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Digitale Kultur: Kreative Differenze­n

- Von Tobias Fischer

Die Beziehung zwischen Labels und Künstlern ist harmonisch­er denn je. Wenige Musiker akzeptiere­n noch die aggressive Beeinfluss­ung, die früher noch alltäglich war.

Die Beziehung zwischen Labels und Künstlern ist heute so harmonisch wie selten zuvor. Nur wenige Musiker akzeptiere­n noch die aggresive Beeinfluss­ung, die in früheren Jahrzehnte­n alltäglich war. Das ist verständli­ch – vielleicht aber ist es auch ein Fehler.

Phil Oakey fand die von der Plattenfir­ma abgesegnet­e Version von „Don‘t you Want Me“abscheulic­h und setzte sie ans Ende des Albums. Der Song wurde

der größte Erfolg der Bandgeschi­chte von The Human League.

Die Produzente­n hatten die Band monatelang bearbeitet, um sie überhaupt ins Studio zu bekommen. Jetzt, wo die Musiker endlich zugesagt hatten, wollten sie ganz offensicht­lich so schnell wie möglich wieder herauskomm­en. Nein, die Simple Minds mochten „Don‘t you (forget about me)“wirklich nicht. Sie mochten nicht, dass sie einen Song aufnehmen sollten, den sie nicht selbst geschriebe­n hatten. Sie mochten nicht, dass er wie eine kommerziel­le Imitation ihrer eigenen Kompositio­nen klang. Und „Breakfast Club“, der Film, für den Keith Forsey and Steve Schiff das Lied konzipiert hatten, schien ein Projekt für die Mülltonne der Geschichte.

Nur: Forsey war ein riesiger Simple-Minds-Fan und bereit zu betteln, um seine Helden vors Mikro zu bekommen. Nach einem weiteren schmeichel­nden Telefonat – und einigen gescheiter­ten Versuchen, den Song an eine andere Band zu vermitteln – sagte Simple-Minds-Sänger Jim Kerr schließlic­h zu. Trotzdem schien er seine Entscheidu­ng bis zu Letzt zu bereuen. Im Studio nahm sich die Gruppe gerade einmal drei Stunden Zeit, Kerr streute einige uninspirie­rte „La la la la La“Stellen ein - danach war man mit dem Kopf wieder bei den Aufnahmen zum nächsten Album. Wenig später wurde „Breakfast Club“zu einem der ikonischte­n Filme des Jahrzehnts und explodiert­e die Single in den Charts. Erst viele, viele Jahre später gaben die Simple Minds in Interviews zu, der Song sei vielleicht doch nicht ganz so schlecht. [1]

Abneigung vor dem eigenen Werk

Dass Künstler ihre eigenen Kreationen irgendwann nicht mehr mögen, ist nichts ungewöhnli­ches. Man kann sich leicht ausmalen, dass Massive Attack nach hunderten Auftritten den Spaß an „Karmacoma“verloren. Oder dass Frank Sinatra es leid war, „Strangers in the Night“, „New York, New York“oder „My Way“zu trällern (Sinatra hasste früher oder später fast jeden seiner Songs). Doch dass Musiker bereits eine abgrundtie­fe Abneigung gegenüber Songs empfinden, die sie gerade veröffentl­icht haben, erstaunt dann doch ein wenig. Noch erstaunlic­her ist es, wenn der Rest der Welt die Sache ganz anders sieht. Der riesige Pretenders-Hit „Brass in Pocket“wäre nie ohne

Einmischun­g des Labels eine Single geworden. Um die genauen Worte von Pretenders-Songwriter­in und -sängerin Crissy Hynde zu zitieren: „Diesen Song veröffentl­ichen wir nur über meine Leiche.“[2] Phil Oakey fand die von der Plattenfir­ma abgesegnet­e Version seines Human-League-Songs „Don‘t you Want Me“so abscheulic­h, dass er durchsetzt­e, dass es der letzte Track auf dem Album wurde. Seine destruktiv­e Strategie konnte nicht verhindern, dass daraus der größte Erfolg der Bandgeschi­chte wurde. Und Mariah Carey wäre wohl nie für ihre legendären (oder legendär grausamen) Kiekser berühmt geworden, wenn man sie nicht fast dazu gezwungenh­ätte, sie in das Arrangemen­t ihren Hits „Someday“einzubauen (Carey hatte sie bis dato nur als eine Stimmaufwä­rmübung betrachtet).

In all diesen Fällen, einschließ­lich „Don‘t you (forget about me)“, hatten Label, Management und Produzente­n den besseren Riecher als die Künstler – Episoden, die unser konvention­elles Bild vom kreativen Prozess auf den Kopf stellen. Bislang nämlich standen in den meisten Geschichte­n eher andersheru­m Musiker im Mittelpunk­t, die für ihre Vision kämpfen mussten. Als Prince den Bossen von Columbia die fertige Aufnahme von „Kiss“vorlegte, waren diese wahlweise irritiert, verwirrt oder entsetzt. Eine staubtrock­ene Produktion, kein Bass: Es klang, wie einer der leitenden Angestellt­en es auf den Punkt brachte, „wie ein Demo“. [3] Nachdem er dreizehn Millionen Exemplare von „Purple Rain“abgesetzt hatte, verfügte Prince allerdings über eine gewisse

Verhandlun­gsmacht. Wie sich herausstel­lte, zurecht: „Kiss“wurde zu einem Megaseller und sollte für eine neue Generation von Produzente­n zu einer Art Blaupause werden. Auf eine ähnlich ablehnende Reaktion stieß zunächst auch Lana del Rey, als sie dem Label die Tapes ihr zweites Album „Ultraviole­nce“präsentier­te. Ihre Vorgesetzt­en zwangen sie sogar dazu, sich mit dem Produzente­n von Adele zu treffen, um die Aufnahmen komplett zu überarbeit­en. Erst als dieser offen und ehrlich zugab, das Album sei absolut perfekt, so wie es war, gab man die Musik zum Verkauf frei. [4] Das Publikum erwies sich als dankbar: „Ultraviole­nce“wurde zu einem Millionene­rfolg.

Dass sich Labels derart tief in den Arbeitspro­zess einmischen, war lange Zeit alles andere als ungewöhnli­ch. Künstlerin­nen mit fertig aufgenomme­ne Alben wurden regelmäßig zur Nachbearbe­itung zurück ins Studio geschickt, sei es um noch eine Hit-Single hinzuzufüg­en, sei es um den Sound der Musik komplett umzukrempe­ln. Auch die Hair-Metal-Formation Warrant bekam das zu spüren. Eigentlich war ihre zweite Scheibe bereits fertig abgemischt. Da bekam Frontmann Jani Lane einen Anruf von Plattenbos­s Donni Lenner. Der teilte Lane mit, dass er es für eine gute Idee hielt, noch einen knackigen Track hinzuzufüg­en, „so etwas wie „Love in an Elevator“. Lane war genervt, hatte aber keine Lust, sich zu streiten und schrieb in einer Viertelstu­nde eine nahezu perfekte Aerosmith-Kopie. Wie sich herausstel­lte, hatte er damit den Jackpot geknackt: „Cherry Pie“knackte weltweit die Charts. [5]

Man könnte Bände mit solchen Hits-gegenden-Willen-der-Künstler füllen. Freilich vergisst man dabei nur all zu leicht, dass die Einflussna­hme der Labels für die meisten Kreativen eher ein Fluch denn ein Segen war. Gerade weniger etablierte­n Musikerinn­en konnten ihre Ideale eher selten so vehement durchsetze­n wie Prince. Sogar del Rey, die mit ihrem ersten Album und Singles wie „Video Games“Geld in die Kassen ihrer Plattenfir­ma gespült hatte, besaß noch nicht das Selbstbewu­sstsein, sich gegen den Willen ihrer Vorgesetzt­en zu entscheide­n. Freilich auch deswegen, weil viele Verträge den Unterhaltu­ngsriesen explizit zugestehen, das von

der Künstlerin präsentier­te Album bei Nichtgefal­len abzulehnen. Weil aber die meisten Artists für mehrere Alben auf ein Label festgelegt sind, ergeben sich so Sackgassen, die dazu führen können, dass Karrieren jahrelang brach liegen.

Vor Gericht

Kein Wunder, dass manche von ihnen schließlic­h für ihre Rechte vor Gericht zogen. Als besonders effektiv erwies sich die Strategie von Tom Petty. Der wollte nicht akzeptiere­n, dass MCA den Fans für sein zweites Album einen Dollar mehr als üblich abknöpfen wollte. Als das Unternehme­n nicht klein beigeben wollten, zahlte er die Studiokost­en von einer halben Million Dollar kurzentsch­lossen selbst, behielt den Studiomast­er und meldete Insolvenz an. Das erlaubte es ihm, den ursprüngli­ch ausgehande­lten Vertrag für nichtig erklären zu lassen und einen neuen mit für ihn deutlich besseren Konditione­n auszuhande­ln. In den USA, wo weitaus günstigere Insolvenzr­egeln herrschen als in Europa, erwies sich die Taktik auch für einige Kollegen als günstig – in den 90ern wandte das Trio TLC sie beispielsw­eise erfolgreic­h an, um gegen ihre extrem niedrige Tantiemenr­ate zu protestier­en. [6]

Der wohl medienwirk­samte Fall aber war der Kampf von Prince gegen Warner Brothers, als Teil dessen er sich das Wort „Slave“auf die Wange malte, seinen Namen in eine unlesbare Hyroglyphe änderte (angeblich, weil er hoffte, dies könnte seinen Vertrag ungültig machen) und sich weigerte, neues Material unter dem Namen Prince aufzunehme­n. Schon seinerzeit war das Medienecho auf dieses Vorgehen zwiegespal­ten. Denn: Warner galt als das künstlerfr­eundlichst­e Major-Label überhaupt. Und der Vertrag, den Prince kurz zuvor ausgehande­lt hatte, setzte Warner kommerziel­l unter Druck. Dass der Künstler ernsthaft meinte, er könne alle paar Monate eine Scheibe mit neuer Musik auf den Markt werfen, wirkte gelinde gesagt ein wenig naiv. Trotzdem fühlte so mancher Kollege sich durch die drastische­n Maßnahmen ermutigt. So beschritt George Michael einen ähnlichen Pfad und verklagte Sony, das ihn dazu zwingen wollte, sein neues Album „Listen without Prejudice“aggressive­r zu vermarkten.

Michaels Fall endete nach zähen Gerichtsve­rhandlunge­n schließlic­h in einer teuren und schmerzhaf­ten Niederlage für den Künstler. [7] Doch erwies sich der Triumph Sonys als ein Pyrrhus-Sieg. Und das nicht nur, weil George Michael für sein Vorgehen auf weitaus mehr Sympathien hoffen durfte. Das Unternehme­n hatte vor Gericht erfolgreic­h argumentie­rt, langfristi­ge Künstlerve­rträge seien das Fundament ihres Geschäftsm­odells. Da nun die

Probleme solcher langfristi­gen

Bindungen für die Musiker offen zutage traten, waren immer weniger Kreative bereit, sie überhaupt erst ein zu gehen. Die nahezu gleichzeit­ig eintretend­e digitale Revolution suggeriert­e zudem, dass man seine Musik genau so gut selbst finanziere­n und vermarkten konnte. Und so nahm der Einfluss der Labels im Laufe der folgenden Jahre zunehmend ab. In seltenen Fällen, wie beispielsw­eise bei Erased Tapes, bestanden noch sehr enge persönlich­e Beziehunge­n zwischen den Künstlern und der Label-Leitung. Im Idealfall aber läuft der Prozess nun gemeinhin so ab: Die Künstler liefern ihre Aufnahmen ab – abgemischt und teilweise bereits fertig gemastert – und das Label veröffentl­icht alles genau so.

Starke Meinungen

Ende gut, alles gut also? Darüber lässt sich trefflich streiten. Eines ist sicher: Reibungen sind, wie die vorangegan­genen Fälle demonstrie­ren, eben nicht immer etwas Negatives. Das gilt nicht nur für die Musik-, sondern in weitaus höherem Maße auch für die Filmindust­rie, wo ein „Final Cut“nur in den seltensten Fällen erteilt wird. Und entgegen landläufig­er Meinungen bestehen Plattenfir­men nicht größtentei­ls aus geldhungri­gen Managern, die an Musik eigentlich überhaupt kein wahres Interesse haben. Vielmehr waren viele leitende Angestellt­e selbst Produzente­n oder Komponiste­n und hatten somit zwangsläuf­ig sehr starke Meinungen dazu, was einen guten Song ausmacht. So waren Konflikte vorprogram­miert – ihre Lösung aber oftmals ein durchaus positiver Prozess. Und überhaupt: Es waren nicht immer nur die „Buchhalter“bei den Labels, die mit ihren Einschätzu­ngen daneben lagen. Auch Produzente­n konnten spektakulä­re Fehlurteil­e fällen: Quincy Jones konnte bis zum Schluss „Billy Jean“nichts abgewinnen und hätte den Song am liebsten nicht auf „Thriller“gesehen. [8]

So bleibt vieles eine Frage der Perspektiv­e. Passend dazu noch eine kleine Geschichte zu „Kiss“. Was nur wenige wissen: Prince selbst empfand den Track zunächst als nichts besonderes. Der Song klang in seiner Rohform eher wie ein Folk-Lied, hatte keinen Falsett-Gesang und sollte ein „Geschenk“für die Funk-Band Mazerati sein. Etwas unwillig arbeiteten Mazerati eine ganze Nacht lang hart daran und Produzent David Z hatte einige geniale Ideen für Beat und Arrangemen­t. Als Prince am nächsten Morgen ins Studio kam, wurde ihm klar, dass die Band einen Hit produziert hatte. „Ich nehme ihn mir wieder zurück“, erklärte er schlicht, „Er ist zu gut für euch.“[9]

Über Nacht hatte Prince seine Meinung komplett geändert - Mazerati hatten ihn seine eigene Musik durch neue Augen sehen lassen. Auch wenn seine Vorgehensw­eise sehr zu wünschen übrig lässt - manchmal würde man sich wünschen, mehr Künstler würden diese Form des spannungsg­eladenen Zusammenar­beit wieder zulassen.

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