Digitale Kultur: Kreative Differenzen
Die Beziehung zwischen Labels und Künstlern ist harmonischer denn je. Wenige Musiker akzeptieren noch die aggressive Beeinflussung, die früher noch alltäglich war.
Die Beziehung zwischen Labels und Künstlern ist heute so harmonisch wie selten zuvor. Nur wenige Musiker akzeptieren noch die aggresive Beeinflussung, die in früheren Jahrzehnten alltäglich war. Das ist verständlich – vielleicht aber ist es auch ein Fehler.
Phil Oakey fand die von der Plattenfirma abgesegnete Version von „Don‘t you Want Me“abscheulich und setzte sie ans Ende des Albums. Der Song wurde
der größte Erfolg der Bandgeschichte von The Human League.
Die Produzenten hatten die Band monatelang bearbeitet, um sie überhaupt ins Studio zu bekommen. Jetzt, wo die Musiker endlich zugesagt hatten, wollten sie ganz offensichtlich so schnell wie möglich wieder herauskommen. Nein, die Simple Minds mochten „Don‘t you (forget about me)“wirklich nicht. Sie mochten nicht, dass sie einen Song aufnehmen sollten, den sie nicht selbst geschrieben hatten. Sie mochten nicht, dass er wie eine kommerzielle Imitation ihrer eigenen Kompositionen klang. Und „Breakfast Club“, der Film, für den Keith Forsey and Steve Schiff das Lied konzipiert hatten, schien ein Projekt für die Mülltonne der Geschichte.
Nur: Forsey war ein riesiger Simple-Minds-Fan und bereit zu betteln, um seine Helden vors Mikro zu bekommen. Nach einem weiteren schmeichelnden Telefonat – und einigen gescheiterten Versuchen, den Song an eine andere Band zu vermitteln – sagte Simple-Minds-Sänger Jim Kerr schließlich zu. Trotzdem schien er seine Entscheidung bis zu Letzt zu bereuen. Im Studio nahm sich die Gruppe gerade einmal drei Stunden Zeit, Kerr streute einige uninspirierte „La la la la La“Stellen ein - danach war man mit dem Kopf wieder bei den Aufnahmen zum nächsten Album. Wenig später wurde „Breakfast Club“zu einem der ikonischten Filme des Jahrzehnts und explodierte die Single in den Charts. Erst viele, viele Jahre später gaben die Simple Minds in Interviews zu, der Song sei vielleicht doch nicht ganz so schlecht. [1]
Abneigung vor dem eigenen Werk
Dass Künstler ihre eigenen Kreationen irgendwann nicht mehr mögen, ist nichts ungewöhnliches. Man kann sich leicht ausmalen, dass Massive Attack nach hunderten Auftritten den Spaß an „Karmacoma“verloren. Oder dass Frank Sinatra es leid war, „Strangers in the Night“, „New York, New York“oder „My Way“zu trällern (Sinatra hasste früher oder später fast jeden seiner Songs). Doch dass Musiker bereits eine abgrundtiefe Abneigung gegenüber Songs empfinden, die sie gerade veröffentlicht haben, erstaunt dann doch ein wenig. Noch erstaunlicher ist es, wenn der Rest der Welt die Sache ganz anders sieht. Der riesige Pretenders-Hit „Brass in Pocket“wäre nie ohne
Einmischung des Labels eine Single geworden. Um die genauen Worte von Pretenders-Songwriterin und -sängerin Crissy Hynde zu zitieren: „Diesen Song veröffentlichen wir nur über meine Leiche.“[2] Phil Oakey fand die von der Plattenfirma abgesegnete Version seines Human-League-Songs „Don‘t you Want Me“so abscheulich, dass er durchsetzte, dass es der letzte Track auf dem Album wurde. Seine destruktive Strategie konnte nicht verhindern, dass daraus der größte Erfolg der Bandgeschichte wurde. Und Mariah Carey wäre wohl nie für ihre legendären (oder legendär grausamen) Kiekser berühmt geworden, wenn man sie nicht fast dazu gezwungenhätte, sie in das Arrangement ihren Hits „Someday“einzubauen (Carey hatte sie bis dato nur als eine Stimmaufwärmübung betrachtet).
In all diesen Fällen, einschließlich „Don‘t you (forget about me)“, hatten Label, Management und Produzenten den besseren Riecher als die Künstler – Episoden, die unser konventionelles Bild vom kreativen Prozess auf den Kopf stellen. Bislang nämlich standen in den meisten Geschichten eher andersherum Musiker im Mittelpunkt, die für ihre Vision kämpfen mussten. Als Prince den Bossen von Columbia die fertige Aufnahme von „Kiss“vorlegte, waren diese wahlweise irritiert, verwirrt oder entsetzt. Eine staubtrockene Produktion, kein Bass: Es klang, wie einer der leitenden Angestellten es auf den Punkt brachte, „wie ein Demo“. [3] Nachdem er dreizehn Millionen Exemplare von „Purple Rain“abgesetzt hatte, verfügte Prince allerdings über eine gewisse
Verhandlungsmacht. Wie sich herausstellte, zurecht: „Kiss“wurde zu einem Megaseller und sollte für eine neue Generation von Produzenten zu einer Art Blaupause werden. Auf eine ähnlich ablehnende Reaktion stieß zunächst auch Lana del Rey, als sie dem Label die Tapes ihr zweites Album „Ultraviolence“präsentierte. Ihre Vorgesetzten zwangen sie sogar dazu, sich mit dem Produzenten von Adele zu treffen, um die Aufnahmen komplett zu überarbeiten. Erst als dieser offen und ehrlich zugab, das Album sei absolut perfekt, so wie es war, gab man die Musik zum Verkauf frei. [4] Das Publikum erwies sich als dankbar: „Ultraviolence“wurde zu einem Millionenerfolg.
Dass sich Labels derart tief in den Arbeitsprozess einmischen, war lange Zeit alles andere als ungewöhnlich. Künstlerinnen mit fertig aufgenommene Alben wurden regelmäßig zur Nachbearbeitung zurück ins Studio geschickt, sei es um noch eine Hit-Single hinzuzufügen, sei es um den Sound der Musik komplett umzukrempeln. Auch die Hair-Metal-Formation Warrant bekam das zu spüren. Eigentlich war ihre zweite Scheibe bereits fertig abgemischt. Da bekam Frontmann Jani Lane einen Anruf von Plattenboss Donni Lenner. Der teilte Lane mit, dass er es für eine gute Idee hielt, noch einen knackigen Track hinzuzufügen, „so etwas wie „Love in an Elevator“. Lane war genervt, hatte aber keine Lust, sich zu streiten und schrieb in einer Viertelstunde eine nahezu perfekte Aerosmith-Kopie. Wie sich herausstellte, hatte er damit den Jackpot geknackt: „Cherry Pie“knackte weltweit die Charts. [5]
Man könnte Bände mit solchen Hits-gegenden-Willen-der-Künstler füllen. Freilich vergisst man dabei nur all zu leicht, dass die Einflussnahme der Labels für die meisten Kreativen eher ein Fluch denn ein Segen war. Gerade weniger etablierten Musikerinnen konnten ihre Ideale eher selten so vehement durchsetzen wie Prince. Sogar del Rey, die mit ihrem ersten Album und Singles wie „Video Games“Geld in die Kassen ihrer Plattenfirma gespült hatte, besaß noch nicht das Selbstbewusstsein, sich gegen den Willen ihrer Vorgesetzten zu entscheiden. Freilich auch deswegen, weil viele Verträge den Unterhaltungsriesen explizit zugestehen, das von
der Künstlerin präsentierte Album bei Nichtgefallen abzulehnen. Weil aber die meisten Artists für mehrere Alben auf ein Label festgelegt sind, ergeben sich so Sackgassen, die dazu führen können, dass Karrieren jahrelang brach liegen.
Vor Gericht
Kein Wunder, dass manche von ihnen schließlich für ihre Rechte vor Gericht zogen. Als besonders effektiv erwies sich die Strategie von Tom Petty. Der wollte nicht akzeptieren, dass MCA den Fans für sein zweites Album einen Dollar mehr als üblich abknöpfen wollte. Als das Unternehmen nicht klein beigeben wollten, zahlte er die Studiokosten von einer halben Million Dollar kurzentschlossen selbst, behielt den Studiomaster und meldete Insolvenz an. Das erlaubte es ihm, den ursprünglich ausgehandelten Vertrag für nichtig erklären zu lassen und einen neuen mit für ihn deutlich besseren Konditionen auszuhandeln. In den USA, wo weitaus günstigere Insolvenzregeln herrschen als in Europa, erwies sich die Taktik auch für einige Kollegen als günstig – in den 90ern wandte das Trio TLC sie beispielsweise erfolgreich an, um gegen ihre extrem niedrige Tantiemenrate zu protestieren. [6]
Der wohl medienwirksamte Fall aber war der Kampf von Prince gegen Warner Brothers, als Teil dessen er sich das Wort „Slave“auf die Wange malte, seinen Namen in eine unlesbare Hyroglyphe änderte (angeblich, weil er hoffte, dies könnte seinen Vertrag ungültig machen) und sich weigerte, neues Material unter dem Namen Prince aufzunehmen. Schon seinerzeit war das Medienecho auf dieses Vorgehen zwiegespalten. Denn: Warner galt als das künstlerfreundlichste Major-Label überhaupt. Und der Vertrag, den Prince kurz zuvor ausgehandelt hatte, setzte Warner kommerziell unter Druck. Dass der Künstler ernsthaft meinte, er könne alle paar Monate eine Scheibe mit neuer Musik auf den Markt werfen, wirkte gelinde gesagt ein wenig naiv. Trotzdem fühlte so mancher Kollege sich durch die drastischen Maßnahmen ermutigt. So beschritt George Michael einen ähnlichen Pfad und verklagte Sony, das ihn dazu zwingen wollte, sein neues Album „Listen without Prejudice“aggressiver zu vermarkten.
Michaels Fall endete nach zähen Gerichtsverhandlungen schließlich in einer teuren und schmerzhaften Niederlage für den Künstler. [7] Doch erwies sich der Triumph Sonys als ein Pyrrhus-Sieg. Und das nicht nur, weil George Michael für sein Vorgehen auf weitaus mehr Sympathien hoffen durfte. Das Unternehmen hatte vor Gericht erfolgreich argumentiert, langfristige Künstlerverträge seien das Fundament ihres Geschäftsmodells. Da nun die
Probleme solcher langfristigen
Bindungen für die Musiker offen zutage traten, waren immer weniger Kreative bereit, sie überhaupt erst ein zu gehen. Die nahezu gleichzeitig eintretende digitale Revolution suggerierte zudem, dass man seine Musik genau so gut selbst finanzieren und vermarkten konnte. Und so nahm der Einfluss der Labels im Laufe der folgenden Jahre zunehmend ab. In seltenen Fällen, wie beispielsweise bei Erased Tapes, bestanden noch sehr enge persönliche Beziehungen zwischen den Künstlern und der Label-Leitung. Im Idealfall aber läuft der Prozess nun gemeinhin so ab: Die Künstler liefern ihre Aufnahmen ab – abgemischt und teilweise bereits fertig gemastert – und das Label veröffentlicht alles genau so.
Starke Meinungen
Ende gut, alles gut also? Darüber lässt sich trefflich streiten. Eines ist sicher: Reibungen sind, wie die vorangegangenen Fälle demonstrieren, eben nicht immer etwas Negatives. Das gilt nicht nur für die Musik-, sondern in weitaus höherem Maße auch für die Filmindustrie, wo ein „Final Cut“nur in den seltensten Fällen erteilt wird. Und entgegen landläufiger Meinungen bestehen Plattenfirmen nicht größtenteils aus geldhungrigen Managern, die an Musik eigentlich überhaupt kein wahres Interesse haben. Vielmehr waren viele leitende Angestellte selbst Produzenten oder Komponisten und hatten somit zwangsläufig sehr starke Meinungen dazu, was einen guten Song ausmacht. So waren Konflikte vorprogrammiert – ihre Lösung aber oftmals ein durchaus positiver Prozess. Und überhaupt: Es waren nicht immer nur die „Buchhalter“bei den Labels, die mit ihren Einschätzungen daneben lagen. Auch Produzenten konnten spektakuläre Fehlurteile fällen: Quincy Jones konnte bis zum Schluss „Billy Jean“nichts abgewinnen und hätte den Song am liebsten nicht auf „Thriller“gesehen. [8]
So bleibt vieles eine Frage der Perspektive. Passend dazu noch eine kleine Geschichte zu „Kiss“. Was nur wenige wissen: Prince selbst empfand den Track zunächst als nichts besonderes. Der Song klang in seiner Rohform eher wie ein Folk-Lied, hatte keinen Falsett-Gesang und sollte ein „Geschenk“für die Funk-Band Mazerati sein. Etwas unwillig arbeiteten Mazerati eine ganze Nacht lang hart daran und Produzent David Z hatte einige geniale Ideen für Beat und Arrangement. Als Prince am nächsten Morgen ins Studio kam, wurde ihm klar, dass die Band einen Hit produziert hatte. „Ich nehme ihn mir wieder zurück“, erklärte er schlicht, „Er ist zu gut für euch.“[9]
Über Nacht hatte Prince seine Meinung komplett geändert - Mazerati hatten ihn seine eigene Musik durch neue Augen sehen lassen. Auch wenn seine Vorgehensweise sehr zu wünschen übrig lässt - manchmal würde man sich wünschen, mehr Künstler würden diese Form des spannungsgeladenen Zusammenarbeit wieder zulassen.