Tränen im Einkaufszentrum
Das Netz erfindet die Folk-Musik neu. Nahezu täglich entstehen neue Mini-Hypes, musikalische Mikrogenres und Memes. Sind zehnstündige Loops, mutilierte Songs und bis ins Unerkennbare langsamer abgespielte Charts-Hits einfach nur ein unterhaltsamer Zeitvertreib – oder die Zukunft der Musik?
Kane Scott hat ein ungewöhnliches Hobby: Er zerstört für sein Leben gerne Songs. Unter dem Namen Pluffnub hat der Hobby-Musiker einen Youtube-Kanal um komplett ruinierte Versionen großer Pop-Hits aufgebaut. [1] Dort finden sich Perlen wie Michael Jacksons „Beat“in einer Fassung, bei der kein Instrument im selben Tempo spielt. Oder Queens „Radio Gaga“mit einem Freddy Mercury, der einen grausamen Ton niedriger singt als im Original. Die krönende Perle aber ist „Roar“von Katy Perry, bei der sowohl Katys Stimme in der falschen Tonart und die Instrumente wie losgelöst voneinander erklingen. In den Kommentaren zu den Videos jubeln die Fans: „Diese Musik tut meinen Ohren weh und ist unerträglich. Mach weiter so!“oder „Du bist eine Legende. Bleib für immer wie du bist!“[2] Das hat Scott auch vor, solange er nicht, wie er es selbst einmal andeutete, wegen seiner schamlosen Copyright-Verstöße im Gefängnis landet. Anhänger der Originalfassungen haben die Ergebnisse als „intellektuellen Zerstörungswahn“bezeichnet. Andere hingegen sehen Pluffnub als Teil einer weitaus umfassenderen Bewegung, die vor knapp einem Jahrzehnt aus den Untiefen des Internets aufbrodelte und in unregelmäßigen Abständen immer wieder für Verwirrung, Unruhe oder kurzlebige Hypes sorgt. Auch wenn man es sich nur sehr schwer vorstellen kann: Diese Neufassungen könnten unser Verständnis von Musik und Kunst für immer verändern.
Kane Scott ist nur ein Knotenpunkt dieser Bewegung unter vielen. Auf den ersten Blick steht Parodie bei den meisten davon im Zentrum. Sehr beliebt, aber von fragwürdigem Unterhaltungswert waren Bearbeitungen, die jeweils jeden zweiten Takt aus dem Arrangement entfernten. Bei dem Rock-Kracher „Highway to Hell“klang das eher nur verwirrt, bei „Take on Me“(A-HA) oder einigen Hip-Hop-Tracks entstanden immerhin recht interessante neue Melodien und Wortkreationen. Größeren Spaß aber machen zweifelsohne die Videos von Oleg Berg, der die Tonart ausgewählter Pop- und Rock-Klassiker umdreht. Soll heißen: Aus Dur wird Moll und umgekehrt. [3] „Smells like Teen Spirit“wirkt plötzlich lebensbejahend und optimistisch, Eric Clapton‘s „Layla“wird zum gemütlichen Kneipenschunkler. Während die in Dur umgewandelten Lieder eher skurill wirken, werden die Moll-Versionen zu düsteren Hymnen. „Without You“von Harry Nilsson, das im Cover von Mariah Carey 1993 die Charts dominierte,
wird zu einer pechschwarzen Ballade, die keine Gothic-Band jemals so traurig hätte komponieren können. „Every Breath you Take“wiederum wirkt in Moll so überzeugend, dass das Original danach „falsch“wirkt. Und wenn bei „Don‘t worry be happy“die Tränen kullern, dann nicht mehr aus Freude. Über hundert solcher Versionen hat Berg inzwischen bereits erstellt.
Erstaunliche Originalität
Edits wie diese sind verblüffend einfach zu realisieren und für die zahlreichen Besucher, die diese Videos anklicken, sind sie in der Regel wenig mehr als ein humorvoller Zeitvertreib. Beim genaueren Hinhören aber offenbaren sie gelegentlich erstaunliche Originalität. Auch wenn sie natürlich urheberrechtlich geschütztes Material verwenden, kann man sich beispielsweise fragen, ob es sich bei Oleg Bergs Moll/Dur-vertauschten Fassungen nicht bereits um neue Songs handelt. Bergs Bearbeitungen deuten bestehende Kompositionen um, werfen neues Licht auf Lieder, die man eigentlich so gut kennt, dass man sie üblicherweise nur als Hintergrundrauschen wahrnimmt. Noch radikaler sind die extrem entschleunigten Fassungen, die unter dem Tag „800% slower“eine Zeit lang die Runde machten. Aushängeschild war Justin Biebers Schmacht-Schnulze „U Smile“, die in der um den Faktor 800 gedehnten Version plötzlich so gletscherhaft anmutig und betörend daherkommt wie ein Brian Eno‘sches Ambient-Werk. Die Idee der Erweiterung steht auch bei den Bearbeitungen zentral, die „LeeHVLegion“auf Youtube von Klassikern aus dem Katalog der Elektronik-Pioniere Tangerine Dream anfertigt. Statt aber einfach nur die Wellenform der Datei zu strecken, loopt er ausgewählte Passagen so geschickt, dass nur wahre Kenner stutzig werden. Die dabei entstehenden Edits von „Rubycon“oder „Stratosphear“sind oftmals bis zu doppelt so lang - für alle, die noch tiefer in die kosmische Atmosphäre der Berliner Pioniere eintauchen wollen wahre Geschenke. [4]
Wirklich neu ist keiner dieser Ansätze. Schon Besitzer von Plattenspielern nutzten den 33/45/78-Schalter auf ihrem Gerät, um die faszinierende Auswirkung zu beobachten, welche solche Veränderungen auf Charakter und Wirkung der Musik hatten. Und schon deutlich bevor die 800%-Fassungen im Netz zu einer viralen Sensation wurden, spielte der Komponist Kenneth Kirschner zeitgedehnte Versionen von Bach-Stücken vor einem nichts ahnenden Publikum, welches von den traumhaft lang angehaltenen Harmonien und sich zeitlupenhaft entwickelnden Melodien zutiefst gerührt war. Der Unterschied freilich besteht darin, dass diese Ideen im Internet eine neue Qualität annehmen. Sie werden zu Massenphänomenen, zu „Memes“, gelegentlich sogar zu Communities, in denen plötzlich weltweit Hunderte von Gleichgesinnten an ähnlichen Ansätzen arbeiten und ihre Ergebnisse teilen. Alleine schon deshalb ist die Kommentarfunktion bei diesen Phänomenen Teil des Gesamtkunstwerks: Zu sehen, wie eine ihrer Kreationen Tausende von Nutzerbeiträgen generiert, von denen oftmals mehrere geistreicher sind als das eigentliche Video, ist für die meisten Macher Belohnung genug.
Möglichst primitiv
So kann es nicht verwundern, dass irgendwann die ersten eigenständigen Genres entstanden, die auf demselben Ursprungsgedanken beruhten wie die eingangs erwähnten Parodien. Ihnen gemeinsam sind einige grundlegende Elemente: Die Methoden der Bearbeitung müssen möglichst primitiv sein, die Originale sollen erkennbar bleiben, die Musik soll nicht mehr aufmerksam gehört, sondern eher im Hintergrund konsumiert und zur Stimmungsregulierung eingesetzt werden. Unter dem Namen „Vaporware“schälte sich aus einzelnen, scheinbar zufällig aufkeimenden Strängen, eine Musikrichtung heraus, die wie eine große Welle über das Netz schwappte und dabei einige faszinierende Fundstücke hinterließ. „Eccojams vol. 1“von Chuck Person (alias Daniel Lopatin, der inzwischen unter dem neuen Pseudonym Oneohtrix Point Never eine beeindruckende Karriere aufgebaut hat) war eine der ersten Vaporware-Veröffentlichungen, die einen bleibenden Eindruck hinterließ. Im Wesentlichen handelte es sich dabei um einen Sampler aus bekannten Pop-Hits, die durch einen Effektfilter gelotst, grob auseinandergenommen und scheinbar unsystematisch neu zusammengesetzt worden waren. Alles stotterte und stammelte, wie ein korrupter Remaster, wie ein Remix aus der Hölle.
Warum hört sich jemand so etwas freiwillig an? Das Online-Magazin Perfekt Sound Forever sieht die Eccojams als Weiterentwicklung einer Folk-Tradition. Genau wie traditionelle Lieder mittels Wiederholung und subtiler Veränderung von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, arbeiten die Vaporware-Künstler sich an dem Song-Schatz ab, der für sie ihre persönliche Tradition darstellt: Die Charts-Hits aus den 80ern und 90ern. Nicht der bearbeitende Künstler selbst steht hier im Vordergrund (wie bei einem Cover), auch nicht die verwendete Technologie (wie in einem Remix), auch handelt es sich nicht um ein Tribut im engeren Sinne. Vielmehr ist entscheidend, dass man sich mit den eigenen Beiträgen in eine lange Kette von Ausführenden einreiht, die sich alle mit demselben Material auseinandersetzen. Indem wir diese absurd anmutenden Versionen komponieren und indem wir sie uns anhören, erzeugen wir ein Gefühl gemeinsam erlebter Vergangenheit und geteilter Gegenwart, wir heben aus der Masse an Musik hervor, was Bestand und Dauer haben soll. Vaporware erzeugt einen Zeitstrahl und eine Verankerung im Hier und Jetzt, die im eigentlich zeitlosen, in sich gekehrten Netz nicht mehr existiert.
Nostalgische Erinnerungen
Was aber, wenn die Originale nicht mehr aus der Musik zu erkennen sind – entweder, weil die
Transformation zu radikal oder das Original zu unbekannt ist? Dann entsteht aus diesen primitiven Ansätzen plötzlich etwas sehr Spannendes. Der amerikanische Künstler James Ferraro arbeitete in seinen „Rerex“-Studien mit ähnlichen Elementen wie die Eccojams, nur, dass seine Stücke so klangen, als hielte man ein Mikrofon in ein riesiges Aquarium, in dem seltsame Fische schweben und in der Ferne metallische Objekte gegeneinander schlagen. In diesen Werken entsteht eine neue Ästhetik, die zugleich extremst lofi und sehr gekonnt wirkt, sodass einige von Ferraros Alben sogar nachträglich auf CD und Vinyl gepresst und in Zeitschriften wie dem Londoner Wire als Sensation gehandelt wurden.
Die philosophischen Deutungen und Genie-Erklärungen sind überzogen, vor allem, wenn man bedenkt, dass Ferraro das Album zunächst als eine Sammlung von 16 Handyklingeltönen veröffentlichen wollte. [5] Und dennoch kann man diese Stücke durchaus als etwas Tieferes begreifen. Wie kaum eine andere Kunstform spielt Musik mit dem Element der Erinnerung. Nur ein paar Takte eines Songs können uns wieder in die Zeit zurückversetzen, in der wir ihn zum ersten Mal oder am intensivsten erlebten. Die Vaporware-Bearbeitungen machen dieses Element der Erinnerung zum eigentlichen Thema. Indem sie das Original verfremden, schaffen sie Raum dafür, dass wir es mit unserer zutiefst persönlichen, tief in uns abgespeicherten Version vergleichen. Die Kluft dazwischen ist das Gefühl wehmütiger Nostalgie, das uns so oft befällt, wenn wir eine alte CD oder LP auflegen. Das wird sehr gut deutlich an den Stücken, die unter dem Namen „Mall-Core“geteilt werden: Diese mit Hall bearbeiteten Easy-Listening-Stücke (in der Regel schlicht von obskuren Samplern und 70er-Jahre-Alben geklaut) haben den Charakter von Hintergrund-Musik in einem nahezu leeren Einkaufszentrum, sind zugleich rein funktional und seltsam berührend.
Sicherlich ist der weitaus größte Teil dieser Stücke unbedeutend. Immer wieder aber entsteht dabei etwas wahrhaft Faszinierendes. So finden sich im Netz verschiedene lange Atmosphären, die aus Sound-Effekten und Musik-Loops welche dem Science-Fiction-Film „Blade Runner“entnommen wurden, darunter eine nahezu ewig andauernder Regen-Szene, in der unendliche Melancholie mitschwingt. [6] Oder die Genialität, die einen User dazu animierte, das Stone-Temple-Pilots-Stück „Just Press Play“zu loopen. Ursprünglich auf der CD gerade einmal eine Minute kurz spielt es nunmehr zehn Stunden lang. [7] Der Clou dabei: Die Musik wird mit jedem Durchlauf besser, bis sich das gesamte Leben auf diesen Beat eingeschwungen hat und man ihn gar nicht mehr verlassen will. Was zunächst wie ein schlechter Witz klingt, erweist sich als Denken am Rande des Undenkbaren – und macht Hoffnung, dass sich aus all diesen Experimenten vielleicht noch einmal etwas ganz Großes entwickeln könnte.