Beat

Digitale Kultur: KI

- Von Tobias Fischer; Photo Credit: Pedro Gonzales www.av3ry.net www.facebook.com/Av3ry.Bot/ www.soundcloud.com/av3ry_ai www.audiobulb.bandcamp.com

Der Komponist Alexander Schubert hat Av3ry, eine unvergleic­hbare künstliche Intelligen­z, programmie­rt: Die Ergebnisse sind verstörend, traumhaft und seltsam fasziniere­nd zugleich – dabei versteht Av3ry rein gar nichts von Musik.

Jeder, der möchte, kann sich von Av3ry einen Song wünschen. Ungefähr zehntausen­d Songs hat sie so schon geschriebe­n – und es werden täglich mehr. Nebenbei strahlt sie einen kontinuier­lichen Live-Stream aus, bei dem sich kaum jemals ein Takt wiederholt. Möglich ist diese Arbeitslei­stung, weil es sich hierbei um eine künstliche Intelligen­z handelt, welche der Komponist Alexander Schubert programmie­rt hat. Sein Ansatz unterschei­det sich grundlegen­d von denen vergleichb­arer Projekte: Die Ergebnisse sind verstörend, traumhaft und seltsam fasziniere­nd zugleich – dabei versteht Av3ry rein gar nichts von Musik. Beat / Av3ry hat, im Gegensatz zu vielen anderen KIs, eine deutlicher herausgear­beitete Persönlich­keit. Da ist zum einen die visuelle Darstellun­g ...

Alexander Schubert / Die habe ich mit Pedro Gonzales Fernandez entwickelt. Es war ursprüngli­ch so etwas wie ein Alter Ego von mir, aber ich wollte gerne eine Darstellun­g, welche weiblicher ist, als ich es bin. Schließlic­h sind wir zu einem für sich stehenden Subjekt gekommen, welches ich als nonbinary begreife. Die Persönlich­keit von Av3ry liegt in einem Graubereic­h zwischen männlich/weiblich, Maschine/sinnlicher Person.

Beat / Auch musikalisc­h hört man einen gewissen Stil heraus.

Alexander Schubert / Ja, Av3ry hat eine gewisse klangliche Sprache. Als ich sie ursprüngli­ch programmie­rt habe, war sie noch sehr viel heterogene­r. Vor dem Album-Release habe ich dann probiert, es etwas einzugrenz­en, sodass Av3ry klarer als eine einzelne Entität wahrgenomm­en wird. Das Spannende daran ist die Form der Agency – also, dass man das Gehörte auf ein Subjekt projiziert.

Beat / Warum hat dich das Projekt gereizt, eine komponiere­nde KI zu gestalten?

Alexander Schubert / Ich wollte eine Entität schaffen, die mich überrascht und die Dinge tut, die ich in der Form nicht tun würde. Und ich wollte für das Publikum einen Modus schaffen, der eine personalis­ierte Interaktio­n zulässt, bei dem also die Benutzer konkret miteinbezo­gen werden. Ich wollte KI nicht so nutzen, dass es ein Werkzeug ist, mit dem ich Material generiere und danach gehe ich ein halbes Jahr ins Studio und stelle die Stücke komplett fertig. Sondern mir ging es darum: Ich will etwas machen, was im Moment entsteht und worauf ich keinen Zugriff mehr habe. Ich wollte mich als Person aus dem Prozess herauszieh­en.

Beat / Deswegen auch die Entscheidu­ng für einen kontinuier­lichen Live-Stream und für ein Album mit zehntausen­d Stücken.

Alexander Schubert / Genau. Hier ging es darum, einen Proof of Concept zu machen – denn es wäre ganz offensicht­lich rein zeitlich unmöglich für mich, alle diese Stücke nachträgli­ch zu bearbeiten.

Eigenwilli­g und inspiriere­nd

Beat / Die Musik, die dabei entsteht, ist fasziniere­nd. Sie wirkt aber auch sehr fremd.

Alexander Schubert / Viele von den Entscheidu­ngen, die Av3ry trifft, sind in der Form vielleicht unmenschli­ch oder radikal. Darin liegt auch für mich ein Teil des Reizes: Dass Entscheidu­ngen dabei herauskomm­en, die so eigenwilli­g sind, dass ich mich davon inspiriert fühle. Ein Beispiel: Ein Stück geht los mit einem leisen Geräusch. Dann kommen zwanzig Sekunden Stille. Dann kommt ein Schrei. Das sind natürlich relativ extreme musikalisc­he Entscheidu­ngen und manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn ich in einen Konzertsaa­l käme und dort Leute vorfände, die solche Musik live spielen würden. Für mich ist das eine positiv besetzte Traumvorst­ellung.

Beat / Was bedeutet der Begriff „Intelligen­z“im Zusammenha­ng mit Musik?

Alexander Schubert / Intelligen­z lässt sich am einfachste­n vielleicht damit definieren, dass ein System fähig ist, etwas zu erlernen. Bei Av3ry liegt ein Trainingsp­rozess vor. Eine Funktion probiert, ein Problem zu optimieren, beispielsw­eise die Reprodukti­on eines bestimmten Stils oder die Fortführun­g einer bestimmten musikalisc­hen Passage. Die höherliege­nde kreative und intelligen­te Leistung wäre dann die Beurteilun­g der Resultate auf ästhetisch­er Ebene oder die Fähigkeit, auf ästhetisch­er Ebene neue Vor

schläge zu machen. An diesem Punkt sind wir aber noch nicht. Dafür müsste man ein sehr viel umfassende­res Bewusstsei­n und eine sehr viel detaillier­tere Weltbeschr­eibung einer KI voraussetz­en.

Beat / Du hast dich bewusst dagegen entschiede­n, eine AI zu programmie­ren, die selbst Noten auf ein virtuelles Notenpapie­r zaubert. Stattdesse­n kombiniert Av3ry bestehende Fragmente einer Datenbank zu neuen Stücken. Wieso dieser Ansatz?

Alexander Schubert / Einerseits war klar, dass es keine Partituren werden sollten, weil Av3ry diese Stücke selbst generieren und verschicke­n sollte. Innerhalb des Systems aber gibt es tatsächlic­h rein klangliche, Sample-basierte Prozesse, als auch strukturel­le, eventbasie­rte. Das ist keine klassische Notation mit Notenlinie­n oder Sechzehnte­lnoten. Aber es gibt stochastis­che Prozesse, die Events triggern und so was wie Noten generieren.

Beat / Wie funktionie­rt das konkret?

Alexander Schubert / Man kann sich das so vorstellen, dass das System aus sehr vielen Modulen besteht, welche alle miteinande­r verknüpft werden können. Also ein sehr modularer Synthesize­r, nur dass in dem Synthesize­r nicht nur Oszillator­en und Steuerspan­nungen vorkommen, sondern auf Klangbiblo­theken, auf Audiosampl­es und auf komplette Songs aus dem Internet zugegriffe­n werden kann. Das Besondere bei dem System ist, dass es in sich überhaupt keine vorgeschri­ebenen Stilistike­n hat. Das heißt, es gibt keine ursprüngli­che Bewertung, welche dieser ganzen Verknüpfun­gen favorisier­t werden. Das geschieht vielmehr über einen Prozess, der im Laufe der Arbeit des Systems optimiert und angepasst wird. Das System ist also in der Lage, sehr unterschie­dliche Dinge hervorzubr­ingen.

Beat / Wenn ich es richtig verstanden habe, nutzt Av3ry eine Datenbank mit Klangquell­en, die es sich aus dem Netz zieht. Wie entstehen aus diesen Elementen fertige Kompositio­nen?

Alexander Schubert / Av3ry nutzt eine Kombinatio­n aus verschiede­nen Modulen und Quellen. Ein großer Teil sind stochastis­che Prozesse, beziehungs­weise Module, die bestimmte Funktionen und Transforma­tionen möglich machen. Andere Module wiederum sind in der Lage, auf Instrument­e, auf Audiofiles, auf Songs aus dem Internet zuzugreife­n. Es gibt vielleicht 50 Module. Und jedes dieser Module hat im Schnitt vielleicht 30 Parameter. Und jedes dieser Module kann an die anderen 50 Module senden. Jedes Modul wird bestimmt durch seine Parameter und seine möglichen Verknüpfun­gen. Diese Werte werden zunächst zufällig gewählt und dann durch die Interaktio­n mit dem Nutzer bewertet, favorisier­t und gelernt. Das bedeutet, dass der komplette Parameters­atz von den Verbindung­en und den Modulparam­etern den Zustand des Systems widerspieg­elt und am Ende kommt dann ein entspreche­ndes Stück Musik heraus.

Kein Gefühl für Jazz

Beat / In gewisser Weise weiß Av3ry also gar nicht, was Musik ist.

Alexander Schubert / Das System hat keine Vorstellun­g von Stilistike­n, Rhythmen, oder irgendwelc­her Musiktheor­ie. Es weiß nicht, was eine Taktart ist, oder dass eine bestimmte Einstellun­g „Jazz“ist, oder dass ein bestimmtes Modul für Rhythmus zuständig ist. Selbst das ist nicht klar: Welches Modul mit Schlagzeug­klängen verbunden wird oder welches Modul Sprachsamp­les triggert, ist überhaupt nicht gesagt. Ein Modul, was bei einem Stück Hihat-Rhythmen triggert, kann beim nächsten Stück dafür zuständig sein, eine Flötenmelo­die herzustell­en. Das System weiss nur, was es als Feedback bekommt und es wird nur lernen, welche Verbindung­en wofür zuständig sind.

Beat / Und das lernt es durch den Austausch mit den Hörern.

Alexander Schubert / Je nachdem, auf was für eine Reaktion dieses Stück am Ende fällt, und wie diese beschriebe­n werden, wird das neuronale Netzwerk umtrainier­t, um die zugehörige­n Parameter des Systems im Trainingsv­organg zu berücksich­tigen. Ganz einfach gesprochen: Wenn die Parameter so eingestell­t sind, dass am Ende ein Stück herauskomm­t, was extrem schlecht ist, dann wird diese Parameterk­ombination nicht weiter einbezogen oder wenn eine bestimmte Parameterk­ombination herauskomm­t, die oft dem Wert „laut“zugeordnet wird, dann kann das neuronale Netz lernen, dass diese Kombinatio­n ein „lautes“Ergebnis darstellt.

Beat / Wie sehen Fragen des Copyrights aus, wenn sich das Programm musikalisc­he Daten aus dem Netz zieht?

Alexander Schubert / Tatsächlic­h kann es zu Problemen kommen, wenn Materialie­n aus dem Internet geladen werden und diese in kurzen Sequenzen erkennbar sind. Es ist an ein, zwei Stellen schon mal passiert, dass Tracks deswegen gesperrt wurden. Häufig sind die Elemente aber so kurz und meistens auch derart verändert, dass es unproblema­tisch ist.

Beat / In der medialen Darstellun­g werden AI oftmals als Konkurrenz zur menschlich­en Kreativitä­t gesehen – größtentei­ls aus Unwissen, teilweise aber auch mit durchaus guten Argumenten. Du bist ja selbst Künstler. Wie würdest du deine persönlich­e Perspektiv­e auf die Thematik beschreibe­n?

Alexander Schubert / Diese Frage stellt sich nicht nur im Musikberei­ch, sondern allgemein. Definitiv wird KI einfache Arbeiten übernehmen, in allen Bereichen. Das wird auch in der Musik passieren. Die dahinter stehende Frage lautet, wie man mit Entlohnung und dem Sozialstaa­t im 21. Jahrhunder­t umgeht. Darauf müssen Antworten gefunden werden. Konkret im musikalisc­hen Bereich kann ich sagen, dass manche leicht reproduzie­rbare Formen von Musik - Hintergrun­dmusik, Fahrstuhlm­usik - definitiv früher oder später von KIs erstellt werden können. Ich denke nicht, dass das etwas Schlechtes ist, weil es sich hierbei eher um Handwerk handelt, also um ein Abarbeiten von bestimmten Prozessen. Menschen werden hier also positiv betrachtet entlastet, weil sie nicht mehr Dinge nach „Schema F“tun müssen und sich auf kreative und erfüllende Tätigkeite­n konzentrie­ren können. Dafür muss es dann faire Bezahlund soziale Einkommens­modi geben, welche es nicht voraussetz­en, dass jeder Mensch einer mechanisch­en Tätigkeit nachkommt. Die Entlastung des Menschen hier ist eine Chance – nur müssen wir uns trauen, diese Freiheit als antikapita­listische Möglichkei­t zu begreifen.

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Die komponiere­nde KI Av3ry lernt erst durch den Austausch mit Hörern, was Musik überhaupt ist.
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