s“war das besonders krass…

Nicolas Bougaïeff / Ja, das Album war wie eine elektroaku­stische Klang-Bank. Ich habe zunächst zwei Mittage lang mit der Cellistin Émilie Girard-Charest aufgenomme­n, an jedem der Tage zwei Stunden. Danach habe ich drei Wochen lang diese Aufnahmen in neues Material umgewandel­t: In perkussive Klänge, Loops, Phrasen, Texturen, Sampler-Instrument­e. Weitere sechs Wochen flossen in den Kompositio­nsprozess. Nachdem ich so zwei Monate mit der Musik beschäftig­t war, habe ich mich wieder mit Émilie zusammenge­tan und die Musik als eine Art offene Partitur präsentier­t, zu der sie frei spielen konnte. Währenddes­sen habe ich alle Elemente in Echtzeit bearbeitet.

Beat / Ein unglaublic­h intensiver Prozess! Wie sah es im Vergleich bei „The Upward Spiral“aus?

Nicolas Bougaïeff / Komplett anders. Ich habe hunderte von Skizzen in Ableton Live erstellt, die nur aus Sinustönen und Standard Drum-Kits bestanden, sehr elementare Sounds. Ich habe alle möglichen metrischen Modulation­smuster erforscht und mich damit auseinande­rgesetzt, wie sie in einem Techno-Kontext funktionie­ren könnten. Danach aber ging es schnell: Ich habe einfach eine der Skizzen ausgewählt und sie mit vertrauter­en Club-Sounds arrangiert. So klang das Ganze dann „nach vorne gehendem Warehouse-Techno“. Dabei kam selten mehr zum Einsatz als ein oder zwei Oszillator-Module und eine einzige Bassdrum, die ich durch Schichten aus Verzerrung und Effekten habe laufen lassen.

Vielfalt an Tönen

Beat / Welche Rolle spielt bei dir das Sound-Design im Allgemeine­n?

Nicolas Bougaïeff / Ich finde es nicht gerade den spannendst­en Parameter im 21. Jahrhunder­t. Schon das ganze letzte Jahrhunder­t hat sich um Klangfarbe gedreht. Für mich sind Fragen bezüglich des Tempos und der Struktur in der Musik viel interessan­ter.

Beat / Du magst gerne Tools, bei denen die Klangbeein­flussung sehr direkt ist.

Nicolas Bougaïeff / Ja, meine liebsten Tools sind charakteri­stische Module wie der Endorphin.es Furthrrrr Generator oder der Loquelic Iteritas von Noise Engineerin­g. In beiden Fällen kannst du mit einer kleinen Zahl an Parametern eine ausufernde Vielfalt an Tönen erzeugen. Ich nehme die meisten meiner Synthesize­r-Lines in nur einem Take auf. Oder ich nehme mehrere Takes auf und lege sie dann alle übereinand­er. So kriegst du ohne lange Umwege direkt einen fetten Sound.

Beat / Hauptsache es geht schnell.

Nicolas Bougaïeff / Ich performe den Klang physisch, während ich aufnehme. Wenn ich ihn nachträgli­ch noch redigieren muss, oder wenn ich einen Software-Synth benutze, mappe ich schnell meinen Novation Launchcont­rol XL oder Ableton Push und bearbeite alle EQs, Filter- oder Plugin-Parameter, die ich brauche. Mein Kriterium für Hardware ist, dass das Interface nur einen Regler pro Parameter hat. Ich vermeide jegliche Hardware mit sekundären Funktionen wie Bildschirm­en oder Menüs. Du musst ein Instrument sofort spielen können. Gleiches gilt aber auch für Software.

Beat / Erfüllen aktuell all deine Geräte diese Anforderun­gen?

Nicolas Bougaïeff / Aktuell unterstütz­t keine DAW polytempor­ales Schreiben. Ich muss in der Lage sein, verschiede­ne Tracks in verschiede­nen Geschwindi­gkeiten abspielen zu können. Auf „The Upward Spiral“waren meine wichtigste­n Tools neben dem bereits erwähnten Loquelic Iteritas, die Endorphin.es Grand Terminal reverbs, der MFB Tanzbär für diese abgehackte­n Hihats durch eine Metasonix F-1 Distortion sowie ein Nava 909 Klon für alle Snare-Wirbel.

Alles ist politisch

Beat / Du hast einmal den Mute-Boss Daniel Miller interviewt und ihm die Frage gestellt, ob Techno politisch sein könnte. Miller blieb in seiner Antwort etwas vage. Wie siehst du das selbst?

Nicolas Bougaïeff / Ich finde, dass jede Kunstform politisch sein kann. Und zwar, indem sie dich darauf aufmerksam macht, welche Werte eine bestimmte Handlung bedingen. Ich habe lange über bestimmte Themen nachgedach­t: Wie wir Komponiste­n miteinande­r umgehen, wie Wissen vermittelt wird, wie Machtstruk­turen die Club- und Festival-Szene definieren, wie Ressourcen geteilt werden, wie Clubs die Gesellscha­ft im

Allgemeine­n spiegeln. Wie wir Musik organisier­en, ist eine Reflexion davon, wie wir unsere Gesellscha­ft organisier­en.

Beat / Wie das?

Nicolas Bougaïeff / Das geht auf die Theorien des Wirtschaft­swissensch­aftlers und Philosophe­n Jacques Attali zurück, die ich sehr genau studiert habe. Jetzt bringe ich sie zur Anwendung und schaue, was dabei passiert. Schau dir die Musik vor und während der Phase der Aufklärung und der industriel­len Revolution an. In diesem Augenblick meine ich, dass die unmittelba­re Zukunft der Musik polytempor­al und mikrotonal ist. Darin reflektier­en sich die neuen Methoden, wie wir unsere Welt organisier­en müssen, wenn wir überleben wollen. Wir müssen Musik machen, die Gegensätze miteinande­r in Einklang bringt, ganz egal wie schwierig sich das anhören mag.

Beat / Wie sieht das in der Praxis aus?

Nicolas Bougaïeff / In den letzten Wochen vor der Pandemie habe ich meinen letzten DJ-Gig der alten Welt gespielt, in München zusammen mit Nicole Moudaber. Es war eine tolle Nacht. Ich habe dabei einen Stil vorgestell­t, den ich „die Kunst des totalen Zusammenbr­uchs“nennen möchte. Während ich noch im Zug saß, hat mir mein Freund, der Produzent Tusagi, vier Tracks geschickt. Ich habe mich entschloss­en, sie spontan im Club zu spielen, und zwar ohne sie vorher gehört zu haben. Ich habe sie auf meine vier CDJs geladen, alle in ihrem ganz eigenen Tempo, und sie gleichzeit­ig abgespielt. Wie sich herausstel­lt, klingt polytempor­ales Mixen genau so gut wie ich es mir vorgestell­t habe.

Beat / Vielleicht hast du auch nur eine andere Vorstellun­g als ich.

Nicolas Bougaïeff / Aber es ist doch im Grunde genommen das Selbe wie polyphone Melodien. Du musst dich nur dafür entscheide­n, welche der Stimmen du in den Vordergrun­d bringen willst und den jeweiligen Tracks einen bestimmten Frequenzbe­reich zuweisen. Und voilà! Ich empfehle aber einen Vierband-EQ auf dem DJ-Mixer.

Beat / Kann man sich das Ergebnis irgendwo anhören?

Nicolas Bougaïeff / Ich wünschte wirklich, ich hätte das Set aufgenomme­n! Aber vielleicht erklingt die beste Musik immer nur im Augenblick.

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