Entdeckt: Gidge
Jonatan Nilsson und Ludvig Stolterman alias Gidge ließen sich von den Wäldern ihrer Heimat inspirieren: So nahmen sie Field Recordings auf und schufen unwirkliche Orte zwischen Wachen und Träumen. Für ihr bislang ambitioniertestes Werk „New Light“wollten die schwedischen Musiker frische Energie, und suchten sie in der Natur der USA.
Lange bezog das schwedische Duo Gidge seine Inspiration vor allem aus Ausflügen in die Wälder seiner Heimatstadt Umeå. Dabei nahmen sie Field Recordings auf, spielten Percussion mit Steinen im Wald ein und schufen unwirkliche Orte zwischen Wachen und Träumen. Für „New Light“aber wollten Jonatan Nilsson und Ludvig Stolterman frische Energie. Kurzentschlossen setzten sie sich in ein Flugzeug in die USA, besuchten die Nordwestpassage – und schufen ihr bislang größtes und ambitioniertestes Werk.
Beat / Wie habt ihr die Nordwestpassage erlebt?
Gidge / Wir waren ein paar Tage in Seattle. Dort haben wir uns ein Auto gemietet und sind auf der Olympik-Halbinsel ein paar Tage herumgefahren. Wir haben keine Musik produziert. Stattdessen haben wir versucht, so viel wie möglich von der Atmosphäre dort aufzusaugen. Wir haben vor allem visuelle Inspiration gesammelt : Photos, Videos und Ähnliches. Das haben wir dann mit ins Studio genommen, als wir wieder zu Hause waren.
Beat / Wie verhält sich die Halbinsel zu den Landschaften in Schweden?
Gidge / Was die Nordwestpassage so reizvoll macht ist, dass die Natur an dieser Stelle sehr ähnlich zu der in Schweden ist. Nur ist alles sehr viel größer. Es ist ein wenig, als ob du eine extreme Version deiner Heimat besuchst. Es ist faszinierend, von einer Natur umgeben zu sein, die gleichzeitig sehr vertraut als auch sehr anders ist. Die Wälder fühlen sich konzentrierter und dichter an. Urtümlich. Und während es um unsere Stadt Umeå herum kaum richtige Berge gibt, ist die Olympik-Halbinsel wie ein riesiges Gebirge, das unmittelbar aus dem Pazifik aufzusteigen scheint. Die ganze Gegend ist unglaublich dramatisch.
Beat / Ihr habt drei Jahre an „New Light“gearbeitet. Das ist eine ziemlich lange Zeit.
Gidge / Die ersten beiden Jahre haben wir eigentlich nur Ideen ausprobiert, um ein Gefühl dafür zu entwickeln, in welche Richtung wir uns bewegen wollen. Nebenbei hatten wir auch noch Jobs und haben studiert, konnten also nicht acht Stunden am Tag an den neuen Stücken arbeiten. Es war ein langsamer und stetiger Prozess. Wir hatten wahrscheinlich um die 50 Ideen für Songs, die sehr unterschiedlich weit fortgeschritten waren. Irgendwann haben wir dann angefangen, ungefähr 15 von ihnen in die engere Auswahl aufzunehmen. Diesen letzten 15 Tracks haben wir uns dann ungefähr ein Jahr intensiv gewidmet. Dieser Prozess des Feinschliffs ist sehr befriedigend, aber auch äußerst ermüdend. An vielen Tagen waren wir komplett erschöpft, als wir aus dem Studio gekommen sind.
Beat / Eure Musik ist in gewisser Weise eine Antithese zu unserem hektischen Leben. Hat sie eine politische Dimension?
Gidge / Worauf es uns ankommt, ist, die Schönheit und Gnadenlosigkeit der Natur einzufangen. Aber wir möchten daraus keine Politik machen. Die Natur, ja sogar das ganze Universum, schert sich nicht darum, ob sie existiert oder nicht, ob sie zerstört wird oder nicht. Sie besteht einfach nur. Manchmal ist sie wundervoll, manchmal ist sie roh und wild. Wir wollen diese Dynamik einfangen. Der Track „Over“ist ein gutes Beispiel dafür. In der ersten Hälfte singen die Stimmen „I still believe“, in der zweiten Hälfte antworten andere Stimmen dann: „but it‘s over.“Die Musik, die wir darunter gelegt haben, ist vorsichtig optimistisch. Und aus der Summe all dieser unterschiedlichen Elemente entsteht etwas Interessantes.
Beat / Warum ist gerade elektronische Musik für euch das richtige Medium, um solche grundlegenden Fragen zu erörtern?
Gidge / Weil sie uns eine Methode bietet. Wenn wir draußen sind und aufnehmen, ist es ein gutes Gefühl, darauf vertrauen zu können, das wir das Material am Rechner mit absoluter Präzision bearbeiten können. Erst daraus entsteht für uns wahre Freiheit. Es macht außerdem auch einfach Spaß, eigentlich komplett zufällige Sounds mit chirurgischer Genauigkeit zu sezieren. Das bedeutet : Während der Aufnahmen können wir ein wenig schlampen, nachher werden wir zu Control-Freaks.
Beat / Wie geht ihr an die Field Recordings in der freien Natur heran?
Gidge / Wir haben schon sehr früh tragbare Mikrophone mit auf unsere Ausflüge mitgenommen. Dabei haben wir verstanden, dass uns eigentlich alle Klänge um uns herum für unsere Musik zur Verfügung stehen. Das hat uns wirklich die Augen geöffnet. Bis heute verwenden wir einfache Mikros, gelegentlich nehmen wir sogar Sachen mit unseren Telephonen auf. Wenn du nicht gerade sehr detaillierte oder tiefe Sounds aufnehmen willst, brauchst du kein besonderes Equipment. Entscheidend ist immer, was du später in der Nachbearbeitung damit machst. Eine Ausnahme bildet unser Album „Lulin“. Dafür durften wir ein teures Mikrophon von jemandem ausleihen, der extrem hochwertige Mikros in seiner Küche herstellt. Er hat nicht einmal eine Website. Du musst jemanden kennen, der ihn kennt, um an sein Equipment heranzukommen.
Neue Orte schaffen
Beat / Ist euch so etwas wie Authentizität wichtig? In dem Sinne, dass ihr nur Aufnahmen eines einzigen Ortes zusammen verwendet?
Gidge / Nein, es geht uns mehr darum, eine bestimmte Stimmung einzufangen. Wir kombinieren oft Field Recordings von verschiedenen Orten oder nutzen Aufnahmen vom selben Ort, die zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sind. Den Moment, so wie er einmal bestand, gibt es nicht mehr. Aber sobald du die Musik hörst, entsteht eine neue Szene, die in gewisser Weise ebenfalls authentisch ist.
Beat / Wie genau produziert ihr diese neuen, authentischen Szenen?
Gidge / Dieses Verflechten macht uns großen Spaß. Es gibt da keine Formel oder feste Regel. Manche Stellen bearbeiten wir überhaupt nicht. Andere hingegen schneiden wir komplett auseinander und legen lange Effektketten darüber. Wenn du elektronische Elemente mit Naturaufnahmen verbindest, lässt sich alleine schon viel mit dem Attack und Decay eines Sounds experimentieren. Du kannst zum Beispiel eine dezente Atmosphäre aus weißem Rauschen in den Decay eines Synthesizer-Akkords einbauen. Wenn der Sound dann abbricht, ist das wie eine Art Ausatmen. So, als ob Energie freigesetzt wird. Auf diese Art und Weise kannst du den Sounds mehr Spannung verleihen.
Beat / Eure Art, die Stimmen zu bearbeiten, ist faszinierend. Es fühlt sich an, als ob ihr eine Form der Folkmusik schreibt – nur, dass sie aus eurer eigenen Vorstellungskraft heraus entsteht.
Gidge / Manche Stimmen sind gesampelt, bei anderen haben wir Freunde aufgenommen, die
singen. Aber ganz gleich, wo sie herkommen, für uns sind sie mehr ein Instrument. Wir zerschneiden sie, ändern ihre Tonhöhe, drehen sie um, fügen kiloweise Hall hinzu – einfach alles, damit sich die Vocals ein wenig unwirklich anhören. Es soll so klingen, als ob es etwas ist, dass du von irgendwoher kennst, aber nicht vollständig verstehen kannst. Für „The Cascades“haben wir beispielsweise eine Freundin aufgenommen, als sie gerade einfach geredet hat. Wir haben kurze Stellen der Passage verwendet und etwas Melodieähnliches daraus gebastelt.
Beat / Mit seiner Laufzeit von zehn Minuten ist „Perimeter“ein weiterer Höhepunkt von „New Light“.
Gidge / Auf diesem Track sind verschiedene Ideen zusammengekommen. Ganz zu Anfang war es eher ein reines Ambient-Stück, sehr minimalistisch. Im Laufe der Zeit haben wir immer größere Ideen hinzugefügt, die dann ein Eigenleben entwickelt und uns quasi den Weg vorgegeben haben. Wir haben dann lange daran gearbeitet, die verschiedenen Elemente so hin- und herzubewegen, dass die Klänge möglichst gut zur Geltung kommen und gleichzeitig die Dramaturgie des Tracks unterstützen.
Beat / Es ist eine Art Zentrum für das gesamte Album.
Gidge / Ja, beziehungsweise steht das Stück recht gut für „New Light“als Ganzes. Das Klavier, das am Ende von „Perimeter“erscheint, ist sogar an das Klavier im ersten Track ”Quasar” angelehnt.
Beat / Wie habt ihr diesen bemerkenswerten, fast schon gummiartigen Bass produziert, der ungefähr in der Mittel von „Perimeter“erscheint?
Gidge / Das ist ein Moog Subsequence 37, von dem wir drei Schichten übereinandergelegt und anschließend mit Effekten bearbeitet haben. Die Schichten haben wir dann noch mit Panning und Pitchbending versehen. So bekommt er ein fast schon lebendiges Gefühl – wie etwas, das man nicht wirklich kontrollieren kann.
Beat / Auf „Seems to be Getting Closer“laufen laut Pressetext über hundert Spuren. Warum braucht es so viele Elemente?
Gidge / Manchmal sind wir nachträglich selbst überrascht, wenn wir uns ansehen, wie wir einen Track aufgebaut haben. Wir müssen uns dann fragen, ob all diese Elemente auch wirklich in der Musik enthalten sind. Ob sie überhaupt jemand hört? Andererseits ist es genau das, was einen Track auf lange Sicht interessant macht. Die meisten Sounds sind sehr subtil und beim ersten Hördurchlauf entdeckst du sie vielleicht gar nicht. Wir legen großen Wert auf klangliche Komplexität, sodass man als Hörer immer wieder neue Dinge entdeckt.
Beat / Field Recorder haben oft interessante Geschichten von ihren Recording-Sessions zu erzählen. Wie sieht das bei euch aus?
Gidge / Ehrlich gesagt war einer der besten Momente der gesamten Reise in die USA, als wir uns am Ufer von Ruby Beach einfach ein paar Stunden hingesetzt und die Sonne genossen haben. Dazu nämlich kommen wir sonst fast nie.