VERLORENER ZAUBER
Mit immer aufwendigeren Box-Sets und Superdeluxe-Editionen versucht die Musikindustrie, den Markt für physische Tonträger zu beleben und abzuschöpfen. Die Ergebnisse sind für Fans eine wahre Fundgrube. Trotzdem bleibt am Ende oftmals nichts als Enttäuschung: Hinter den kostspieligen Sondereditionen verbirgt sich ein kühl kalkuliertes Versprechen, das selbst die umfangreichsten Veröffentlichungen nicht halten können.
Für Prince war Dekadenz ganz gewiss kein Fremdwort. In den Spitzenjahren seines Ruhms umfassten seine Bedingungen für den Backstage-Bereich: Lila gestrichene Wände, eine Limousine um ihn von der Umkleide zur Bühne zu chauffieren und die „absolut notwendige“Anforderung, dass alles in Plastik eingeschweißt sein musste. Einmal enthielt der Vertrag die Klausel, dass direkt neben dem Veranstaltungsort ein Haus für ihn gebaut werden sollte. [1] Doch sogar ihm wäre das aktuelle, posthum erschienene Box-Set seines Klassikers „Sign O‘ the Times“wahrscheinlich ein wenig zu viel des Guten gewesen. Die Super-Deluxe-Edition umfasst 13 LPs, eine DVD sowie ein gebundenes Hochglanzfotobuch im Schuber. Alternativ gibt es für weniger analog-affine Fans die 8CD-Version, bei der sich neben dem Doppelalbum auf sechs Tonträgern unveröffentlichte Studio-Ausschnitte, Demos, Skizzen und Single-Mixe tummeln.
Angesichts einer solch opulenten Fülle erscheint eine Frage wie „Wer braucht das alles?“nicht ganz abwegig. Als jedoch die Webseite „Super Deluxe Edition“, der offizielle Dreh- und Angelpunkt des physischen Tonträgerkults, die Veröffentlichung ankündigte, war nicht eine einzige kritische Stimme zu vernehmen. Vielmehr rissen sich die Fans geradezu darum, als erstes ihre Bestellung abzugeben und der Community anschließend davon kund zu tun. [2] Dass die Vinyl-Variante mit 250 Euro weitaus mehr kostet als was der durchschnittliche Musikhörer im Jahr insgesamt ausgibt, spielte dabei selbstredend keine Rolle.
Für das Warner-Label, welches die Rechte an den wichtigsten Prince-Mastern besitzt, ist das Projekt kein Neuland. In den letzten Jahren brachte Warner „1999“und „Purple Rain“ebenfalls als Luxus-Version heraus – in beiden Fällen freilich waren es „nur“10 LPs beziehungsweise 5 CDs. Genau genommen ist sogar die „Sign O‘ the Times“Box auch gar nicht so extrem wie man auf den ersten Blick meinen mag: Während den Aufnahmen zu seinem unbestrittenen Klassiker arbeitete die Ikone an gleich drei Alben auf einmal, veröffentlichte aber nur einen Bruchteil der Aufnahmen. Somit lag diesmal tatsächlich mehr als genug hervorragendes Material in den Archiven. Eines ist sicher: Diese beiden Sets sind weder die ersten ihrer Art, noch die extremsten. Alleine in den letzten Monaten gab es unter anderem die folgenden Leckerbissen zu erwerben: „In Search of Hades“und „Pilots of Purple Twilight“von Tangerine Dream, zwei Box-Sets, die ihre Diskographie für das Virgin-Label auf insgesamt 26 CDs und zwei Blue Rays aufarbeiten. Eine 33CD-Retrospektive der Electro-Disco-Queen Donna Summer („Encore“). Und „Closed for Business“, eine Werksschau der Kultband-Mansun auf 24 CDs und einer DVD. Veröffentlichungen wie diese
bilden die qualitative Speerspitze und den quantitativen Gipfel einer Entwicklung, die bereits seit fast zwei Jahrzehnten den physischen Tonträgermarkt gleichermaßen erstickt wie am Leben hält: Das endlose Neuverpacken, Umverpacken, Ergänzen, Aufbereiten und Auffrischen derjenigen Tonträger, die in einer anderen Ära einmal die Basis für die Musikindustrie gelegt haben. Neu ist das Phänomen allerdings streng genommen nicht. sang bereits Morrissey von The Smiths auf „Paint a Vulgar Picture“. Der Song stammt von dem Album „Strangeways, here we come“, das 1987 veröffentlicht wurde, doch das Box-Set-Phänomen reicht noch weitaus tiefer in die Vergangenheit zurück. Eines der ersten Projekte, welches an die heutigen Veröffentlichungen erinnert ist das passend betitelte „Boxed“von Mike Oldfield, das neu abgemischte Versionen seiner frühen Klassiker enthält sowie einige Bonus-Tracks. Mit den heutigen Mega-Boxen lässt sich Oldfields bescheidenes Kitchen aber nicht vergleichen. Den größten Teil der 80er, 90er und 00er Jahre waren Box-Sets Nischenphänomene, in denen ebenso exklusive wie obskure Kompositionen einer Kerngemeinde treuer Fans zugänglich gemacht wurden.
Eines der ersten Projekte dieser Art waren die umfangreichen Archiv-Sammlungen aus dem Fundus des Elektronik-Pioniers Klaus Schulze. Die „Ultimate Edition“bestand, im Stile einer Babuschka, aus drei individuellen, ineinander verschachtelten Box-Sets und belief sich auf 50 CDs mit komplett neuer, teilweise atemberaubender Musik. Die „Merzbox“des japanischen Klangaktivisten Merzbow umfasste ebenfalls 50 CDs. Nicht alles davon war unveröffentlicht, dafür aber war die Herausforderung für den Hörer angesichts der hier zusammengetragenen gnadenlosen Krachschlacht um so größer. 20 Jahre nach dem Erscheinungstermin gibt es immer noch eine handvoll Exemplare der Box, die mit 500 Dollar aber auch nicht gerade billig daherkommt. [3] So radikal war die Merzbox, dass sie radikalen Journalismus inspirierte: Der spätere Resident-Adviser-Chefredakteur Todd L. Burns schrieb kurz nach Erscheinen eine Rezension, für die er zwei Monate lang jeden Tag eine CD des Projekts hörte und besprach. Das Ergebnis las sich wie eine postmoderne Short Story, die gegen Ende ihre eigene Bedeutungslosigkeit erkennt und sich leise in Nichts auflöst. [4]
Konzeptwandel
Seit Napster die gesamte Branche aus ihrem Schlaf erweckt hat, hat sich das Konzept der Deluxe-Edition jedoch grundlegend gewandelt. CD-Preise von bis zu 20 Euro waren schlicht keine Option mehr, wenn der kostenlose Download nur einen Mausklick entfernt war. Statt aber pauschal den Preis auf unter 10 Euro herabzusenken, ließen sich die Majors etwas einfallen: Das „Basis-Album“war sehr günstig zu erwerben, für echte Fans jedoch gab es eine erweiterte „Deluxe-Version“mit mehreren Bonus-Tracks. Was zunächst etwas unbeholfen begann, entwickelte sich zu einer ganz hervorragenden Strategie: Die Basis-Version beschränkte die Verluste, die aus den illegalen Downloads entstanden. Für die Deluxe-Version hingegen entstanden praktisch keine Zusatzkosten, doch ließ sie sich in der Regel für nahezu den selben Preis verkaufen wie vor der digitalen Revolution. Als die Plattenfirmen dann noch auf die Idee kamen, das selbe Album in gleich mehreren Editionen auf den Markt zu bringen, hatten sie ein neues Geschäftsmodell gefunden, um die lange Durststrecke zu überwinden, die ihr bis zur Monetarisierung von Downloads und Streaming bevorstand. Ein besonders eklatantes Beispiel in dieser Hinsicht: Mariah Carey‘s „The Emancipation of Mimi“, das es als UK- und Japan-Edition, Deluxe Edition, Ultra Platinum-Edition und limitierte Platinum-Edition gibt.
Diese Super-Deluxe-Editionen sind somit etwas komplett Neues und weitaus mehr als nur ein adäquates Mittel, jeder Käuferin, egal ob Fan oder Gelegenheitshörerin, genau so viel Geld aus der Tasche zu ziehen, wie sie auszugeben bereit ist. Ihr womöglich größter Vorteile besteht vielmehr darin, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit – die möglicherweise wichtigste Währung unserer Zeit – so lange wie nur erdenklich aufrecht zu erhalten. Das amerikanische Branchenblatt Billboard schreibt zu dem neuen Album „My Turn“des Rappers Lil Baby: „Zwei Monate liegen zwischen „My Turn“und der nachgeschobenen Deluxe-Version. Dabei handelt es sich um eine [zu Zeiten der Pandemie] zunehmend übliche Vorgehensweise im Hip-Hop, um neues Interesse für ein bestehendes Projekt zu schüren. […] Carl Chery, Leiter der Urban-Music-Sparte bei Spotify, glaubt, dass die Strategie auch über die Pandemie hinaus der neue Standard werden wird. Angesichts der Flut an neuen Rap-Veröffentlichungen jede Woche, sagt er, helfen Deluxe-Editionen dabei, kurze Aufmerksamkeitsspannen zu überwinden und alten Veröffentlichungen neues Leben einzuhauchen – ähnlich wie das auch eine neue Single tun könnte.“[5]
Schätze für Musikliebhaber
Nebenbei hat die Industrie aber auch schon längst bemerkt, dass es noch immer einen Markt für physische Tonträger gibt. Für die sogenannten „Boomer“nämlich, die in den 90ern ihre musikalische Jugend verlebte und finanziell ausreichend abgesichert ist, um beispielsweise die Kosten für die „Collector‘s Edition“von Paul McCartney‘s „Flaming Pie“für umgerechnet knapp unter 600 Euro zu stemmen. Diese vielleicht letzte Generation an Käufern von CDs und Vinyl fleht geradezu darum, mit opulenten Box-Sets bedient zu werden und in Sachen Umfang und Kosten sind den Machern nahezu keine Grenzen gesetzt. Was diesen Markt auszeichnet ist, dass er gnadenlos rückwärtsgewandt ist und sich an Komplettisten wendet, denen die Berücksichtigung eines 12inch-Maxi-Mixes mit einem drei Sekunden längeren Fade-Out Tränen puren Glücks in die Augen treibt. So werden reguläre Alben teilweise um so viele CDs an Bonusmaterial erweitert, dass es bereits absurde Proportionen annimmt. Das bereits genannte Mansun-Box-Set ist ein gutes Beispiel dafür. Die Band hat zu Lebzeiten überhaupt nur drei Alben herausgebracht und trägt auf „Closed for Business“nun nahezu jede Sekunde Musik zusammen, die sie jemals eingespielt hat - einschließlich ihrer Live-Auftritte und aller B-Seiten.
Aus der Sicht vieler Musikliebhaber erfüllen diese Sets gleich mehrere Zwecke. Sie erlauben es erstens, ganz tief in die Zeit einzutauchen, in der das Album produziert wurde. Sie historisieren die Musik zweitens und bieten teilweise wertvolle Informationen rund um dessen Entstehung. Neben dem Prince-Box-Set sind einige Miles Davis Veröffentlichungen hierfür hervorragende Beispiele. In den „Complete On the Corner Sessions“oder den „Complete In a Silent Way Sessions“wird deutlich, wie aus den Jams und Improvisationen im Mixing- und Editing-Prozess legendäre, wegweisende Kompositionen entstanden. Darüber hinaus dienen einige Retrospektiven dazu, den „schlechten Geschmack“einiger Hörer zu relativieren. Als Ace of Bass vor kurzem ein 11CD-Box-Set (!) ankündigten, werden das einige „seriöse“Musikliebhaber mit Verblüffen registriert haben. Für Fans der Band jedoch steht nun fest: Auch sie ist es wert, dass man ihr eine umfassende Retrospektive widmet. In eine ähnliche Kerbe schlagen auch gigantische Sets von Projekten wie der leicht surrealen 80er-Popband Dead or Alive, die aus heutiger Sicht gelegentlich arg billig produziert anmuten.
Man kann sich fragen, warum man sich in Zeiten des Streamings unbedingt mit noch mehr Musik eindecken muss und tatsächlich liest man immer wieder in Online-Forumsdiskussionen den Satz: „Zum Hören bin ich noch nicht gekommen.“Überhaupt scheinen viele Fans diese Boxen ebenso sehr zu hassen wie sie ihnen nicht widerstehen können: Sie sind teuer, nehmen zu viel Platz weg und oft mit Produktionsfehlern behaftet. Das eigentliche Problem aber ist ein ganz anderes. Was diese Box-Sets so anziehend macht ist die Aussicht, sich noch einmal so sehr in die darauf enthaltene Musik zu verlieben wie in dem Augenblick, in dem man sie zum ersten Mal hörte. Das aber ist unmöglich. Um so liebevoller produziert, sorgfältiger kuratiert und umfangreicher ausgestattet diese Boxen sind, um so eklatanter wird der in ihnen enthaltene Widerspruch: Als man diese Alben in der eigenen Jugend entdeckte, hatte man viel Zeit, aber wenig Geld und die Musik spannte in der eigenen Vorstellung eine ganze Welt auf. Heute haben wir mehr Geld aber viel weniger Zeit und die Box-Sets müssen eine wahre Materialschlacht auffahren, um uns überhaupt aus unserem täglichen Tran aufzuschrecken. Den Zauber des ersten Kontakts, aber, dessen letzte Ausläufer in uns bis heute nachwirken, können sie schlicht nicht mehr entfachen.
Re-issue! Re-package! Re-package! Re-evaluate the songs Double-pack with a photograph Extra track (and a tacky badge) «