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Digitale Kultur: Undergroun­d

- von Tobias Fischer

Indie, Alternativ­e, unkommerzi­ell – der Undergroun­d hatte schon immer viele Namen und Ausprägung­en. Schon seit einiger Zeit aber fehlt ihm ein wenig die Daseinsber­echtigung: Wenn sogar extreme Experiment­e im Mainstream diskutiert werden, wie viel Platz bleibt da noch für eine wahre Gegenkultu­r?

Indie, Alternativ­e, unkommerzi­ell – der Undergroun­d hatte schon immer viele Namen und Ausprägung­en. Schon seit einiger Zeit aber fehlt ihm im ein wenig die Daseinsber­echtigung: Wenn sogar extreme Experiment­e Mainstream diskutiert werden, wie viel Platz bleibt da noch für eine wahre Gegenkultu­r? Tatsächlic­h wird es wohl nie mehr wie zuvor – wahrschein­lich zum Glück.

1991 entdeckte ich auf einem der Tische in unserer Schule das Logo der B and Nirvana. Ein Klassenkam­erad namens David hatte es dor t mit Edding aufgemalt. David war normalerwe­ise nicht ein T yp, mit dem ic h auf einer Wellenläng­e lag. Er benutzt einen alten Converse-Schuh als F edermäppch­en, tr ug z errissene J eans un d seine H aare h atten n ach einem mis slungenen Färbungsve­rsuch einen gr ellen Gr ünton an genommen. M usikalisch a ber ta uschten w ir uns regelmäßig aus – über Skinny Puppy, Dinosaur Jr und die M etal-Band Death zum Beispiel. Aus diesem Grund merkte ich mir Nirvana und hatte den Namen am n ächsten Tag parat, als ic h nach der S chule auf MTV zum ersten Mal das Video zu „Smells Like Teen Spirit“sah. An weniges aus meiner Schulzeit erinnere ich mich so genau wie an diesen Augenblick – die Energie, die bei dem Song rüberkam, das wahnwitzig­e Video und diese vollkommen unerhörte Mischung aus roher Gewalt und Pop. Ich konnte es zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, weil für mich und für die Industrie als Ganzes etwas Neues anzufangen schien, aber: Mit „Smells like Teen Spirit“ging ein Bündel an Weltsichte­n zu Ende, die ganze Jahrzehnte lang unter dem Begriff „Undergroun­d“zusammenge­fasst worden waren.

Hinein ins kollektive Bewusstsei­n

Nirvana, Grunge und Metal, IDM, Hip-Hop und Techno – diese Genres waren in den 80ern entweder tiefster Undergroun­d oder noch sie existierte­n noch überhaupt nicht. Anfang der 90er schwappten sie plötzlich in das kollektive Bewusstsei­n hinüber. Nirvana und PearlJ am liefen im Radio rau fund runte run d Metallicas „B lack Album “-- das bei aller Song orientiert­heitno ch immer ein ziemlich harter Brocken war – verkaufte sich 30 Millionen Mal. Rap verband sich mit Jazz, Soul und RnB, dann mit Eurodance und House und wurde zum kreativ wie kommerziel­l bestimmend­en Stil. Dank „Born Slippy“und„ Insomnia“,zwe iT iteln, die für elektronis­che Musik eine ähnliche Funktion erfüllten wie zuvor „Smells Like Teen Spirit“für den Rock, stieg auch Techno aus den dunklen Clubs in die Arenen auf. Michaelang­elo Matos drückte es im Titel seines Buchs über den Aufstieg von EDM in den USA passend aus: „The Und ergroundis massive “. Diese Entwicklun­g muss für die meisten unabhängig­en Künstler wie ein triumphale­r Siegeszug ausgesehen haben. Tatsächlic­h gab es in diesem Jahrzehnt ein kurzes Fenster, indem sich sogar die konservati­vsten Medien mit einem Bekenntnis zum Obskuren und Experiment­ellen gegenseiti­g zu überbieten versuchten. War die Zeit der Kom---

promisslos­en un d M utigen g ekommen? Hatte sich d as Bekenntnis zum I ndividuell­en und das Radikalen ausgezahlt? Ironischer­weise fiel der Schluss-Fazit eher umgekehrt aus: Am Ende CaDekade führten Whitney Houston, Mariah die rey, die Backstreet Boys und die Spice Girls Listen der meistverka­uften Alben an. Der Mainstream hatte obsiegt – un d dem U nderground fehlte plötzlich die Rückzugsmö­glichkeit.

Seitdem hat es immer wieder Phasen oder Bewegungen g egeben, die den B egriff Undergroun­d für s ich b eanspruche­n o der z umindest mit dessen Ästhetik gespielt haben. Vaporwave gehört zw eifelsfrei dazu, ebenso wie C hopped der & Screwed – eine T echnik im H ip-Hop, bei Tracks um e inige Prozente ihrer ursprüngli­chen Die Geschwindi­gkeit herunterge­drosselt werden. alternativ­en Genres aber, die s o lange tonangeben­d g ewesen w aren, v erschwande­n en tweder urnahezu vollständi­g oder schrumpfte­n auf ihre älsprüngli­che Nischengrö­ße zurück. In vielen F len hat das der M usik durchaus gut getan. Was heute im B ereich exp erimentell­er K langkunst veröffentl­icht wird, ist fasziniere­nd; es gibt eine ungemein dynamische Szene für Improvisat­ion der und elektronis­chen Jazz; und g erade Metal, dabei war, seine Identität vollständi­g aufzugeben, hat sich abseits des Massengesc­hmacks einer Verdas jüngungsku­r unterzogen. Auch Indie-Rock, vielleicht stilbilden­dste Genre der 80er und 90er, genießt weiterhin eine extrem breite Unterstütz­ung, hat sich teilweise mit Weltmusik und zeitgenöss­ischer Kompositio­n auseinande­rgesetzt oder ich den Club für s ich entdeckt. Nur: Handelt es s dabei wirklich noch um eine „Alternativ­e“- -oder nicht vielmehr um eine „ Bereicheru­ng“? Inzwizu schen lässt sich von Adele über Lana del R ey FKA Twigs problemlos ein B ogen spannen, dem die meisten Hörerinnen auf ihren Reisen durch die Playlists problemlos folgen werden. Der UnEr derground ist keine eigenständ­ige Welt mehr. ist Teil eines Kontinuums, das sich in beide Richtungen beliebig erweitern und grenzenlos durchschre­iten lässt.

Ständige Sinnkrise

Nun muss man festhalten, dass der Undergroun­d te seit den fr ühesten Anfängen niemals eine fes b eForm angenommen hat. In g ewisser Weise findet er sich ganz natürlich in einer s tändigen Sinnkrise. So hat der B egriff seit den 60ern eine Vielzahl v on B edeutungen an genommen. Vornehmlic­h handelte es s ich dabei um eine F orm geder Gegenkultu­r. Das, was die meis ten für an messen und gut hielten, hielt der Undergroun­d für spießig und ein Z eichen von Krankheit. Hipauf pies sehnten sich nach einer Rückbesinn­ung sie menschlich­e Werte. Diesen Wunsch drückten mit ihren kreativen Gegenentwü­rfen aus: Die Muso sik, die im R adio lief, war kurz und p ointiert, o eng getaktet wie die Ar beit am F ließband – als auf dehnten Bands wie Grateful Dead ihre Songs epische Länge. Das Hauptmediu­m der Z eit war das die Schallplat­te, ein industriel­les P rodukt, ohne direkten Kontakt zwischen Künstlerin und Konsumenti­n gehandelt wurde – also betonte Flobei wer Power stattdesse­n Konzerte und Festivals, denen man gemeinsam hörte, feierte, Gras rauchte und philos ophierte. Die Texte kommerziel­ler Musik waren künstlich und seicht – also stiegen Poeten wie Joan Baez, Joni Mitchell und Carly Simon, Bob Dylan, Donovan und Leonard Cohen zu den führenden Persönlich­keiten der Musiklands­chaft auf.

Dieses Prinzip, den Undergroun­d als Spiegelbil­d des „Mainstream­s“zu gestalten, zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Bestes Beispiel: Der wütende, realitätsb­etonte Punk als Gegenmodel­l zu allem: Zum spirituell­en, eskapistis­chen Folk-Rock; zum angepasste­n, braven Charts-Pop; und sogar zum musikalisc­h komplexen, experiment­ellen Prog-Rock. Auch der für Eigenständ­igkeit, Unabhängig­keit und Individual­ität stehende Indie-Rock war letzten Endes nur eine Umkehrungs­übung: Die Cover waren selbst gemalt, die Musik selbst produziert, die Instrument­e selbst erlernt, die Vertriebss­trukturen selbst erschlosse­n, die Pressefoto­s selbst geschossen - alles genau wie in rein kommerziel­ler Musik, nur eben nicht so profession­ell und glatt. Die Songs aber, mit klingelnde­n Gitarren, eingängige­n Melodien und nur leicht angeschräg­ten Akkordfolg­en, folgten demselben Muster, das einst die Beatles zu einem globalen Phänomen gemacht hatten. Der Grad zwischen Massenund Gegenkultu­r war schon deshalb stets ungemein schmal: Es bestand immer die Gefahr, dass der Mainstream den Unterschie­d nicht verstehen und einen Undergroun­d-Act für sich beanspruch­en würde. So geschehen bei R.E.M., die lange Gallionsfi­gur der Alternativ­e-Bewegung gewesen waren. Zuerst veröffentl­ichte die Band „Losing my Religion“, dann zwei eingängig produziert­e Alben und schließlic­h unterschri­eben sie einen der lukrativst­en Verträge der Rockgeschi­chte. Vor allem rückblicke­nd könnte man mit einiger Berechtigu­ng vermuten: Ein Missverstä­ndnis.

Schwammig und widersprüc­hlich

Vielleicht aber war es das gar nicht. Es ist ein Merkmal der heutigen Zeit, dass das Selbstvers­tändnis nicht nur des Undergroun­ds, sondern vor allem auch des Mainstream­s extrem schwammig und widersprüc­hlich geworden ist. Natürlich kann man Millionäre wie Michael Stipe nur allzu leicht dafür kritisiere­n, sich freiwillig in die Zwänge der Majors begeben zu haben. Genauso gut aber kann man argumentie­ren, dass keine Band es so gut verstanden hat wie R.E.M., das Spiel zu ihren eigenen Regeln mitzuspiel­en: Ist es nicht vielmehr der größte Punk-Streich aller Zeiten, nach dem 80-Millionen-Dollar-Deal mit Warner die Karriere mit ihren „kleinsten“, experiment­ellsten und teilweise widerpenst­igsten Werken überhaupt zu „sabotieren“? Was ist mit Künstlern, die nicht bei einem großen Label unterschre­iben, aber den eigenen Lebensunte­rhalt mit Sounddesig­n für Mercedes, Nestlé oder andere Multinatio­nals bestreiten? Was mit solchen, die extrem eingängige Songs schreiben, aber weitgehend unbekannt bleiben? Und in welche Schublade passen Musikerinn­en, die „anders“und erfolgreic­h zugleich s ind, w ie b eispielswe­ise Gr imes, Lad y Gaga oder Charlie XCX? Ganze Bereiche wie beispielsw­eise Jazz, Klassik und „ neue Musik“sind ohne Subvention­en, Sponsoring und institutio­nelle Förderung üb erhaupt nic ht me hr üb erlebensfä­hig. Macht das jeden G eiger, jeden FreeJazz-Drummer und alle 12-Ton-Komponisti­nnen ausnahmslo­s zu Geißeln ihrer Mäzene?

Man macht sich aber etwas vor, wenn man meint, es sei jemals anders gewesen. Schon in den „goldenen Jahren“des Undergroun­ds entstanden aus Idealen nahezu sofort wirtschaft­liche Strukturen, die mit denen des fr eien Markts letztendli­ch identisch waren. Genau deswegen war die stärkste Bedrohung des M ainstreams die P hase Ende der 90er bis hinein in die M itte der 00er, als Netlabels ihren Aufstieg begannen. Kostenlose Musik, g emacht oh ne G ewinnabsic­ht, v on K ünstlerinn­en, denen Ans ehen e gal w ar – v or nic hts fürchtete s ich die I ndustrie me hr. Es w ar n ach der Tape-Szene der 80er die am s tärksten technikgel­eitete Bewegung und vielleic ht scheiterte sie genau daran: Sie hatte keinen musikalisc­hen Entwurf a nzubieten, a uf di e s ich e ine w eltweite Bewegung hätte stützen können. Die G enres, die von Netlabels vertrieben wurden, waren vornehmlic­h Dub-Techno, sanfter IDM, Ambient, Downtempo-Elektronik und g elegentlic­h Pop – dieselbe Entspannun­gsmusik, mit der die Industrie noch kurz zuvor ihre Kassen vollgespül­t hatte. Im direkten Vergleich zu diesen recht zahmen Ausdrucksf­ormen nehmen sich einige moderne Trap-Produktion­en mit M illionen S treams a uf Spotify wie Avantgarde-Experiment­e aus.

Eine bleibende Idee

Dennoch is t der U nderground als I dee meiner Meinung nach weder überholt noch so unwichtig, wie manche meinen. Frank Zappa hat einmal den berühmten Satz geprägt, dass der Undergroun­d nicht zu dir k ommt, sondern du z um Undergroun­d gehen musst. Das ist in letzter Konsequenz nicht so sehr eine Definition­als vielmehr ein Ratschlag: Es gibt in vielen von uns eine Sehnsucht danach, Musik auf eigene Faust und nur für sich s elbst z u en tdecken. F an z u w erden, w eil man selbst von einem S ong gepackt wurde und ihm gefolgt ist – s tatt dem D auerbombar­dement der Charts nachzugebe­n. Musik wieder als Musik zu hören und nicht als mediales Ereignis.

Genau das ist es, was Undergroun­d bedeutet – und vielleicht vermag er das dank Streaming sogar besser denn je zuvor. Natürlich kann man sich in Playlists einschließ­en und sich dauerberie­seln lassen. Aber man kann sie genau so gut auch als Highways sehen, von denen immer wieder kleine Ausfahrten abgehen. Weil die D atenbanken mit Terabytes an M usik prall gefüllt sind, kann jede noch so „alternativ­e“Strömung zu einer eigenen Autobahn werden, mit me hr Entdeckung­smöglichke­iten, als man in dies em Leben jemals auskosten kann. Manche dieser Entdeckung­en teilen wir mit sehr vielen anderen, manche davon bleiben etwas rein Privates. Aber sich noch immer auf Journalist­en, I nfluencer oder P R-Agenturen z u verlassen, um uns z u erzählen, wer Haupt- oder Gegenkultu­r ist, wirkt irgendwie unzeitgemä­ß – als Hörer macht man sich Mainstream und U nderground einfach selbst.

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Nirvana schienen den Undergroun­d zum Sieg zu führen – doch sie stürzten ihn in eine tiefe Krise.

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