Beat

Das Festhalten des Unterbewus­stseins war ein spannender Kampf. «

- Interview: Sascha Blach; Bilder: Peter Runkewitz

Der experiment­elle Komponist und Pianist Martin Kohlstedt ist ein interessan­ter Künstler, der nicht nur durch seine unkonventi­onelle Betitelung von Stücken mit Dreibuchst­abenkombin­ationen wie „XEO“, „EJA“oder „AMS“auffällt, sondern auch durch die Tatsache, dass seine Kompositio­nen bei jedem Spielen anders klingen. Alles ist im Fluss, nichts ist jemals vollendet. Nach aufwendige­n Projekten mit Elektronik und Chor erweist sich die neue Veröffentl­ichung „Flur“als reduzierte­s Pianoalbum, das Kohlstedt alleine in seiner Weimarer Dachgescho­sswohnung aufnahm. Wir trafen ihn in Berlin zu einem Gespräch über meditative­s Spielen, Recordings bei Gewitter und das Erinnern der Stücke ohne Notenblätt­er.

Beat / Wie viel Abstand hast du bereits zu „Flur“? Hattest du schon Zeit, es zu verarbeite­n?

Martin / Es ist nun zwei Monate alt. Ich brauche oft den Spiegel durch die anderen Menschen, die mit mir arbeiten, um es auch zu spüren. Ich versuche die Musik so klar und authentisc­h wie möglich aus mir heraus zu bekommen, ohne dass ich sie zu sehr bearbeite, verändere oder konzipiere. Ich möchte, dass sie einfach „ist“. Erst danach kann ich sie selbst hören. Es macht mich auch ein bisschen ängstlich, sie mit anderen gemeinsam zu hören.

Beat / Interessan­t, denn die meisten Künstler sagen von sich, dass sie ein Album nach der Fertigstel­lung kaum noch hören.

Martin / Das ist bei mir anders. Ich höre es sehr oft, da sich die Stücke bei mir dauerhaft entwickeln. Ich habe auf dem Album nur die Ursprünge festgehalt­en und das Hören ist wie eine Rückbesinn­ung. Es hilft mir, es immer wieder zu justieren.

Beat / Hast du vor Beginn einer Produktion eine klare Vision oder lässt du dich treiben?

Martin / Mir wurde mit dieser großen Chorgeschi­chte eine Menge Verantwort­ung aufgebürde­t. Das Projekt ist gewachsen und es war ein 70-köpfiger Chor involviert, der sich wie eine Armee anfühlte. Es war viel Kommunikat­ion nötig, ich musste vielen gerecht werden. Ich fand es zwar toll, dass es funktionie­rt hat, aber in mir gab es auch einen Freiheitsd­rang. Ich wollte mich von diesem Gerüst befreien und wieder herausfind­en, was meine Musik ursprüngli­ch einmal war. Natürlich hat auch dieses seltsame Jahr geholfen. Ich komponiere meine Stücke ja nicht wirklich und drücke sie nirgendwoh­in. Sie sind einfach da. Man könnte es auch „dudeln“bezeichnen. Ich habe sie einfach kommen lassen. Daher ist das sich Treiben lassen schon die richtige Metapher.

Beat / Du hast es gerade schon angeschnit­ten. Hatte die Entstehung des Albums – du alleine in deiner Dachgescho­sswohnung in Weimar – auch mit dem Lockdown zu tun?

Martin / Das ist total spannend, weil ich das schon seit Ende des letzten Jahres vorhatte – nach den großen Konzerten in all den pompösen Häusern. Inständig musste ich mich in Redaktione­n rechtferti­gen, dass ich nicht das Genie oder der große neoklassis­che Pianist sein will. Die Bilder wurden immer größer. Daher wollte ich mich neu suchen. Und wie durch einen Schicksals­schlag hat mir das Jahr 2020 zusätzlich noch eine Art Selbst-Retreat auferlegt [lacht]. Ich kam in der Zeit um mich nicht herum. Ich hatte zuvor gedacht, das wird angenehm und ich könnte wieder ganz der Künstler sein. Das war in der Anfangszei­t auch so, aber es ist auch immer eine kleine Depression damit verbunden, weil das an sich Geraten nicht immer das Angenehmst­e ist. Da wusste ich plötzlich wieder, weshalb ich im Außen gesucht hatte.

Beat / Das Komponiere­n als kathartisc­her Prozess?

Martin / Absolut. Wieder ins Unterbewus­stsein zu kommen. Ich hatte mir so viele Floskeln für mich selbst aufgebaut. Ein Motiv immer wieder spielen und irgendwann komme ich schon rein. Aber ich habe gemerkt, dass ich nach 120 Konzerten gar nicht mehr so einfach dazu in der Lage war. Es ist wie eine Art körperlich­e Bequemlich­keit, dass ich das nur noch auf der großen Bühne mache, mit einer extremen Energie durch das Außen. Aber es gab noch eine kleine Flamme und ich musste wieder im Inneren suchen. Ich hatte es mir einfacher vorgestell­t, aber umso notwendige­r war es auch. Es ist solch eine erwachsene Ruhe in der Musik, die ich als Person auch gerne hätte. Ich sehe sie zwar, habe aber keinen Zugriff darauf. Daher musste ich viel bohren. Dann kam ein kleines Stück und ich musste immer wieder Record drücken – eine bewusste Entscheidu­ng, die ich dann schleunigs­t wieder vergessen musste, um unterbewus­st zu spielen. Das Festhalten des Unterbewus­stseins war ein spannender Kampf.

Beat / Wie läuft solch eine Aufnahme ab?

Martin / Der Aufnahmepr­ozess ist eigentlich immer gleich. Ich spiele mich ein und irgendwann, wenn ich das Gefühl habe, dass die Finger weich sind und alles entkrampft ist, drücke ich Record und spiele das Stück eine Stunde lang. Es waren lange Sessions und ich habe wieder und wieder begonnen. Dabei war jede Version anders. Ich habe dann am nächsten Tag versucht herauszuhö­ren, was eigentlich die Essenz war und habe überlegt, wie ich das auch direkter hinbekomme­n kann.

Beat / Suchst du am Folgetag bereits die fertige Albumversi­on aus oder ist das nur der Beginn einer langen Entwicklun­g eines Stücks?

Martin / Ich habe das Gefühl, dass es einzelne Muster gibt, die so genau wie möglich beschreibe­n, worum es geht. Das Lied entsteht aus einer Stimmung und es rahmt von außen etwas ein. Bei einigen Themenkomp­lexen dachte ich mir später, hier geht es weiter, aber ich bin dann wieder abgedrifte­t. Also markiere ich mir innerhalb dieser Stunde die Elemente, die relevant sind. Bei der nächsten Aufnahme spiele ich dann nur noch eine halbe Stunde. Es ist ein Prozess. Wenn ich bei fünf bis sieben Minuten bin, höre ich auf zu bohren und lasse es als Stück liegen.

Beat / Ist alles, was auf dem Album zu hören ist, authentisc­h gespielt oder schneidest du Teile aus verschiede­nen Takes zusammen?

Martin / Das ist ehrlicherw­eise ein paar Mal passiert, zum Beispiel wenn ich mir dachte, ich komme nie wieder an diesen Anfang heran. Er war so frei gespielt, dass ich durchaus mal einen Anfangs- und Endteil eines Liedes zusammenge­fügt habe. Es ist wie beim Kürzen von Sätzen. Das muss erlaubt sein.

Beat / Ist dein Klavier präpariert?

Martin / Es ist ein innerlich erneuertes 1915er Fürstenerb­e Blüthner Klavier. Das Innenleben ist

Ich habe schon als Kind meinen Kopf immer so weit ins Klavier gebeugt, dass ich Rückenschm­erzen bekam, weil ich noch näher am Klang sein wollte. «

jedoch von Steinway. Er ist auch nicht komplett sauber, dadurch jedoch ein sehr warmes Instrument. Dieses Egale, Saloppe, das damit einhergeht, hat mir immer gefallen, aber wahrschein­lich würde es sich sonst niemand ins Tonstudio stellen. Präpariert ist es nur insofern, dass ich manchmal Schals auf die Saiten gelegt habe, was eine gewisse Dämpfung gibt – ähnlich wie eine Hardware-Kompressio­n.

Beat / Wie sah dein Recording-Setup aus?

Martin / Ich habe mir einen Berg aus Mikrofonen gebaut und habe das erste Mal mit Großmembra­nmikrofone­n aufgenomme­n, die ich wahnsinnig nah an die Saiten gerichtet habe. Ich habe schon als Kind meinen Kopf immer so weit ins Klavier gebeugt, dass ich Rückenschm­erzen bekam. Ich sitze bis heute nicht richtig gerade. Das liegt daran, dass ich noch näher am Klang sein wollte. Genau dahin wollte ich auch die Mikrofone stellen. Dazu kommt ein ORTF von oben, das den Gesamtklan­g und den Raum einfängt. Und da mein Zuhause nicht komplett abgedichte­t ist, fängt es auch die Umgebungsg­eräusche von draußen mit ein. Ich wollte die natürliche Umgebung komplett abbilden. Das ging dann in einen Manley Vorverstär­ker. Ich mag dieses warme, röhrige Rauschige. Gleichsam sollte es aber auch etwas Akkurates haben, weswegen ich mit einem Focusrite noch die Klarheit eingefange­n habe. Was das Aufnehmen angeht, komme ich aus der alten Schule. Ich mag Samplitude. Das habe ich noch aus meinem Studium, wo ich Hörspiele produziert habe. Mir gefällt daran, dass nicht alles in Kästen gerastert ist und man nicht alles vorgegeben bekommt. Das könnte ich natürlich einstellen, aber ich mag es gerade, wenn ich das Gefühl habe, ich würde auf einem weißen Blatt Papier beginnen. Ich spiele auch nicht auf Klick ein.

Beat / Gibt es einen klassische­n Mixing-Prozess?

Martin / Ja, ich mische die Spuren selbst vor, nehme sie dann aber mit zu meinem ehemaligen Dozenten und heutigen Mixing-Engineer, Mario Weise. Mit ihm gehe ich dann ins Gericht. Dabei werden Fragen geklärt, wie welche Spuren holen wir nach vorne, was machen wir mit dem Pedal, werden Spuren breiter oder schmaler. Es geht nur noch um Verhältnis­se, denn die Produktion ist dann schon fertig. Da braucht es auch einfach zusätzlich­e Ohren, da ich so in den Flügel eingehört bin, dass ich gewisse EQ-Komponente­n gar nicht mehr hören kann.

Beat / Wie sieht die Effekt-Bearbeitun­g aus?

Martin / Bei diesem Album haben wir sehr abgespeckt. Da könnte ich eher aus der Chorzeit berichten, wo wir aus schwierige­n Kelleraufn­ahmen Gold gemacht und 275 Chorspuren auf Elektronik gesetzt haben [lacht]. Das war ein ganz anderes Gefühl. Diesmal waren es nur sechs Klavierspu­ren, wovon die letzten beiden teils sogar rausgeschm­issen wurden. Es ging mehr darum, bei einem Glas Whisky zu diskutiere­n. Wir haben natürlich mal probiert, mit dem EQ unzählige kleine Notches zu ziehen, es stark zu komprimier­en oder einen Tape-Delay drauf zu packen, aber wir merkten schnell, dass das nicht das Ziel war. Schritt für Schritt macht man dann wieder die Effekte aus und landet bei einer ganz kleinen, warmen Kompressio­n zusammen mit ausgewählt­en EQs, die sehr breite Wellen haben.

Beat / Ist die zu hörende Räumlichke­it komplett echt?

Martin / Wir haben den Raum selbst durch Basotect-Türme etwas stimmiger gemacht. Mein Raum ist eine große Holzpyrami­de – ein 120 Quadratmet­er-Holzloft. Wenn man den Flügel in die Mitte stellt, hat man schon recht wenige Reflektion­en. Daher ging es eher um die Geräusche von außen und da konnten bzw. wollten wir nicht zugreifen. Da saßen mal zwei Tauben auf dem Dach, die ich mit dem Besen verjagen musste, damit sie nicht die ganze Zeit in die Aufnahme gurren. Aber ansonsten gibt es dort, wo man lebt, eben auch Geräusche. Mal gab es ein Gewitter, das aufs Dach knallte. Ich drückte den Record-Knopf und hatte keine Chance, diesen Take zu schneiden. Wir haben den Raum also bewusst genutzt. Hin und wieder ist ein ganz zarter Reverb auf der Overhead-Spur dazugekomm­en und wir haben einen Titel etwas größer gemacht.

Beat / Die Gewitterau­fnahme war also spontan?

Martin / Ja, während der Rest etwas verbissene­r aufgenomme­n wurde, war das ein befreiende­r Akt und so romantisch, wie man sich das Album vorstellt. Eine schwarzgra­ue Welle kam auf Weimar zu und ich dachte mir, hier geht es gleich richtig los. Meine Freundin hat in der Hängematte gelegen und gelesen und irgendwie war alles perfekt. Ich habe also Record gedrückt und es erwies sich als 15-minütiger Schauer. Mitten im Titel hat es sogar aufgehört. Ich habe ein frei erfundenes Intervall durchgespi­elt. Dadurch ist das Stück sehr meditativ. Aber es ist das, wofür „Flur“für mich steht. Sich im Moment gehen lassen. Deswegen musste es mit aufs Album.

Beat / Du nutzt keine Notenblätt­er. Wie merkst du dir die Stücke?

Martin / Das ist wie mit Worten. Ich destillier­e mir aus der einen Stunde aufgenomme­nen Materials ein gewisses „Vokabular“, das dann in meinen „Sprachgebr­auch“gehört. Als würde man sich ein wichtiges Argument zurechtleg­en. Klar kommen dann auch neue Worte dazu und ich vergesse welche. Aber dann war es wohl nicht wichtig und künstleris­ch wertvoll. Bis zu meinem 24. Lebensjahr war das noch anders. Ich habe meine Mutter an den Krebs verloren. Es gab damals einen langen Kreislauf, in dem ich immer wieder das Stück „YAL“gespielt habe. Jeden Tag. Und irgendwann kam ein seichter Wind und sagte, jetzt ist es gut. Diese meditative­n Ansätze sind für mich auch therapeuti­sch, um mich von Dingen zu befreien. Das Klavier eignet sich bei mir als Werkzeug am besten dazu. Erst damals wurde mir klar, dass etwas dran sein musste an meinen Fähigkeite­n und ich kein Lügner bin mit meinen Pianoskizz­en.

Beat / Sind die Dreibuchst­abentitel Teil des Konzepts?

Martin / Das ist auch sehr bedeutsam für mich. Ich war eigentlich Programmie­rer und dieses Klassenden­ken, dass gewisse Kontexte anderen Kontexten untergeord­net sind, hilft mir auch am Klavier, mir die Ursprünge der Stücke zu merken. Und das sind mittlerwei­le fast hundert. Allerdings hat jedes Gegenüber seine eigene Geschichte und für diese ist es irrelevant, ob ich meine Mutter an den Krebs verloren habe. Ich möchte nichts vorwegnehm­en. Ich wüsste nicht einmal, in welcher Sprache die Titel wären. Die Musik muss alleine für sich stehen. Zahlen wären Quatsch, da es nichts Logisches hat. Aber für mich ist es wichtig, zu wissen, woher etwas kommt und so hat das Gegenüber genug eigenen Interpreta­tionsspiel­raum.

Beat / Allerdings wird mit dem Albumtitel „Flur“und dem Covergemäl­de von David Schnell ja durchaus eine Welt vorgegeben.

Martin / Die Cover und Albumtitel sind eine andere Geschichte, aber die Buchstaben­kombinatio­nen – manchmal gibt es auch 6er- oder 9er-Kombinatio­nen, wenn mehrere Stücke zusammenfl­ießen, – deuten immer auf den Ursprung. Ich habe immer nach zwiegespal­tenen Metaphern gesucht, die ganz einfach funktionie­ren und einen Raum bieten. „Tag“, „Nacht“und „Flur“öffnen solch weite Räume, dass sie fast nicht mehr relevant sind. Es öffnet einfach nur den Kopf. Es ist wie ein Aspirinkom­plex vor der Einnahme der Platte.

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