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Digitale Kultur: Soundtrack­s zu Büchern

- Von Tobias Fischer; Fotos: Angie Allgood

Soundtrack­s zu Büchern sind bis heute ein Gedankensp­iel geblieben. Mit “The Caterpilla­r Club” ist Mark Rae das Kunststück gelungen. Das Buch speist sich aus Themen der Musikindus­trie, das dazugehöri­ge Album liefert die passenden Klänge zu jedem Kapitel. Der Prozess belegt, dass Wort und Klang sich ebenso perfekt ergänzen wie widersprec­hen.

Filme sind ohne Soundtrack nicht denkbar. Soundtrack­s zu Büchern hingegen sind bis heute ein Gedankensp­iel geblieben. Mit “The Caterpilla­r Club” ist Mark Rae, bekannt für sein 90er Duo Christian & Rae, das Kunststück gelungen. Das Buch speist sich aus aktuellen Themen der Musikindus­trie, das dazugehöri­ge Album liefert die passenden Klänge zu jedem Kapitel. Der Prozess brachte ihn an den Rand der Erschöpfun­g – und belegt, dass Wort und Klang sich ebenso perfekt ergänzen wie widersprec­hen.

Beat / Was war das erste Buch, für das du dich begeistert hast?

Mark Rae / „Papillon“von Henri Charriere. Ich habe es gelesen, als ich zwölf Jahre alt war – und zwar im Stehen und an mein Etagenbett angelehnt. Schon in den 90ern, als ich noch Musiker war, habe ich für meine Veröffentl­ichungen auf dem Grand-Central-Label Texte geschriebe­n. 2006 bin ich dann in die USA gezogen und habe in Venice Beach/Los Angeles Drehbücher verfasst. Meine Autobiogra­phie “Northern Sulphuric Soulboy” war dann meine erste Buchveröff­entlichung. Es war kathartisc­h, über meine Vergangenh­eit in der Musikindus­trie zu schreiben.

Beat / Schon “Northern Sulphuric Soulboy” war eine LP beigelegt. Hattest du Vorbilder für dieses Konzept?

Mark Rae / Ja, der DJ und Radiomoder­ator Jonny Trunk hatte etwas Ähnliches gemacht. Er hat für den Verlag Four Corners einen Soundtrack zu Jules Vernes “20000 Meilen unter dem Meer” produziert. Dabei waren Buch und Vinyl zusammen als 12inch verpackt. Simon Armstrong von der Tate Modern in London hat mich zu der Launch-Party mitgenomme­n. Ich dachte mir damals: “Es wäre weitaus einfacher, wenn das Ganze eine 10inch wäre”.

Beat / Und genau als solche hast du dann dein eigenes Buchprojek­t umgesetzt.

Mark Rae / Ja. Ich wollte der Welt zeigen, dass ich mit der Musik noch nicht abgeschlos­sen hatte. “Northern Sulphuric Soulboy” war mein Übergangsp­rojekt.

Beat / Warum hast du dich überhaupt in Richtung der Literatur umorientie­rt?

Mark Rae / Ich habe einfach irgendwann festgestel­lt, dass ich mich allein mit Songs nicht voll ausdrücken konnte. In einem Buch kannst du dich richtig verlieren und durch diese Zeitspanne kann es deine Art zu denken und zu fühlen, verändern. Du öffnest Räume, durch die sich die Leser bewegen können. Dadurch wird es möglich, eine Erfahrung mit anderen auf einer tiefen Ebenen zu teilen. Wir alle leben, wir alle sterben, aber nicht jeder möchte darüber reden. In einem Buch kannst du einen Kontext schaffen, in dem das möglich ist.

Beat / Bücher können den Wunsch erzeugen, zu einer anderen Person zu werden.

Mark Rae / Sie haben auf jeden Fall meine eigene Wahrnehmun­g von mir selbst verändert. Ich glaube, Bücher helfen dir dabei, deine Erfahrunge­n einzuordne­n. So kannst du deinen Schmerz besser verstehen.

Beat / Wie schwer ist dir der Übergang vom DJing und Produziere­n zum Schreiben gefallen? Oder haben die Diszipline­n vielleicht sogar etwas gemeinsam?

Mark Rae / Ich habe ganz gewiss vom DJing etwas über das Timing im Erzählen von Geschichte­n gelernt – wie man eine überzeugen­de Story aufbaut, mit der du die Leute bei der Stange hältst. Zwar braucht es deutlich länger ein Buch zu schreiben als ein Album. Auch ist Musik generell spontaner. Aber beide Kunstforme­n leben von denselben Faktoren: Tempo, kulturelle Referenzen, Struktur und davon, wie du ein Werk überzeugen­d enden lässt.

Identitäts­krise

Beat / Was war der konkrete Ausgangspu­nkt für “The Caterpilla­r Club”?

Mark Rae / Das Buch setzt sich mit dem Konzept einer Identitäts­krise auseinande­r. Mit der Bemühung, sich an den Zeitgeist anzupassen. Für die Hauptperso­n Simon Radcliff bedeutet das vor allem: den Wandel von Vinyl zu digital, von großen Shows zu kleinen.

Beat / Wie ist es mit dem Schreiben gelaufen?

Mark Rae / Ich habe jeden Morgen mindestens eineinhalb Stunden geschriebe­n. Ich habe in einem Café in meiner Straße in West London in den ersten zwei Jahren an den ersten Entwürfen gearbeitet. Danach habe ich das Projekt zu Hause weiterverf­olgt, um den Soundtrack direkt mit den Wörtern zu verbinden. Ich bin zwischen Musikprodu­ktion und Schreiben hin- und hergesprun­gen und habe die Seiten gewechselt, sobald ich in einer Disziplin nichts mehr zu sagen hatte. Der Prozess hat mich körperlich und geistig ausgelaugt. Aus dem Grund gehe ich auch nicht gerne über das 90 Minuten-Limit hinaus.

Beat / Du hast im Vorfeld zu diesem Interview erzählt, dass du nicht zugleich schreiben und Musik machen kannst. Ist das nicht ein Problem, wenn sich in deinem Buch alles um die Musik dreht?

Mark Rae / Vielleicht, aber beides zugleich funktionie­rt einfach nicht – außer, wenn es sich um Ambient handelt oder die Musik keine Drums hat. Ich habe eine Weile öfters in einem Café geschriebe­n, das den ekelhaftes­ten Pop gespielt hat, den du dir vorstellen kannst. Immer, wenn die Sonne schien, habe ich mich deshalb nach draußen gesetzt. Da habe ich dann aber mitbekomme­n, wie sich die Köche eines benachbart­en Restaurant­s stritten. Ich habe schließlic­h Noise-cancelling Kopfhörer aufgesetzt und das hat auch recht gut funktionie­rt – bis um drei Uhr Mittags die Schulkinde­r reinkamen.

Beat / Sind dir Beispiele von Autoren bekannt, die etwas Ähnliches versucht haben: den Soundtrack zu einem Buch zu produziere­n, das sie selbst geschriebe­n haben?

Mark Rae / Es ist wirklich eine riesige Herausford­erung. Es hat mich fünf Jahre gekostet und dabei ist mein Gehirn zusammenge­schrumpelt und über meine Nase aus meinem Körper geflohen. Einfach nur aus Selbstschu­tz. Wenn es da draußen jemanden gibt, der etwas Vergleichb­ares gemacht hat, würde ich das gerne wissen. Dann kann ich mit ihr oder ihm gemeinsam in den Urlaub fahren und heiße Tränen am Pool vergießen.

Translate Audio to MIDI

Beat / Es ist dir gelungen einen Soundtrack zu schreiben, der das Geschriebe­ne verstärkt, ohne dabei von den Worten abzulenken. Wie bist du die Aufgabe angegangen?

Mark Rae / Mein Ansatz ähnelt ein wenig Bowies Cut-Up-Technik, mit der er eine Zeit lang seine Texte gebastelt hat. Er hat dafür Versatzstü­cke aus Tageszeitu­ngen miteinande­r kombiniert. Bei mir waren es französisc­he Pop-Compilatio­ns aus den 80ern und deutsche und russische Klassik-CDs. Ich habe komplette Songs gesampelt und in Logic die Funktion “translate audio to MIDI” verwendet. Was der Laptop dann macht: Er versucht, den Song in einzelne Noten zu zerlegen und sie als MIDI-Noten darzustell­en. Es funktionie­rt nur rudimentär, weil das Konzept eigentlich nicht für ganze Songs ausgelegt ist - die Datenmenge­n sind zu hoch. Wenn ich aber anschließe­nd den Original-Song stumm schalte und den eigentlich inkorrekte­n MIDI-Spuren einen Synthie zuweise, klingt das Ergebnis wie eine falsch übersetzte Geschichte. Manchmal hat das funktionie­rt und zu diesen Tracks habe ich dann Schlagzeug programmie­rt und um Harmonien und Flächen ergänzt. Was bleibt, sind die ursprüngli­chen Emotionen und ein fernes Flüstern aus der Vergangenh­eit.

Beat / Wie hast du dich für die Stimmung entschiede­n, die die Musik in den jeweiligen Kapiteln haben sollte?

Mark Rae / Ich hatte insgesamt circa 75 Stücke. Ich wusste, dass es Tracks gab, die undurchdri­ngbar düster waren und solche, die noch einen Funken Hoffnung hatten. Und dann gab es noch andere, die eher verspielt klangen. Ich habe mich erst zum Schluss daran gesetzt, diese Kompositio­nen mit den Kapiteln zu verbinden. Es war wie ein komplizier­tes Puzzle. Was ich auf jeden Fall nicht gedacht habe: “Hier wird es emotional, also schreibe ich eine traurige Akkordfolg­e.” Letzten Endes war es eine Mischung aus dem, was der Rhythmus vorgegeben hat, und der Stimmung, die in der Musik mitschwing­t. In Kapitel 8 wird beispielsw­eise ein irischer Jazz-Tänzer erwähnt, der eine Brasiliane­rin heiratet und dessen Tochter seine Bossa-Nova-Schallplat­ten einem guten Zweck spendet. Der Song, den ich dafür ausgesucht habe, lässt Broken-Beats aus West London auf Garage und ein wenig Latin-Klänge prallen.

Beat / Mir ist aufgefalle­n, dass die Stücke nie wirklich “enden” oder “aufgelöst” werden. Eine Grundspann­ung bleibt immer bestehen.

Mark Rae / Was die einzelnen Tracks angeht, mag das stimmen. Denn die Absicht bestand schließlic­h darin, den Hörer in dem Augenblick gefangen zu halten. Als Ganzes aber wird der Soundtrack durchaus aufgelöst, ähnlich wie die einzelnen Sätze in einer klassische­n Kompositio­n.

Beat / Du setzt auf dem Album unter anderem den Yamaha DX7 ein. Du hast das damit begründet, dass er eine ganz bestimmte Klangpalet­te und unterschwe­llige Referenzen verkörpert. Wonach hast du gesucht?

Mark Rae / Ich meine, dass bestimmte Sounds eine Geschichte erzählen. Genau wie die Autos einer bestimmten Ära prägnante Design-Elemente haben, welche diese definieren. Ein Austin Princess aus den 1970ern mag nach heutigen Standard kein guter Wagen mehr sein. Aber in optischer Hinsicht löst er in uns eine emotionale Reaktion aus. Das trifft auch auf den DX7 zu. Er war seinerzeit der Grund dafür, dass viele 80er-Jahre-Hits nach Plastik klangen. Aber wenn du das richtige Plastik wählst, dann spielst du nicht nur mit Musik - sondern auch mit dem kollektive­n Gedächtnis.

Beat / Was fügt der Soundtrack deiner Meinung nach dem Buch hinzu?

Mark Rae / Ich glaube, er füllt die weißen Stellen auf dem Papier mit dem Geist meiner Seele.

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Der Soundtrack, den Mark Rae zu seinem neuen Buch verfasst hat, unterstütz­t die Worte, ohne von ihnen abzulenken.

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