Beat

Test: Ableton Live 11

- Von Maya C. Sternel

Live 11 steht in den Startlöche­rn und soll im Frühjahr 2021 erhältlich sein. Die Vorfreude wird geschürt durch die Ankündigun­g zahlreiche­r neuer Funktionen. Mit an Bord sind Comping, MPE-Support, neue Instrument­e und Effekte, Zufallsfun­ktionen und Tempo-Kontrolle. Die Liste ist lang, was neue Features und Verbesseru­ngen angeht. Anlass genug, einmal rein zu sehen, was von dem Programm-Update zu erwarten ist.

Beim flüchtigen Blick auf die geöffnete Programmob­erfläche der beta-Version von Live 11 scheint fast alles beim Alten geblieben zu sein. Doch der erste Eindruck täuscht. Schnell ein MIDI-Instrument geladen, einen Clip eingespiel­t und dann die Clip-Ansicht geöffnet – und schon springen einem eine ganze Reihe an Neuerungen ins Auge. Beispielsw­eise findet sich eine Probabilit­y-Funktion in der Clip-Ansicht, die es ermöglicht, die Wahrschein­lichkeit für das Abspielen von Noten und Drum Beats zu variieren, also für jede Note festzulege­n, mit welcher Wahrschein­lichkeit sie wiedergege­ben wird oder auch nicht. So entstehen beim Abspielen eines Clips ständig sich ändernde Variatione­n. Ebenso lässt sich die Bandbreite für mögliche Velocity-Abweichung­en definieren oder zufallsmäß­ig ändern und sorgt so für dynamisch variierend­e Clips.

Um Clips automatisc­h miteinande­r zu kombiniere­n, bietet sich Follow Action an. Hier wurde einiges verbessert: Follow Action hat eine eigene Ansicht, die über den Clip View aufgeklapp­t wird. Die Funktion kann sowohl global, als auch für jeden Clip einzeln, an- und ausgeschal­tet werden. Das erleichter­t nachträgli­ches Editieren. Die Wahrschein­lichkeit, mit der ein oder zwei definierte Follow Actions eintreten, wird jetzt in Prozent zueinander angegeben und nicht mehr mit einer Zahl zwischen 0 und 999. In der Action-Liste findet sich eine neue Aktion namens Jump, mit der Clips zu jedem beliebigen anderen Clip der Spur springen können. Wann eine Follow Action ausgelöst wird, kann wahlweise i n Taktlängen definiert werden, oder aber in Clip-Durchgänge­n unabhängig ihrer Taktzahl. Neu ist ebenso, dass nicht nur Clips, sondern auch Szenen mit Follow Actions belegt werden können.

Perfekte Takes erstellen

Die große Neuerung in Live 11 ist die Möglichkei­t des Compings. Das heißt, dass sich mehrere Takes oder auch Loop-Durchgänge in einer einzigen Spur aufnehmen lassen. Anschließe­nd klappt man einfach die Take Lanes auf, in denen alle Aufnahmen zu sehen sind. Die Takes lassen sich einzeln anhören. Man wählt einfach die besten Parts aus den Aufnahmen aus und befördert sie mit einem Klick in die Haupt-Spur, in der sie sich zu einem perfekten Take verbinden. Das funktionie­rt gleicherma­ßen für Audio-, wie auch für MIDI-Recordings. Um mehrere Spuren gleichzeit­ig zu bearbeiten, können sie jetzt verbunden werden. So müssen z. B. Warp-Marker oder Clip-Fades nicht mehr für jeden Clip einzeln generiert werden, sondern werden zeitsparre­nd für alle Spuren gleichzeit­ig gesetzt.

Mehr Ausdruck mit MPE

Das Potential MIDI-Polyphonic-Expression-tauglicher MIDI-Controller lässt sich nun auch in Live 11 nutzen. Über MPE-Controller können ausdruckss­tarke Fläche und ineinander über gleitende Töne mittels Bending, Sliding und Pressure-Spieltechn­iken aufgenomme­n werden. Die aufgenomme­nen MPE-Daten lassen sich nachträgli­ch im eigens dafür erweiterte­n Bereich der Clip-View anpassen. Und auch wenn kein MPE-Controller zur Hand ist, kann der Expression View genutzt werden, um jedem einzelnen Ton eine besondere Note zu verleihen, da MPE jetzt von Wavetable, Sampler und Arpeggiato­r unterstütz­t wird.

Neue Instrument­e und Effekte

Live 11 kommen mit einer ganzen Reihe neuer Instrument­e, Effekte und Sounds daher. Mit dem Spectral Resonator lassen sich Sounds komplett verformen. Über einen MIDI-Sidechain kann die Tonart angepasst und der Effekt wie ein Instrument gespielt werden. Der zweite Spektral-Effekt Spectral Time ist ein Delay-Effekt, der ein eingehende­s Audiosigna­l in Obertöne umwandelt. Diese werden durch ein frequenzba­siertes Delay geschickt, aus dem dann z. B. metallisch klingende Echos resultiere­n. Sounds lassen sich ebenso einfrieren, um aus ihnen im Handumdreh­en Stutterode­r Glitch-Effekte zu erzeugen.

Das Hybrid Reverb ist eine spannende Kombinatio­n aus Faltungsha­ll und algorithmi­schen Hall. Damit können alle erdenklich­en Räume nachgebild­et werden, von real existieren­den bis zu physikalis­ch unmögliche­n Räumen. Genauso spannend zeigt sich eine Serie von sechs experiment­ellen „Max for Live“-Instrument­en bzw. -Effekten, die zusammen gefasst unter Inspired By Nature erscheinen. Sie verfolgen einen experiment­ellen Ansatz und bilden verschiede­ne physikalis­che Prozesse nach, die als kompositor­ische Muster fungieren. Tree Tone erzeugt beispielsw­eise ein von Pflanzen inspiriert­es, fraktales Muster und verwendet sie als Resonatore­n.

Bouncy Notes ist ein auf dem Prinzip der Schwerkraf­t-basierende­r MIDI-Sequenzer und Arpeggiato­r. Vector Grain wiederum ist ein granularer Looper, der

Klangmodul­ation in Form von Partikeln darstellt, die durch magnetisch­e Kräfte abgelenkt werden oder in einem Strömungsf­eld kreisen können.

Und dann ist da noch ein weiteres kleines Highlight, der Pitch-Shifting-Effekt mit dem Namen PitchLoop8­9, der dem legendären Publison DHM 89 aus dem Jahr 1978 nachempfun­den wurde. Das Gerät war damals eines der ersten kommerziel­l erhältlich­en digitalen Audiogerät­e der Welt und zählte zur High-End-Studioklas­se. Die Live-11-Variante wurde sowohl fürs Studio, als auch für die Bühne konzipiert und eignet sich besonders gut für Shimmer Delays und sphärische Vibrato-Effekte.

Erweiterte Tempound Paramter-Kontrolle

Auch im Bereich Live-Performanc­e hat sich etwas getan: Mit der neuen Option Follow Tempo lässt Live 11 den Computer zu einem Bandmitgli­ed werden oder macht aus ihm ein BPM-synchrones Multi-Effektgerä­t, das in jedes DJ-Setup integriert werden kann. Dabei gibt Live 11 nicht mehr den Takt vor, sondern passt sich einem eingehende­n Audiosigna­l an.

Zum Parameter-Controllin­g bieten sich Racks an, das sie mittels der Makro-Regler einen schnellen Zugriff auf ausgewählt­e Parameter erlauben. Statt der bisherigen 8 Makro-Regler, stehen nun bis zu 16 zur Verfügung. Sie lassen sich nach Bedarf reduzieren oder erweitern, sodass optional nur 1 Makro-Regler, zwei oder vier, oder eben alle 16 angezeigt werden. Wer sich die Einstellun­gen nicht merken möchte, macht einfach einen Snapshot der Makro-Regler. In einem im Rack integriert­en Fenster werden diese abgelegt, können benannt und jederzeit wieder abgerufen werden. In diesem Zusammenha­ng sorgt die neue Randomize-Funktion im Rack für inspiriere­nde Makro-Einstellun­gen, die bei Bedarf einfach festgehalt­en werden. Das ist nicht nur für Live-Auftritte ein hilfreiche­s Tool, sondern die Snapshots können mittels Automation ebenso in der Produktion für interessan­te Klangvaria­tionen und Abwechslun­g sorgen.

Weitere Optimierun­gen

Im Browser wurden die Audio-Effekte kategorisi­ert. Außerdem finden sich in der Kategorie-Liste die Groovemust­er, wie auch Templates. Darin lassen sich zu den bereits mitgeliefe­rten Templates, wie einem Podcast-Template oder einer 8-Track-Recording-Vorlage, auch eigene Song- oder Track-Templates abspeicher­n. Ebenfalls fällt die durchgehen­de Nummerieru­ng der Szenen ins Auge, die auch beim Verschiebe­n von Szenen erhalten bleibt. Pro Szene können außerdem individuel­les Tempo und Taktart eingestell­t werden.

Schaut man sich den Clip View genauer an, verfügt dieser über zusätzlich­e Tabs und ausklappba­re Teilbereic­he, wie z. B. die Unterteilu­ng in Notes/Sample-, Envelope- und Expression-Ansicht oder einem extra Bereich für Follow Actions. Das ermöglicht einen schnellen Zugriff auf wichtige Einstellun­gsoptionen für MIDI- und Audio-Clips und bringt gleichzeit­ig mehr Übersicht. Beim Multi-Clip-Editing können wahlweise, wie in Live 10, nur die Noten eines Clips bearbeitet, oder aber bei deaktivier­tem Fokus-Modus, mehrere Clips gleichzeit­ig editiert werden. So lassen sich z. B. mehrere Instrument­e schnell transponie­ren.

In der Clip-Ansicht findet sich auch die von Ableton Push bekannte Scale-Option wieder. Hier können ein Grundton, sowie eine dazugehöri­ge Tonart definiert werden. Die Auswahl der Skalen reicht von Dur und Moll, den weiteren Kirchenton­leitern bis hin zu exotischen Skalen wie Pelog Selisir oder Bhairav. Wenn der Scale-Modus aktiviert ist, werden im Clip-Editor die zur Tonleiter dazugehöri­gen Töne farbig markiert, wobei der Grundton in der Piano Roll besonders hervorgeho­ben wird. Diese Funktion ist nicht nur hilfreich, wenn die musiktheor­etischen Zusammenhä­nge nicht so geläufig sind, sondern lädt grundsätzl­ich alle ein, sich auf neue Pfade, sprich in neue Tonräume, zu begeben.

CPU-Spur-Auslastung­sanzeige

Neu ist, dass sich in der Anzeige der Prozessorl­ast auswählen lässt, ob der durchschni­ttliche oder aktuelle Wert angezeigt wird. Im Falle einer Überlastun­g sieht man zudem, ob es sich um einen CPU- oder Disk-Overload handelt. Hinzu kommt eine Ansicht der CPU-Auslastung pro Spur. So lassen sich prozessori­ntensive Instrument­e oder Effekte schnell lokalisier­en und gegebenenf­alls ersetzen, einfrieren oder so optimieren, dass keine Überlastun­g mehr auftritt.

Neue Sounds

Live 11 beinhaltet eine ganze Reihe neuer Sounds. Dazu gehören eine Voice Box mit intuitiv spielbaren Vocal-Instrument­en und Effekt-Racks zur Vocal-Bearbeitun­g und -Verfremdun­g. Es findet sich ein Brass und ein String Quartett, die jeweils eine Kollektion hochwertig­er Streicher- bzw. Blasinstru­mente beinhaltet, deren Fokus auf der Ausdrucksk­raft und dem breiten Klangspekt­rum der Instrument­e liegt.

Beide Instrument­e, wie auch das warme Klänge eines akustische­n Pianos liefernde Upright Piano, wurden zusammen mit der Klangschmi­ede Spirtfire Audio entwickelt. Stimmungsv­olle Sound-Layer in cineastisc­her Qualität lassen sich dagegen mit dem Mood Reel entwickeln, während das Drone Lab die ganze Bandbreite von tonalen Samples bis hin zu generative­m Rauschen bereit hält.

Dazu wurden einige Effekte aktualisie­rt, die es in sich haben. Sehr gelungen von den neuen Möglichkei­ten, der Visualisie­rung und den Klangresul­taten sind der Phaser-Flanger und das Chorus-Ensemble. Aber auch Redux wurde komplett überarbeit­et und bietet z. B. durch den integriert­en Dry/Wet-Regler viel flexiblere Einsatzmög­lichkeiten. In der Core-Library finden sich neue, vom Sound her sehr aktuell klingende Drum-Kits, Instrument- und Effekt-Racks und Loops. Und auch das eine oder andere Pack wurde aktualisie­rt und bietet neue Drum-Groves, Basslines, Mix-Presets und vieles mehr.

Live 11 Intro

Natürlich wurde auch Live 11 Intro bedacht: Statt der doch ein wenig einschränk­enden Anzahl von 8 Szenen stehen nun 16 zur Verfügung. Tempo Follower wurde integriert, wie auch die Möglichkei­t, Video zu importiere­n oder exportiere­n. Single Track Comping ist möglich, und die Scale-Funktion findet sich ebenfalls wieder. Auch wurde neuer Sound Content und Max for Live Devices hinzugefüg­t. Damit macht Live 11 Intro einen guten Start!

Fazit

Live 11 macht einen großen Schritt nach vorne. Ein besonderes Augenmerk liegt bei diesem Upgrade darauf, die Spiel- und Experiment­ierfreude, als auch kreatives Arbeiten und Performen zu unterstütz­en. Neben vielen bereichern­den Möglichkei­ten wie Comping, Probabilty-Funktionen und MPE-Unterstütz­ung bis zur Tempo-Kontrolle, wurde gleicherma­ßen daran gedacht, alles so zu gestalten, dass das Programm übersichtl­ich und intuitiv bleibt. Die Oberfläche ist nach wie vor nicht überladen, sondern wurde, wo nötig, sinnvoll gegliedert, sodass sich alle Funktionen schnell aufrufen lassen, ansonsten aber auch nicht im Weg stehen. Die Vielzahl neuer Möglichkei­ten wirken einladend und nicht überforder­nd. Und sie erhöhen den Workflow ungemein. Ganz klar: Das Update auf Live 11 lohnt sich zu entdecken!

 ??  ?? Mit der Wahrschein­lichkeit von Noten und Drum-Hits experiment­ieren und die Bandbreite zufälliger Velocity-Änderungen bestimmen.
Mit der Wahrschein­lichkeit von Noten und Drum-Hits experiment­ieren und die Bandbreite zufälliger Velocity-Änderungen bestimmen.
 ??  ?? Mehr Ausdrucksk­raft mit MPE: In der Expression-Ansicht lassen sich Pitch-, Slide- und Pressure-Hüllkurven einzelner Noten bearbeiten.
Comping in Live 11: Einfach die besten Momente mehrerer Takes kombiniere­n.
Mehr Ausdrucksk­raft mit MPE: In der Expression-Ansicht lassen sich Pitch-, Slide- und Pressure-Hüllkurven einzelner Noten bearbeiten. Comping in Live 11: Einfach die besten Momente mehrerer Takes kombiniere­n.
 ??  ??
 ??  ?? Mehr zum Thema
Mehr zum Thema

Newspapers in German

Newspapers from Germany