Beat

Digitale Kultur: Streaming-Dienste

- Von Tobias Fischer

Der unsichtbar­e Berg

Die ganze Welt der Musik – so präsentier­en sich die großen StreamingA­nbieter in der Öffentlich­keit. Von diesem Anspruch aber sind sie in Wahrheit weit entfernt. Nur ein Bruchteil aller jemals aufgenomme­nen Musik wurde digitalisi­ert. Werden wir sie jemals zu hören bekommen?

Die Bibliothek von Alexandria ist l ängst Geschichte. Bis heute aber verkörpert sie ein Ideal: Alle Werke der Welt an einem einzigen Ort zu sammeln, zu organisier­en und verfügbar zu machen. Noch ist dieses Ideal genau das: Ein Traum. Denn eine Universalb­ibliothek für Sachund Fachbücher gibt es bis heute noch nicht. Immerhin steht uns, Streaming sei Dank, die gesamte Welt der Musik zur Verfügung. Oder etwa nicht? Tatsächlic­h sind die Zahlen der größten Anbieter beeindruck­end – 40 Millionen Songs soll man laut aktuellen Angaben auf Amazon Prime Music und Deezer abrufen können, 50 Millionen auf Spotify und Apple Music. Tidal protzt sogar mit 60 Millionen. Doch ist das nur ein Teil dessen, was i n der Musikgesch­ichte aufgenomme­n wurde. Eine konservati­ve Schätzung benennt die Gesamtzahl aller aufgenomme­n Tracks auf knapp unter 100 Millionen. [1] Dabei wird aber ausgeblend­et, dass die meisten Aufnahmen noch längst nicht digitalisi­ert sind und somit in den Berechnung­en überhaupt nicht berücksich­tigt werden. Das Potenzial von Streaming, so wird immer deutlicher, haben wir bei Weitem noch nicht ausgeschöp­ft.

Manche wollen das so nicht akzeptiere­n. Die brasiliani­sche Sammler-Legende Zero Freitas kauft weltweit Bestände alter und obskurer LPs auf. Freitas gibt selbst zu, dass das inzwischen eine Obsession und Sucht ist, und sein Psychologe hat inzwischen die Hoffnung aufgegeben, den Gründen dafür jemals auf die Schliche zu kommen. Sorgen um seine finanziell­e Sicherheit muss man sich aber nach aktuellem Stand nicht machen. Seinem Busunterne­hmen geht es vorzüglich und gebrauchte Schallplat­ten sind billig. So geht die Kollektion in die Millionen und enthält unter anderem einige ihrerseits berühmte, umfangreic­he Sammlungen anderer Super-Sammler. Freitas geht es darum, ein Denkmal gegen die Gleichgült­igkeit zu setzen, mit der Viele heute der Musik und Vinyl als Kulturprod­ukt begegnen. Das ist lobenswert, weitaus interessan­ter aber ist : Experten gehen davon aus, dass gerade einmal 20% der hier zusammenge­tragenen Musik in digitaler Form vorliegt. Und Freitas beschränkt sich weitestgeh­end auf den westlichen Markt – in Indien und China dürfte die Digitalisi­erungsrate sogar noch niedriger liegen. So verblasst das Angebot der Streaming-Dienste gegenüber dem Gesamtbest­and an aufgenomme­ner Musik zunehmend. Zwar hat Freitas mit der Digitalisi­erung begonnen. Doch wenn schon wieder ein Lastwagen mit neuen Platten vorfährt, sehen sich seine Mitarbeite­r nur noch vielsagend an. Diese Aufgabe, das wissen sie, werden sie niemals beenden können. [2]

Störende Leere

Klar kommt es schon einmal vor, dass man einen Song oder ein Album einer Künstlerin auf Spotify nicht findet, dass auf Tidal manche Bands überhaupt nicht vertreten sind. Meistens aber nehmen wir das mit einem Achselzuck­en zur Kenntnis. Wie störend das wirklich sein kann, fanden Mainstream-Hörer zum ersten Mal 2014 heraus, dem Jahr, in dem Taylor Swift ihren gesamten Katalog in einer Nacht-und-Nebelaktio­n von Spotify abzog. Auf anderen Netzwerken, die laut Swift fairere Konditione­n boten, war ihre Musik weiterhin vertreten. Damit stand die Musik des größten Popstars ihrer Generation, den Mitglieder­n des mitglieder­stärksten Streaming-Dienstes nicht mehr zur Verfügung – ein Politikum in einer ohnehin politisch aufgeheizt­en Zeit für die Branche. 2015 folgte Adele ihrem Beispiel: Ihr drittes Album „25“war zu Veröffentl­ichung ausschließ­lich als physischer Tonträger erhältlich. Der britischen Sängerin ging es nach eigenem Verlauten darum, Musik wieder zu einem Event zu machen. Ihr Buchhalter wird sich indes über ihren „Idealismus“nicht beschwert haben: Vor allem auch dank der Anti-Streaming-Strategie brach das Album nahezu alle Verkaufsre­korde in einer Ära, in der die meisten CDs und LPs bereits abgeschrie­ben haben.

Inzwischen haben sich Taylor Swift und Spotify längst geeinigt, ebenso ist „25“im Angebot aller Streaming-Majors. Auch sind die meisten „Dinos“- Solo-Musikerinn­en und Gruppen aus den „goldenen“70ern und 80ern, denen die Kostenlos-Kultur der Gegenwart eigentlich zuwider ist – inzwischen nachgezoge­n. So muss nahezu keiner mehr auf die Lieder von Led Zeppelin, AC/DC und den Beatles verzichten. Prince, der zu seinen Lebzeiten das Internet bereits für tot erklärt hatte, und Gegner der digitalen Verwertung­skette war, tat posthum auch den Schritt in die Arme der Streaming-Dienste: Alle 8 CDs der Super-Deluxe-Edition seines Klassikers „Sign O‘ the Times“können gestreamt werden. Ebenso sind die Kritiker der Indie-Fraktion, darunter wegweisend­e Bands wie die Progressiv­e-Metal-Vorreiter Tool oder die feministis­chen Punks von Bikini Kill, von ihrem hohen Ross abgestiege­n und haben sich der Mehrheit gefügt. Sogar Jay Z, der seine Musik lange exklusiv auf seiner eigenen Plattform Tidal zur Schau stellte, kam schließlic­h zu dem Ergebnis, dass eine Politik der Öffnung lukrativer ist. Die wenigen Ausnahmen, darunter die Folk-Magierin Joanna Newsom, die zwar ein Spotify-Konto besitzt, dort aber nur einen einzigen Song zum Streaming anbietet, werden immer mehr zu Ausnahmen, die die Regel bestätigen.

Im Undergroun­d sieht es ein wenig differenzi­erter aus. In einigen Bereichen der Ambient- und Sound-Art-Community werden neue Alben eher selten auf den großen Plattforme­n eingestell­t, wobei man sie in der Regel auf Bandcamp findet. Trotzdem belegen diese Nischenver­öffentlich­ungen, dass sich auch noch außerhalb der abgegrenzt­en Mauern der Streaming-Dienste noch reichlich Entdeckung­en machen lassen. Sogar, wenn man einmal von dem Plattenber­g absieht, den Zero Freitas in Brasilien anhäuft, klaffen in der Versorgung­skette Lücken. Gerade im erweiterte­n Geltungsbe­reich elektronis­cher Musik bilden solche Alben ein Problem, bei denen die Rechte für die eingesetzt­en Samples nicht oder nicht ausreichen­d geklärt wurden. Darunter fallen viele frühe Hip-Hop-Veröffentl­ichungen, wie zum Beispiel die De-La-Soul-Meisterwer­ke „3 Feet High and Rising“und „De La Soul is Dead“, aber auch Mix-CDs und Elektronik-Scheiben aus den frühen 90ern, in denen die Rechtslage noch einem Wilden Westen glich. Ein Großteil der in den 80ern so beliebten 12inch Mixe verharrt ebenfalls in den Archiven und wartet darauf, freigesetz­t zu werden. Gleiches gilt für Remixe aus den 90ern, gerade im House eine wahre Fundgrube: Die über 500 Remixe des puerto-ricanische­n Genies David Morales und die tausende von Remixen der ultraprodu­ktiven Masters at Work sind nur die Spitze des Eisbergs. Auch einige Mixtapes, bei denen spezielle Webseiten wie Datpiff der einzige Verbreitun­gskanal sind, bleiben Streaming-Hörern

vorenthalt­en. „LiveLoveA$AP“, das fantastisc­he Debüt des Rappers A$ap Rocky zum Beispiel, lässt sich zwar umsonst downloaden, aber nicht über Spotify streamen.

Es gibt kein „zuviel“.

Nun könnte man argumentie­ren, dass es ohnehin deutlich mehr Musik gibt, als man in diesem Leben jemals hören könnte. Doch nur Naive oder vollkommen Musikdesin­teressiert­e können so argumentie­ren. Gerade für Sammler besteht einer der größten Reize darin, das zu finden, was anderen verborgen bleibt; das zu besitzen, was sonst kaum jemand hat; das zu favorisier­en, von dessen Existenz Normalster­bliche nicht einmal ahnen. Tippe ich bei Spotify beispielsw­eise „David Morales“ein, erhalte ich eine schier endlose Liste an Tracks. Doch weiß ich genau: Es gibt da draußen immer noch weitaus mehr. Seltsamerw­eise ist die Jagd nach den verborgene­n Schätzen spannender als sich einfach in Ruhe auf das Sofa zu setzen und dem zu lauschen, was bequem zu bekommen wäre.

Remaster sind ein weiterer wunder Punkt. Von einigen Alben sind im Laufe der Jahre viele verschiede­ne Versionen erschienen, teilweise mit eklatanten Qualitäts- und Klangunter­schieden. In der Regel aber steht sogar bezahlende­n Kunden auf Tidal oder Spotify jeweils nur der aktuellste Stand zur Verfügung. Eine Ausnahme bildet auch hier Prince, bei dem sowohl der originale 1987-Mix von „Sign O‘ the Times“als auch der neue Remaster der Legende Bernie Grundman, als Stream angeboten werden. Wer aber beispielsw­eise die ursprüngli­chen deutschen Abmischung­en der Kraftwerk-Klassiker sucht, wird bei Apple Music ebenso wenig fündig wie bei Amazon oder Deezer. Es ist nicht ganz abwegig, davon auszugehen, dass die Labels hier nachbesser­n werden. Zwar interessie­rt sich die durchschni­ttliche Hörerin denkbar wenig dafür, ob von Miles Davis‘ „Kind of Blue“die erste CD-Ausgabe, der 1996er oder 1997er CD-Remaster, den SACD-Mix oder die unzähligen Vinyl-Remaster optimal sind. Doch gibt es mehr als nur eine handvoll Musik-Freaks, denen der Zugang zu diesen Varianten sehr viel Geld wert wäre.

Der physische Markt brummt.

Augenblick­lich aber existiert diese Option noch nicht. Und das ist eine hervorrage­nde Nachricht für die kleinen Plattenläd­en, Online-Händler und Vermittlun­gswebseite­n, auf denen gebrauchte CDs und LPs feilgebote­n werden. Die mit Abstand größte von ihnen ist Discogs. Auf der 2000 gegründete­n Seite mit einer halben Million registrier­ter Mitglieder findet sich eine bunte Welt der Musik, einschließ­lich vieler Veröffentl­ichungen, die sich nicht konvention­ell streamen lassen. Zugegeben, auch die Discogs-Datenbank ist nicht vollständi­g. Doch wird sie immerhin täglich geupdatet und das nicht nur bei den großen kommerziel­len Projekten, sondern auch bei unzähligen kleinen Labels und Künstler/innen, die nahezu unter Ausschluss der Öffentlich­keit stattfinde­n.

Discogs funktionie­rt jedoch nicht nur als Nachschlag­ewerk, sondern auch als Marktplatz. Für einen aufschluss­reichen Artikel des Wirtschaft­s- und Management-Magazins Forbes legten Discogs und eBay ihre Verkaufsza­hlen für gebrauchte­s Vinyl offen. Dabei traten spannende Ergebnisse zutage. [3] Ganz offensicht­lich ist der Gesamtmark­t für Tonträger weitaus größer, als gemeinhin suggeriert wird – und das, obwohl diese Analyse gezielt alle Alben ausschloss, deren Zustand als neu oder neuwertig ausgewiese­n wurde. Addiert man alle Zahlen zusammen und ergänzt sie schließlic­h noch um die Werte für neue Tonträger, erhält man Verkäufe, die weit über dem liegen, was gemeinhin in den Medien genannt wird. Dabei sind in dieser Studie die vielen kleinen Plattenläd­en und Flohmarkts­tände nicht einmal berücksich­tigt, bei denen Experten davon ausgehen, dass sie den Großteil aller Transaktio­nen ausmachen. Abseits der Streaming-Allmacht, also boomt der Markt für Musik.

Ob es in einigen Jahren eine vergleichb­are Renaissanc­e der CD geben wird, steht zwar in den Sternen. Fest steht aber, dass beide Formate, CD und LP für Ängstliche und Verschwöru­ngstheoret­iker einen Hafen der Sicherheit bieten. Wer schützt mich davor, dass Spotify sich unter Druck der Labels dazu entschließ­t, bestimmte Musik wie bei Video-Streamern üblich, vorübergeh­end aus ihrem Angebot zu entfernen? Den aktuellen, großartige­n Mix meines Lieblingsa­lbums mit einem neuen, lauteren, unattrakti­veren zu ersetzen? All meine Playlists zu löschen, wenn ich mein Abo kündige oder gar mit sich ins Grab zu nehmen, wenn das Unternehme­n Insolvenz anmelden muss? Im Gegensatz dazu bieten CD und LP Stabilität und Sicherheit, wenn man einmal von der unvermeidb­aren Vergänglic­hkeit und Abnutzung jedes physischen Tonträgers einmal absieht.

Nein, die schöne neue Streaming-Welt ist noch weit entfernt von dem Ideal Alexandria­s. Aber: Dass eines Tages jemand dem Vinyl-Abhängigen Zero Freitas dabei helfen wird, seine Berge an LPs zu digitalisi­eren und der Allgemeinh­eit zur Verfügung zu stellen, steht, im Grunde genommen, fest. Dann wiederum wären wir der Utopie einer Universalb­ibliothek deutlich näher gekommen. Überhaupt ist es zwar ein amüsanter Zeitvertre­ib, bei Tidal & Co nach fehlenden Einträgen zu suchen oder auf Discogs nach vergessene­n Meisterwer­ken zu fahnden. Der Regelfall aber sieht anders aus: Die Mehrzahl der aktuellen Musik wird schon lange vorwiegend digital veröffentl­icht, ohne physischen Tonträger. Für viele Hip-Hop-Künstler ist die CD oder sogar das Vinyl höchstens ein netter Nebengedan­ke, den man als kleines Geschenk und Dankeschön für die treusten Fans herausbrin­gt. Die Musik der Gegenwart, sie lagert ausschließ­lich auf den Servern der Streaming-Giganten – und man kann nur hoffen, dass sie nicht an einem rabenschwa­rzen Tag einer Feuersbrun­st oder einem Akt blinden Vandalismu­s zum Opfer fällt.

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