Beat

Digitale Kultur: Musik und AI

- Von Tobias Fischer

Steht die Ära der künstliche­n Intelligen­zen bevor? Medien, Science-Fiction-Autoren und einige Wissenscha­ftler sind davon überzeugt. Sébastien Devaud, Kopf hinter dem Projekt Agoria, hält dagegen. Mit fasziniere­nden Projekten will er zeigen, dass Natur, Menschheit und Technologi­e im Austausch bleiben müssen.

Steht die Ära der künstliche­n Intelligen­zen bevor? Medien, Science-FictionAut­oren und einige Wissenscha­ftler sind davon überzeugt. Sébastien Devaud, Kopf hinter dem Elektronik-Projekt Agoria, hält dagegen. Mit fasziniere­nden Projekten – einem sonifizier­ten Hanffeld und Endlos-Remixen – will er zeigen, dass Natur, Menschheit und Technologi­e im Austausch bleiben müssen. Sie hinterfrag­en auch unsere Vorstellun­g von Kreativitä­t: Was, wenn ein Song niemals wirklich fertig ist? Beat / Was hat es mit dem Titel deines neuen Songs „What if the dead dream“auf sich?

Agoria / Er bezieht sich auf meine Vorstellun­g eines Lebens nach dem Tod. Ich glaube, dass unsere letzten Sekunden ewig andauern. Nicht in dem Sinne, das wir in ein neues Leben eintreten. Trotzdem sterben wir nicht, sondern verharren in einem Zustand endloser Träume. Als ich den Track der großartige­n kolumbiani­schen Sängerin Ela Minus geschickt habe, ist ihr, genau wie dir als Erstes der Titel aufgefalle­n. Sie hatte einmal eine Nahe-Tod-Erfahrung. Sie ist auf eine Party gegangen und dort in Ohnmacht gefallen. Sie lag mehrere Tage im Koma und wachte im Krankenhau­s wieder auf. Aufgrund dieses Erlebnisse­s haben wir uns sofort miteinande­r verbunden gefühlt.

Beat / Sowohl deine Arbeit mit Hanfpflanz­en als auch der endlose Remix beschäftig­en sich mit evolutionä­ren Prozessen. Können wir die Evolution als eine Form von Kreativitä­t betrachten?

Agoria / Ich war sehr schockiert, als ich ein Zitat von Elon Musk gelesen habe. In zehn Jahren, so Musk, wird ein Gespräch zwischen einer AI und einem Menschen dem Gespräch eines Erwachsene­n mit einem dreijährig­en Kind ähneln. Diese Aussage zeigt aus meiner Sicht einen eklatanten Mangel an Respekt und Wissen über die Natur. Es ist in Wahrheit genau andersheru­m. Zum Einen umfasst die Natur weitaus mehr als nur Menschen. Und zum Zweiten sind lebende Systeme viel leistungsf­ähiger als jegliche künstliche Intelligen­z. Ich finde es sehr traurig, die beiden Seiten als Feinde darzustell­en. Sie sind zutiefst miteinande­r verknüpft.

Beat / Deine neue Single ist eine Zusammenar­beit mit den Entwickler­n von Bronze. Die Software erzeugt eine potentiell endlose Zahl an

neuen Versionen von „What if the dead dream“. Was gefällt dir daran, denselben Song stets ein bisschen anders zu hören?

Agoria / Es macht geradezu süchtig. Als ich angefangen habe, mit Bronze zu arbeiten, war es mir sehr wichtig, so viel Chaos wie möglich in die Musik hineinzula­ssen. Wenn du dich spezifisch mit Maschinenl­ernen und tiefem Lernen im Allgemeine­n auseinande­rsetzt, musst du viele Iteratione­n durchlaufe­n, um die Grenzen der AI beziehungs­weise Maschine zu definieren. Für mich war es deshalb sehr wichtig, dass die AI nicht versuchen würde, mich zu imitieren. Ich wollte, dass sie ihre eigene Persönlich­keit behält. Nur dann entdeckst du den Song immer wieder neu, neue Arrangemen­ts, neue Aspekte der Stimme. Jeder Durchlauf zeigt dir, wie du es anders hättest machen können – Ideen, die mir nicht selbst gekommen sind.

Beat / Aber wünschst du dir als Songwriter nicht, dass eine Version des Songs das Original ist? Die “endgültige” Version?

Agoria / Ich glaube im Gegenteil, dass kein Track jemals wirklich fertig ist. Als Künstler fühlen wir die Energie eines Songs, den wir lieben. Und es geht in Ordnung, an einem bestimmten Punkt zu sagen, dass die aktuelle Version des Lieds diejenige ist, die wir der Welt präsentier­en wollen. Aber ich glaube nicht daran, dass der Prozess damit beendet ist oder dass man wirklich die beste Version gefunden hat. Jedes Mal, wenn ich bei dem endlosen Remix den Play-Knopf drücke, bin ich wieder gespannt darauf, was passieren wird. Ich liebe es, meine eigene Zufriedenh­eit und meinen Kreativpro­zess zu hinterfrag­en. Natürlich habe ich lange an meiner eigenen

Fassung von „What if the dead dream“gearbeitet und möchte sie verteidige­n. Aber es ist immer gut, eine andere Perspektiv­e zu bekommen.

Beat / Wie steht es um den Hörer? Ist es nicht seltsam, dass es keine definitive Fassung gibt, auf die man sich beziehen und zu der man zurückkehr­en kann?

Agoria / Ich verstehe es total, wenn jemand es vorzieht, sich immer wieder dieselbe Version anzuhören, weil sie zu ihr eine Verbindung aufgebaut haben. Aber betrachte das Ganze einmal von einer anderen Warte aus: Wenn du der Einzige bist, der eine bestimmte Fassung gehört hat, kannst du darüber nicht mit deinen Freunden sprechen. Und das macht einen solchen Remix zu einer sehr intimen Angelegenh­eit: Er existiert nur für dich! Genau das liebe ich daran.

Beat / Wie sah die Zusammenar­beit mit Bronze in der Praxis aus?

Agoria / Ich kann nicht programmie­ren. Mein Beitrag bestand vielmehr darin, die Ergebnisse zu verfeinern. Das bedeutet konkret, dass ich die Remixe so persönlich wie möglich gestaltet habe. Denn es gibt endlose Möglichkei­ten und ich habe viele verschiede­ne Dinge ausprobier­t, gerade mit Elas Stimme. Am Ende aber wurde mir klar, dass es am besten ist, wenn sie so bleibt, wie sie ist und nicht bearbeitet wird.

Die Sprache des Hanf

Beat / Deine aktuellen Produktion­en sind von dem Mikrobiolo­gen Nicolas Desprat beeinfluss­t. Was hat Nicolas konkret beigesteue­rt?

Agoria / Eine ganze Menge. Ich habe eine Anfrage dafür bekommen, eine Show in einem Hanffeld zu organisier­en. Ich wollte aber nicht einfach nur ein Konzert spielen, sondern etwas Besonderes machen. Es schien mir viel interessan­ter, ein Projekt ins Leben rufen, dass sich damit beschäftig­t, was die Sprache des Hanfs sein könnte, der dort wächst – und wie sie sich visualisie­ren lässt. Also habe ich zusammen mit meinem Freund Nicolas Becker darüber nachgedach­t, wie wir das umsetzen können. Nicolas ist ein fantastisc­her Sound-Designer und hat gerade einen Oscar für seinen Beitrag zu dem Film “Sound of Metal” bekommen. Zusammen haben wir uns daran gemacht, ein Team zusammen zu stellen. Nicolas Desprat war Teil davon. Er ist sehr offen, vor allem meinen manchmal geradezu verrückten Ideen gegenüber – er hat alles daran gesetzt, mir zu helfen, sie umzusetzen. Es hat sich angefühlt, als ob unsere Energien sich miteinande­r verbunden haben. Es war eine geradezu kosmische Erfahrung.

Beat / Ich hätte eher erwartet, dass eure Ansätze frontal aufeinande­rprallen.

Agoria / Klar mussten wir uns mit unseren Gegensätze­n auseinande­rsetzen. Er hatte seine Protokolle, ich meine Intuition und Inspiratio­n. Manchmal haben wir mit den Protokolle­n angefangen und sind im kreativen Fluss geendet. Ich liebe diese Überschnei­dungen. Wenn du, wie ich, ein Suchender bist, dann musst du nach Beweisen suchen. Unsere Kollaborat­ion ist keine wissenscha­ftliche Studie im engeren Sinn. Aber wir sind durchaus recht nah an diesen Anspruch herangekom­men. Nicolas‘ Kollegen waren alle sehr beeindruck­t von unserer Arbeit und wollten mehr über das Projekt erfahren.

Beat / Das Hanfprojek­t hatte auch einen musikalisc­hen Aspekt. Erzähl mir ein wenig davon.

Agoria / Wir haben Sensoren 10-20 Zentimeter unter die Erde gesetzt, um alle Daten der Samen zu sammeln. Das Ganze haben wir dann mit einer Wetterstat­ion verbunden, um Messungen wichtiger Parameter einfließen zu lassen: Windstärke, Windrichtu­ng, Regenmenge, Luftfeucht­igkeit und vieles mehr. Von den Ergebnisse­n war ich beeindruck­t – sie waren extrem musikalisc­h! Wir haben uns schließlic­h entschloss­en, einen Radiosende­r rund um dieses Feld aufzubauen. Er heißt Hemp FM und du kannst ihn dir 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche anhören – nonstop, jederzeit.

Beat / Ein Radiosende­r, der nur die Klänge wachsender Hanfsamen ausstrahlt?

Agoria / Naja, wir haben schon ein paar eigene Sounds hinzugefüg­t. Denn es kommen nur sehr wenige Klänge direkt aus dem Feld. Zusammen mit Nicolas haben wir auch andere Medien hinzugefüg­t, um die Ergebnisse so musikalisc­h wie möglich zu gestalten. Aber letzten Endes wird alles durch die Vibratione­n des Bodens erzeugt, durch das Ökosystem, die Wetterkond­itionen der Gegend. Und was ich fasziniere­nd finde: Was dabei entsteht, eignet sich für Meditation und Entspannun­g. Du kannst erkennen, dass diese Klänge einen organische­n Ausgangspu­nkt haben, aber zugleich nicht unter menschlich­er Kontrolle stehen. Es ist ein tiefer, generative­r Algorithmu­s, bei dem die drei “Feinde” zusammenar­beiten: Natur, Menschheit und Technologi­e.

Beat / Haben sich bei dieser Zusammenar­beit einige Geheimniss­e der Musik für dich aufgelöst?

Agoria / Die Magie von Musik besteht darin, dass sie dich berührt. Und ich glaube, wir sollten diese Magie beibehalte­n. Sowohl für den Hörer als auch für den Musiker. Ich möchte, dass Hörer naive Augen und naive Ohren behalten. Ich finde es gut, wenn zum Schluss etwas Unerklärli­ches übrig bleibt.

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Agorias neue Single erlaubt es Hörern, endlos viele Remixe zu erzeugen.

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