Interview: Michael Rother Das Gefühls-Ventil
Fünfzehn Jahre lang gab es kein neues Album von Michael Rother. Alles deutete darauf hin, dass die Recording-Karriere der NEU!- und Harmonie Legende vorbei war. Mit „Dreaming“aber kehrt er zurück mit einem Werk, das seinem Titel mit warmen Harmonien, intimen Vocals und sinnlichen Beats alle Ehre macht. „Dreaming“ist Teil einer neuen CD-Box mit Rothers gesammelten Solo-Alben – und wird damit zu einem Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Beat / Du bist in einer Zeit aufgewachsen, in der Kunst und Politik augenscheinlich sehr eng miteinander verknüpft waren.
Michael Rother / Ich habe mich spätestens seit Ende der 60er Jahre immer als politisch denkenden Menschen verstanden. Die Kriegsdienstverweigerung 1969 war die logische Folge meiner Auseinandersetzung mit dem Zeitgeschehen. Die Studentenunruhen, der Kampf der schwarzen Bevölkerung gegen Repression und um Gleichberechtigung in den USA sowie der Vietnamkrieg haben neben vielen anderen politischen Ereignissen mein Weltbild geprägt.
Beat / Wie hat sich das auf deine Sicht auf deine Rolle als Künstler ausgewirkt?
Michael Rother / Mein Bestreben, in der Musik eine eigene Handschrift und Identität zu entwickeln, war mit der politischen Auseinandersetzung untrennbar verbunden. Die Abwendung von den angloamerikanischen Vorbildern und Klischees der Pop- & Rockmusik war dafür notwendig und logisch.
Beat / Das haben viele andere deutsche Bands damals auch. Trotzdem klangen NEU! und dann später deine Solo-Alben auffällig anders. Es schien alles ein wenig konzentrierter, auf den Punkt.
Michael Rother / Anders als viele Bands zu Anfang der 70er Jahre, wie zum Beispiel Can, haben NEU! und auch Harmonia nie endlos lang improvisiert, um dann aus 45 Minuten 5 Minuten für eine Veröffentlichung zu destillieren und zu editieren. Wir haben im Studio fast immer ganz konkret jeweils an einer Idee für ein Stück gearbeitet und es mit Overdubs ausgestaltet, bis uns das Bild gefiel. Bei NEU! war es fast so, als wenn Klaus Dinger und ich wie zwei “Action Painters” nebeneinander vor der Leinwand standen und auf die Beiträge des anderen spontan reagierten.
Neue Möglichkeiten
Beat / Man kennt dich vor allem als Gitarristen. Dabei hast du bereits bei NEU! viele verschiedene Instrumente gespielt, darunter auch Synthesizer. Erinnerst du dich noch an den Moment, als du sie für dich entdeckt hast?
Michael Rother / 1982 entdeckte ich den Fairlight Music Computer, der mir ganz neue Möglichkeiten der Klang-Gestaltung und –Programmierung bot. Das System war zwar unglaublich teuer – man hätte ein kleines Haus für den Preis des Fairlight kaufen können - aber es bereicherte meine musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten ganz entscheidend. Über Monate habe ich die verschiedenen Ebenen der Software erforscht und dabei Kompositionen entwickelt, die die Möglichkeiten ausschöpften.
Beat / Wie sah dein damaliges Studio aus?
Michael Rother / Zu Harmonia-Zeiten in den frühen 70ern gab es in unserem Studio außer zweier Revox-Tonbandgeräten und einem kleinen Mischpult keine wirklichen Studiomaschinen. Entsprechend lief auch der Arbeitsprozess für das erste
Hamonia-Album ab. Wir nahmen zu Dritt live auf einem Tonbandgerät auf, spielten anschließend die Aufnahme ab, fügten erneut live weitere Elemente dazu und nahmen die Summe auf dem zweiten Tonbandgerät auf. Dadurch verloren wir zwar durch den Kopierverlust etwas an Klangqualität, aber das kompensierten wir mit Enthusiasmus und der unbegrenzten Zeit, die uns in unserem eigenen Studio zur Verfügung stand.
Beat / Man hört auch aus deinem neuen Album „Dreaming“heraus, wie wichtig dir gerade der Klangaspekt ist.
Michael Rother / Während des Prozesses der Fertigstellung durchläuft ein Stück oft Wandlungen. Klangbearbeitungen spielen dabei eine große Rolle. Bei den allerletzten Arbeiten an einem Stück, wenn es um Feinheiten geht, wechsele ich oft zwischen kleinen und großen Lautstärken. Ich finde die dadurch entstehende unterschiedliche Wirkungsweise der Musik interessant und aussagekräftig. Auch mit Kopfhörern überprüfe ich die Mischung auf Besonderheiten des Stereobildes und der Stereoeffekte mancher Sounds.
Beat / Das Equipment war damals deutlich pflegeintensiver. Was für Herausforderungen haben sich daraus ergeben?
Michael Rother / Sobald es mir der kommerzielle Erfolg meiner ersten Solo-Alben ermöglichte, kaufte ich professionelle Studiogeräte. Dabei orientierte ich mich an den Maschinen, die Conny
Ich schätze die Abwesenheit von Musik meistens sehr. Mein Gehirn befasst sich fast immer mit ihr, ob ich es will oder nicht. Ich kann dann fast nichts anderes machen, als ihr zu folgen. «
Plank in seinem Studio verwendete. Das war für einen Technik-Laien wie mich natürlich eine sehr optimistische Entscheidung, und so erlebte ich bei der Bedienung und Wartung dieser komplexen Geräte einige Schwierigkeiten. Trotzdem habe ich die Entscheidung, professionelle Studiogeräte zu erwerben, nie bereut. Ich war sehr glücklich, ab Ende der 70er Jahre ohne Zeitbegrenzung und mit bester Tonqualität in meinem Studio an den Alben feilen zu können.
Unerwartete Ruhe
Beat / Wie haben bis jetzt vor allem über die Vergangenheit gesprochen. Das interessante ist, dass auch dein aktuelles Album „Dreaming“in gewisser Weise zeitlich etwas zurückgreift. Erzähl mir doch bitte davon, wie die Musik zustande gekommen ist.
Michael Rother / Die Absage aller Tourneen und Konzerte ab Mitte März 2020 hat wie bei vielen Menschen auch in meinem Leben eine unerwartete Ruhe eintreten lassen, ein gewisses Vakuum geschaffen. Ich hatte plötzlich Zeit, mich mit neuer Musik zu befassen, anstatt die nächsten Konzerte und Reisen vorzubereiten. Es war ein glücklicher Zufall, dass das Label Grönland ohnehin die Idee verfolgte, im Herbst 2020 eine zweite Box mit meinen Original-Soloalben zu veröffentlichen. Wir haben über die Details nachgedacht und überlegt, welches zusätzliches Material die Box bereichern würde. Da entstand in meinem Kopf der Gedanke, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war, mich erneut mit dem Material aus der 1997er Session mit der Sängerin Sophie Joiner zu befassen.
Beat / Du hattest auf dem wunderbaren Pop-Electronica-Album „Remember [The Great Adventure]“mit ihr kollaboriert..
Michael Rother / Genau. Dabei war ja nur ein kleiner Teil der vielen Ideen veröffentlicht worden. 1997 hatte ich circa 75 Skizzen für Kompositionen entwickelt, von denen die allermeisten in 2004 nicht zu Ende entwickelt worden sind. Diesen Pool an
Kompositionen habe ich jetzt analysiert und diejenigen Ideen fortgeschrieben, die mir besonders gefielen.
Beat / Wie hat sich dein Arbeitsprozess seitdem verändert?
Michael Rother / Seit einiger Zeit ziehe ich es vor, mitten in meinem Lebensbereich – Wohnzimmer, Küche usw. - zu arbeiten. Das ist durch die Computerisierung möglich geworden. Das Equipment ist viel kleiner und handlicher geworden. Ab April 2020 befand ich mich in einem Tagesrhythmus, der von der täglichen Arbeit an der Musik bestimmt war. Es ist für mich wichtig, dass es eine Routine und Selbstverständlichkeit wird, an Musik zu arbeiten, sie den ganzen Tag im Kopf herumzubewegen, die Wohnung mit neuen Klängen zu beschallen.
Beat / Interessant. Ich hatte auch einmal gelesen, dass du eine ganze Weile auch gar nicht mit Musik beschäftigt hast. Das heißt: Wenn du Musik produzierst oder hörst, dann auch mit Haut und Haar?
Michael Rother / Es stimmt, dass ich die Abwesenheit von Musik meistens sehr schätze, weil sich mein Gehirn fast immer mit ihr befasst, ob ich es will oder nicht,und ich dann fast nichts anderes machen kann, als der Musik zu folgen. In öffentlichen Bereichen wie Supermärkten und dergleichen ist es besonders ärgerlich. Ich ziehe es vor, Musik mit aller Konzentration und Freude zu genießen, wenn mir danach ist, und wenn die richtige Situation dafür gegeben ist. Ich will niemanden überzeugen, so wie ich zu empfinden, aber Musik ganz bewusst erleben zu wollen und nicht nur als Nebengeschehen, ist Ausdruck meiner großen Liebe zur Musik und ihrer Macht, den Intellekt und das Gefühl gleichermaßen anzusprechen und zu bereichern.
Schöne Landschaften
Beat / Warum der Titel „Dreaming“?
Michael Rother / Ich träume recht oft und manchmal sehr intensiv von besonders schönen
Landschaften und Stränden oder von Reiseerlebnissen. Menschen aus meinem Leben, wie verstorbene Familienangehörige oder Freunde und Musikerkollegen wie Dieter Moebius, erscheinen auch sehr lebendig und wie selbstverständlich.
Beat / Klingt sehr friedvoll und angenehm.
Michael Rother / Ja, aber andere Träume haben mit Stress-Situationen zu tun. Auf meinen Tourneen und Reisen verfolgt mich oft die Sorge, etwas zu vergessen oder Flüge zu verpassen. In einem Traum, an den ich mich gut erinnere, war ich an einem riesigen Flughafen in China. Meine Musiker waren plötzlich nicht mehr zu sehen, es gab niemanden, den ich um Auskunft bitten konnte. Und so fand ich mein Abfluggate nicht - und verpasste den Flug.
Beat / Und so etwas fließt dann in die Arbeit an dem Album mit ein?
Michael Rother / Ich denke, dass diese Träume Beispiele sind für verschiedene seelische Verarbeitungen von Gedanken, die mich während des Tages begleiten. Eine direkte Verbindung zur Musik, die ich gerade in Arbeit habe, gibt es (wahrscheinlich) nicht, aber natürlich denke ich an verstorbene Menschen und an Probleme und Freuden beim Reisen. Insofern überraschen mich die Träume nicht. Sie sind ein Ventil für meine Gefühle, Erinnerungen, Sorgen und Hoffnungen.den ich um Auskunft bitten konnte. Und so fand ich mein Abfluggate nicht - und verpasste den Flug.