Digitale Kultur: Luxus-Vinyl
Abstrus und sinnvoll
Mit Preisen von über 300 Euro pro LP stößt das britische Label Electric Recording Company in neue Dimensionen vor. Das klingt absurd und führt bei Einigen zu regelrechten Wutausbrüchen. Doch hat ERC sich eine ganz eigene Klientel
erschlossen, für die in Kostenfragen keine Grenzen mehr gelten. Wonach genau suchen diese Leute?
Pete Hutchisons Label The Electric Recording Company (ERC) sorgt für Kontroversen. Dabei suggeriert der Name reinstes Understatement. Auch die LPs, die er veröffentlicht, sehen äußerlich alles andere als spektakulär aus. Sicher, die Druckqualität der Hüllen ist hervorragend und der milchigtrübe Papierstreifen (von Kennern „Obi“genannt), der sie einseitig einrahmt, wirkt edel. Doch erst der genauere Blick offenbart die Feinheiten der Produktion: Originalgetreue Reproduktionen der Cover, aufwendige Druckverfahren, Handverklebung, Spezialmaterialien. Für die 7LP-Box „Mozart à Paris“, beispielsweise, suchte Hutchison monatelang bei Herrenausstattern nach der passenden Seide für einen beigelegten Indexfaden. Für diese Detailverliebtheit schätzen Musikfans aus der ganzen Welt seine Arbeit. Anders hingegen sieht es bei der Preispolitik aus: Für eine LP zahlt man hier 300 Euro aufwärts. Das Mozart-Set bringt es gar auf über 3.000 Euro. Solche Angebote könnten suggerieren, bei diesem Mann sitze eine Schraube locker. Die Verkaufszahlen aber ersticken solche Spekulationen im Keim: Jeder der meist auf 300 Stück limitierten Veröffentlichungen war zum Zeitpunkt dieses Artikels bereits ausverkauft. Hutchison kennt seine Kunden. Und er weiß, was sie wollen.
Dass sich, gerade zu Zeiten einer Pandemie und einer globalen Einkommensschieflage, viele an einem solchen Geschäftsmodell reiben, versteht sich fast von selbst. Als die New York Times im Frühling 2020 voller Lob über das Projekt berichtete, loderte in den Kommentaren die Wut der Entrüsteten. [1] Von „komplettem Unsinn“war dort die Rede, von einem „Fetisch“und von „Wahnsinn“, von einer „ganzen Industrie, die Quacksalberei verkauft“. Öl ins Feuer goss dann noch eine Rezension des bekannten Youtubers Mike Esposito, der seine Enttäuschung über die Qualität der Electric Recording Aufnahmen kundtat. [2] Esposito hatte eine nagelneue Kopie der Sonny-Rollins-LP „Way Out West“auf ERC in die Hände bekommen. Die Platte, ursprünglich 1957 veröffentlicht, gilt als Jazz-Klassiker und wurde bereits mehrfach neu aufgelegt.
Obwohl er nahezu jede auf dem Markt erhältliche Version besaß, reizte Esposito die Vorstellung, die möglicherweise ultimative Aufnahme einer seiner Lieblingsalben zu besitzen. Als er dann aber die Verpackung inspizierte, fiel ihm auf, dass die Hülle gebogen war und einen Riss aufwies. Die Platte war zudem extrem schmutzig und wies viele feine papierähnliche Substanzen in den Rillen auf. Sie hatte zudem einen weiteren, nicht ganz unerheblichen Nachteil: Sie klang schlicht nicht besonders gut. Wofür, so mochte man sich fragen, zahlen die Kunden dieses Labels eigentlich – wenn nicht für den bestmöglichen Sound?
Zeit für die Vinylpreisbremse
Auch, wenn die Preise von ERC neue Standards setzen – bereits seit Jahren ist der Markt reif für eine Vinylpreisbremse. Zurückverfolgen lässt sich das Hochpreissegment bis in die 70er Jahre. Vorreiter waren in dieser Hinsicht die Produkte des Mobile Fidelity Sound Lab, kurz Mofi genannt. Gegründet wurde die Firma 1977 von dem Produzenten
Brad Miller, dem einige damalige Entwicklungen gehörig gegen den Strich gingen. Aufgrund akuter Rohstoffknappheit wurden LPs aus minderwertigem Vinyl gepresst, was sich in störenden Knacksern und Artefakten ausdrückte. Hinzu kam, dass die Labels die Original-Mastertapes schonen wollten. So wurden viele Neuauflagen der Klassiker von Kopien geschnitten. Wie bei analogen Quellen zu erwarten, litten diese unter Rauschen und Unebenheiten im Klangbild. Miller aber wollte keine Kompromisse akzeptieren. Die Veröffentlichungen auf Mofi basierten ausnahmslos auf der ersten Master-Generation und wurden nur dezent nachbearbeitet. Das seinerzeit innovative Übertragungsverfahren des Half-Speed-Masterings unterstützte einen möglichst verlustfreien und sauberen Transfer. Die so entstehenden „Original Master Recordings“kamen somit dem Klang am nächsten, den die Künstler und Produzenten ihrerzeit im Studio vor Ohren hatten.
So viel Qualität hatte freilich ihren Preis, wenngleich dieser nach heutigen Maßstäben recht erschwinglich war. Das wahre Potential der stets in recht kleinen Auflagen gepressten LPs offenbarte sich erst auf dem Gebrauchtwarenmarkt, wo die Mofis oftmals für das vier- bis fünffache ihres ursprünglichen Verkaufspreises über die Theke gingen. So verrückt es klang: Diese Produkte waren zu günstig! Das Label reagierte und veröffentlichte zunächst einige Titel als teure 45RPM-Pressungen, die weniger Musik auf eine Seite zwängen und einen tieferen, satteren Klang bieten. Vor kurzem legte man schließlich mit dem Ultradisc One-Step-Verfahren nach, einer neuen, selbst entwickelten Technik, die so aufwendig ist, dass die damit bearbeiteten LPs endlich so viel kosten wie die gebrauchten Mofis. Damit liegt Mofi komplett im Zeitgeist. Sobald man den Bereich audiophiler Pressungen betritt, verliert der Preis jegliche Bodenhaftung. Verhältnismäßig günstig geht es noch bei dem US-Label Vinyl Me, Please zu. Exklusive Jazz-LPs von Musikern wie dem famosen Drummer Idris Muhammad oder dem Orgel-Virtuosen Leon Spencer, kosten hier $50 – das sind nach derzeitigem Wechselkurs 40 Euro für eine einfache Schallplatte. Das Acoustic-Sounds-Label von Chad Kassem verkauft seine Musik für $65 die Scheibe. Im Falle seiner Ultra-High Quality-Recordings-Reihe liegt die Messlatte sogar im dreistelligen Bereich. Gegenüber vergleichbaren LPs der Electric Recording Company freilich wirken auch sie wie Schnäppchen.
Keine ordinäre Schallplatte
Der Punkt ist: Vergleichbar sind sie eben nicht. Denn was bei Pete Hutchison von der Presse rollt, ist längst keine ordinäre Schallplatte mehr. Mit Peacefrog gründete der Brite in den 90ern eines der frühesten global erfolgreichen Plattenfirmen für Elektronik. Dank einiger ungemein erfolgreicher Acts – der verhuschte Lofi-Folk des argentinischen Gitaristen José González, die Bossa-Nova-Coverversionen von Nouvelle Vague – zahlte sich das Unterfangen auch finanziell aus. Zunehmend aber entwickelte sich sein Musikgeschmack in eine andere Richtung. Beeinflusst von der üppigen Plattensammlung seines Vaters war Hutchison zu einem fanatischen Sammler klassischer Musik geworden. Und so wurde ERC zum Vehikel für einen Neuanfang. Von den Einnahmen aus seinem vorigen Leben finanzierte er ein TapeDeck der Firma Lyrec mit Ortofon-Verstärkern. Das Equipment stammt aus dem Jahr 1965, befand sich zum Zeitpunkt des Kaufs in einem beklagenswerten Zustand, und gefunden hat Hutchison es in Rumänien, wo er den Besitzer zunächst mühselig davon überzeugen musste, ihm das arg lädierte Equipment überhaupt zu verkaufen. Anschließend verbrachte er drei Jahre damit, das Deck wieder in einen neuwertigen Zustand zu versetzen und investierte dabei knapp 100.000 Euro.
Doch Zeit und Geld zählten bei diesem Projekt eben gerade nicht. Folgerichtig werden nun auf diesem kolossalen Lyrec die LPs der Electric Recording Company abgemischt. Jede LP ist laut Aussagen des Labels vom Original-Master geschnitten, wird in der Regel in „echtem Mono“präsentiert (wobei ein Mono-Tonkopf verwendet wird, statt einfach nur den Stereo-Mix in Mono herunterzumischen) und sorgfältig auf dem optimalen Lautstärke-Level gemastert, was in vielen Fällen sogar unter dem des Originals liegt. Dass es ihm hierbei um audiophilen Fetischismus gehe, streitet Hutchison vehement ab. Entscheidend ist immer die emotionale Reaktion auf die Musik. [3]
Warum macht jemand so etwas?
Natürlich auch, um sich einen Lebensunterhalt zu finanzieren. Aber man kann sich auch mit bescheidenen BWL-Kenntnissen leicht ausrechnen, dass es weitaus lukrativere Geschäftsmodelle gäbe als dieses. Hutchison presst in der Regel keine Kassenschlager, seine Veröffentlichungen sind zumeist semi-legendäre Insider-Tipps, die auf Vinyl nur noch zu absurd hohen Preisen zu ersteigern sind. So mögen die 3000 Euro für „Mozart à Paris“zwar verrückt klingen. Für das Original verlangen manche Verkäufer indes 20.000. Und wenn ERC eine 300er Auflage von „Way Out West“für 300 Euro veröffentlicht, wird das Label daran gut verdienen, doch ließe sich mit einer 3000er Auflage für 100 Euro pro Stück noch weitaus mehr einnehmen. Reich wird Hutchison mit seinem Geisteskind also wohl nicht.
Der eigentliche Hintergrund seiner Arbeit besteht vielmehr darin, eine LP zu erzeugen, die so nahe wie möglich an die erste Pressung heranreicht. So erklärt sich die Sehnsucht nach Materialien und Produktionsverfahren, welche denen der Originale gleichkommen. Das Ergebnis ist nicht einfach nur eine besonders teure audiophile Pressung klassischer LPs. Es ist ein kleines Kunstwerk, eine tonträgergewordene Illusion perfekter Authentizität. Ironischerweise ist es gerade der Klang, der bei diesem Unterfangen die geringste Rolle spielt. Zwar dürfte die Kritik an der ERC-Version von „Way Out West“eine Ausnahme bilden – nahezu jeder Kommentar zum Sound war bislang positiv. Gleichzeitig aber muss man sich fragen: Kann von dem inzwischen längst durch jahrzehntelange Lagerung und ständige Verwendung abgetragenen Master überhaupt noch ein erstklassiges Album geschnitten werden? Vor allem dann, wenn man es als Teil der eigenen Ästhetik ablehnt, die analogen Defizite mit dem Griff in die digitale Trick-Kiste wieder auszugleichen?
Ich vermute: Käufer einer solchen Platte wollen gar nicht die bestmögliche Aufnahme eines Klassikers. Sie wollen etwas, das mehr ist als nur ein einfach zu vervielfachendes Massenprodukt, aber zugleich keine Skulptur aus dem Museum. Für sie ist eine ERC nicht nur günstiger, sondern sogar besser als das Original, das ja erkennbar gealtert und ein zu einem historischen Gegenstand geworden ist. Es ist, als halte man ein Objekt aus der Vergangenheit in den Händen, das einem wie durch Zauber oder Zeitmaschine in den Schoß gefallen ist. Das ändert nichts daran, dass diese Veröffentlichungen den Preisrahmen der durchschnittlichen Käufer locker sprengen. Aber man kann sein Geld sicherlich für weniger sinnvolle Sachen ausgeben.
Ein Nutzer in einem Forum hatte die Idee, nur noch Klassik-LPs bei der Electric Recording Company zu kaufen, damit er Musik wieder so wertzuschätzen lernt wie in seiner Jugend, als man sich nicht einfach jedes Album zulegen konnte. Es ist eine der Besonderheiten dieses Labels, dass diese Aussage vollkommen abstrus und irgendwie sinnvoll zugleich anmutet. [4]