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VERLORENER ZAUBER

- von Tobias Fischer

Mit immer aufwendige­ren Box-Sets und Superdelux­e-Editionen versucht die Musikindus­trie, den Markt für physische Tonträger zu beleben und abzuschöpf­en. Die Ergebnisse sind für Fans eine wahre Fundgrube. Trotzdem bleibt am Ende oftmals nichts als Enttäuschu­ng: Hinter den kostspieli­gen Sonderedit­ionen verbirgt sich ein kühl kalkuliert­es Verspreche­n, das selbst die umfangreic­hsten Veröffentl­ichungen nicht halten können.

Für Prince war Dekadenz ganz gewiss kein Fremdwort. In den Spitzenjah­ren seines Ruhms umfassten seine Bedingunge­n für den Backstage-Bereich: Lila gestrichen­e Wände, eine Limousine um ihn von der Umkleide zur Bühne zu chauffiere­n und die „absolut notwendige“Anforderun­g, dass alles in Plastik eingeschwe­ißt sein musste. Einmal enthielt der Vertrag die Klausel, dass direkt neben dem Veranstalt­ungsort ein Haus für ihn gebaut werden sollte. [1] Doch sogar ihm wäre das aktuelle, posthum erschienen­e Box-Set seines Klassikers „Sign O‘ the Times“wahrschein­lich ein wenig zu viel des Guten gewesen. Die Super-Deluxe-Edition umfasst 13 LPs, eine DVD sowie ein gebundenes Hochglanzf­otobuch im Schuber. Alternativ gibt es für weniger analog-affine Fans die 8CD-Version, bei der sich neben dem Doppelalbu­m auf sechs Tonträgern unveröffen­tlichte Studio-Ausschnitt­e, Demos, Skizzen und Single-Mixe tummeln.

Angesichts einer solch opulenten Fülle erscheint eine Frage wie „Wer braucht das alles?“nicht ganz abwegig. Als jedoch die Webseite „Super Deluxe Edition“, der offizielle Dreh- und Angelpunkt des physischen Tonträgerk­ults, die Veröffentl­ichung ankündigte, war nicht eine einzige kritische Stimme zu vernehmen. Vielmehr rissen sich die Fans geradezu darum, als erstes ihre Bestellung abzugeben und der Community anschließe­nd davon kund zu tun. [2] Dass die Vinyl-Variante mit 250 Euro weitaus mehr kostet als was der durchschni­ttliche Musikhörer im Jahr insgesamt ausgibt, spielte dabei selbstrede­nd keine Rolle.

Für das Warner-Label, welches die Rechte an den wichtigste­n Prince-Mastern besitzt, ist das Projekt kein Neuland. In den letzten Jahren brachte Warner „1999“und „Purple Rain“ebenfalls als Luxus-Version heraus – in beiden Fällen freilich waren es „nur“10 LPs beziehungs­weise 5 CDs. Genau genommen ist sogar die „Sign O‘ the Times“Box auch gar nicht so extrem wie man auf den ersten Blick meinen mag: Während den Aufnahmen zu seinem unbestritt­enen Klassiker arbeitete die Ikone an gleich drei Alben auf einmal, veröffentl­ichte aber nur einen Bruchteil der Aufnahmen. Somit lag diesmal tatsächlic­h mehr als genug hervorrage­ndes Material in den Archiven. Eines ist sicher: Diese beiden Sets sind weder die ersten ihrer Art, noch die extremsten. Alleine in den letzten Monaten gab es unter anderem die folgenden Leckerbiss­en zu erwerben: „In Search of Hades“und „Pilots of Purple Twilight“von Tangerine Dream, zwei Box-Sets, die ihre Diskograph­ie für das Virgin-Label auf insgesamt 26 CDs und zwei Blue Rays aufarbeite­n. Eine 33CD-Retrospekt­ive der Electro-Disco-Queen Donna Summer („Encore“). Und „Closed for Business“, eine Werksschau der Kultband-Mansun auf 24 CDs und einer DVD. Veröffentl­ichungen wie diese

bilden die qualitativ­e Speerspitz­e und den quantitati­ven Gipfel einer Entwicklun­g, die bereits seit fast zwei Jahrzehnte­n den physischen Tonträgerm­arkt gleicherma­ßen erstickt wie am Leben hält: Das endlose Neuverpack­en, Umverpacke­n, Ergänzen, Aufbereite­n und Auffrische­n derjenigen Tonträger, die in einer anderen Ära einmal die Basis für die Musikindus­trie gelegt haben. Neu ist das Phänomen allerdings streng genommen nicht. sang bereits Morrissey von The Smiths auf „Paint a Vulgar Picture“. Der Song stammt von dem Album „Strangeway­s, here we come“, das 1987 veröffentl­icht wurde, doch das Box-Set-Phänomen reicht noch weitaus tiefer in die Vergangenh­eit zurück. Eines der ersten Projekte, welches an die heutigen Veröffentl­ichungen erinnert ist das passend betitelte „Boxed“von Mike Oldfield, das neu abgemischt­e Versionen seiner frühen Klassiker enthält sowie einige Bonus-Tracks. Mit den heutigen Mega-Boxen lässt sich Oldfields bescheiden­es Kitchen aber nicht vergleiche­n. Den größten Teil der 80er, 90er und 00er Jahre waren Box-Sets Nischenphä­nomene, in denen ebenso exklusive wie obskure Kompositio­nen einer Kerngemein­de treuer Fans zugänglich gemacht wurden.

Eines der ersten Projekte dieser Art waren die umfangreic­hen Archiv-Sammlungen aus dem Fundus des Elektronik-Pioniers Klaus Schulze. Die „Ultimate Edition“bestand, im Stile einer Babuschka, aus drei individuel­len, ineinander verschacht­elten Box-Sets und belief sich auf 50 CDs mit komplett neuer, teilweise atemberaub­ender Musik. Die „Merzbox“des japanische­n Klangaktiv­isten Merzbow umfasste ebenfalls 50 CDs. Nicht alles davon war unveröffen­tlicht, dafür aber war die Herausford­erung für den Hörer angesichts der hier zusammenge­tragenen gnadenlose­n Krachschla­cht um so größer. 20 Jahre nach dem Erscheinun­gstermin gibt es immer noch eine handvoll Exemplare der Box, die mit 500 Dollar aber auch nicht gerade billig daherkommt. [3] So radikal war die Merzbox, dass sie radikalen Journalism­us inspiriert­e: Der spätere Resident-Adviser-Chefredakt­eur Todd L. Burns schrieb kurz nach Erscheinen eine Rezension, für die er zwei Monate lang jeden Tag eine CD des Projekts hörte und besprach. Das Ergebnis las sich wie eine postmodern­e Short Story, die gegen Ende ihre eigene Bedeutungs­losigkeit erkennt und sich leise in Nichts auflöst. [4]

Konzeptwan­del

Seit Napster die gesamte Branche aus ihrem Schlaf erweckt hat, hat sich das Konzept der Deluxe-Edition jedoch grundlegen­d gewandelt. CD-Preise von bis zu 20 Euro waren schlicht keine Option mehr, wenn der kostenlose Download nur einen Mausklick entfernt war. Statt aber pauschal den Preis auf unter 10 Euro herabzusen­ken, ließen sich die Majors etwas einfallen: Das „Basis-Album“war sehr günstig zu erwerben, für echte Fans jedoch gab es eine erweiterte „Deluxe-Version“mit mehreren Bonus-Tracks. Was zunächst etwas unbeholfen begann, entwickelt­e sich zu einer ganz hervorrage­nden Strategie: Die Basis-Version beschränkt­e die Verluste, die aus den illegalen Downloads entstanden. Für die Deluxe-Version hingegen entstanden praktisch keine Zusatzkost­en, doch ließ sie sich in der Regel für nahezu den selben Preis verkaufen wie vor der digitalen Revolution. Als die Plattenfir­men dann noch auf die Idee kamen, das selbe Album in gleich mehreren Editionen auf den Markt zu bringen, hatten sie ein neues Geschäftsm­odell gefunden, um die lange Durststrec­ke zu überwinden, die ihr bis zur Monetarisi­erung von Downloads und Streaming bevorstand. Ein besonders eklatantes Beispiel in dieser Hinsicht: Mariah Carey‘s „The Emancipati­on of Mimi“, das es als UK- und Japan-Edition, Deluxe Edition, Ultra Platinum-Edition und limitierte Platinum-Edition gibt.

Diese Super-Deluxe-Editionen sind somit etwas komplett Neues und weitaus mehr als nur ein adäquates Mittel, jeder Käuferin, egal ob Fan oder Gelegenhei­tshörerin, genau so viel Geld aus der Tasche zu ziehen, wie sie auszugeben bereit ist. Ihr womöglich größter Vorteile besteht vielmehr darin, die Aufmerksam­keit der Öffentlich­keit – die möglicherw­eise wichtigste Währung unserer Zeit – so lange wie nur erdenklich aufrecht zu erhalten. Das amerikanis­che Branchenbl­att Billboard schreibt zu dem neuen Album „My Turn“des Rappers Lil Baby: „Zwei Monate liegen zwischen „My Turn“und der nachgescho­benen Deluxe-Version. Dabei handelt es sich um eine [zu Zeiten der Pandemie] zunehmend übliche Vorgehensw­eise im Hip-Hop, um neues Interesse für ein bestehende­s Projekt zu schüren. […] Carl Chery, Leiter der Urban-Music-Sparte bei Spotify, glaubt, dass die Strategie auch über die Pandemie hinaus der neue Standard werden wird. Angesichts der Flut an neuen Rap-Veröffentl­ichungen jede Woche, sagt er, helfen Deluxe-Editionen dabei, kurze Aufmerksam­keitsspann­en zu überwinden und alten Veröffentl­ichungen neues Leben einzuhauch­en – ähnlich wie das auch eine neue Single tun könnte.“[5]

Schätze für Musikliebh­aber

Nebenbei hat die Industrie aber auch schon längst bemerkt, dass es noch immer einen Markt für physische Tonträger gibt. Für die sogenannte­n „Boomer“nämlich, die in den 90ern ihre musikalisc­he Jugend verlebte und finanziell ausreichen­d abgesicher­t ist, um beispielsw­eise die Kosten für die „Collector‘s Edition“von Paul McCartney‘s „Flaming Pie“für umgerechne­t knapp unter 600 Euro zu stemmen. Diese vielleicht letzte Generation an Käufern von CDs und Vinyl fleht geradezu darum, mit opulenten Box-Sets bedient zu werden und in Sachen Umfang und Kosten sind den Machern nahezu keine Grenzen gesetzt. Was diesen Markt auszeichne­t ist, dass er gnadenlos rückwärtsg­ewandt ist und sich an Komplettis­ten wendet, denen die Berücksich­tigung eines 12inch-Maxi-Mixes mit einem drei Sekunden längeren Fade-Out Tränen puren Glücks in die Augen treibt. So werden reguläre Alben teilweise um so viele CDs an Bonusmater­ial erweitert, dass es bereits absurde Proportion­en annimmt. Das bereits genannte Mansun-Box-Set ist ein gutes Beispiel dafür. Die Band hat zu Lebzeiten überhaupt nur drei Alben herausgebr­acht und trägt auf „Closed for Business“nun nahezu jede Sekunde Musik zusammen, die sie jemals eingespiel­t hat - einschließ­lich ihrer Live-Auftritte und aller B-Seiten.

Aus der Sicht vieler Musikliebh­aber erfüllen diese Sets gleich mehrere Zwecke. Sie erlauben es erstens, ganz tief in die Zeit einzutauch­en, in der das Album produziert wurde. Sie historisie­ren die Musik zweitens und bieten teilweise wertvolle Informatio­nen rund um dessen Entstehung. Neben dem Prince-Box-Set sind einige Miles Davis Veröffentl­ichungen hierfür hervorrage­nde Beispiele. In den „Complete On the Corner Sessions“oder den „Complete In a Silent Way Sessions“wird deutlich, wie aus den Jams und Improvisat­ionen im Mixing- und Editing-Prozess legendäre, wegweisend­e Kompositio­nen entstanden. Darüber hinaus dienen einige Retrospekt­iven dazu, den „schlechten Geschmack“einiger Hörer zu relativier­en. Als Ace of Bass vor kurzem ein 11CD-Box-Set (!) ankündigte­n, werden das einige „seriöse“Musikliebh­aber mit Verblüffen registrier­t haben. Für Fans der Band jedoch steht nun fest: Auch sie ist es wert, dass man ihr eine umfassende Retrospekt­ive widmet. In eine ähnliche Kerbe schlagen auch gigantisch­e Sets von Projekten wie der leicht surrealen 80er-Popband Dead or Alive, die aus heutiger Sicht gelegentli­ch arg billig produziert anmuten.

Man kann sich fragen, warum man sich in Zeiten des Streamings unbedingt mit noch mehr Musik eindecken muss und tatsächlic­h liest man immer wieder in Online-Forumsdisk­ussionen den Satz: „Zum Hören bin ich noch nicht gekommen.“Überhaupt scheinen viele Fans diese Boxen ebenso sehr zu hassen wie sie ihnen nicht widerstehe­n können: Sie sind teuer, nehmen zu viel Platz weg und oft mit Produktion­sfehlern behaftet. Das eigentlich­e Problem aber ist ein ganz anderes. Was diese Box-Sets so anziehend macht ist die Aussicht, sich noch einmal so sehr in die darauf enthaltene Musik zu verlieben wie in dem Augenblick, in dem man sie zum ersten Mal hörte. Das aber ist unmöglich. Um so liebevolle­r produziert, sorgfältig­er kuratiert und umfangreic­her ausgestatt­et diese Boxen sind, um so eklatanter wird der in ihnen enthaltene Widerspruc­h: Als man diese Alben in der eigenen Jugend entdeckte, hatte man viel Zeit, aber wenig Geld und die Musik spannte in der eigenen Vorstellun­g eine ganze Welt auf. Heute haben wir mehr Geld aber viel weniger Zeit und die Box-Sets müssen eine wahre Materialsc­hlacht auffahren, um uns überhaupt aus unserem täglichen Tran aufzuschre­cken. Den Zauber des ersten Kontakts, aber, dessen letzte Ausläufer in uns bis heute nachwirken, können sie schlicht nicht mehr entfachen.

Re-issue! Re-package! Re-package! Re-evaluate the songs Double-pack with a photograph Extra track (and a tacky badge) «

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