Digitale Kultur: Underground
Indie, Alternative, unkommerziell – der Underground hatte schon immer viele Namen und Ausprägungen. Schon seit einiger Zeit aber fehlt ihm ein wenig die Daseinsberechtigung: Wenn sogar extreme Experimente im Mainstream diskutiert werden, wie viel Platz bleibt da noch für eine wahre Gegenkultur?
Indie, Alternative, unkommerziell – der Underground hatte schon immer viele Namen und Ausprägungen. Schon seit einiger Zeit aber fehlt ihm im ein wenig die Daseinsberechtigung: Wenn sogar extreme Experimente Mainstream diskutiert werden, wie viel Platz bleibt da noch für eine wahre Gegenkultur? Tatsächlich wird es wohl nie mehr wie zuvor – wahrscheinlich zum Glück.
1991 entdeckte ich auf einem der Tische in unserer Schule das Logo der B and Nirvana. Ein Klassenkamerad namens David hatte es dor t mit Edding aufgemalt. David war normalerweise nicht ein T yp, mit dem ic h auf einer Wellenlänge lag. Er benutzt einen alten Converse-Schuh als F edermäppchen, tr ug z errissene J eans un d seine H aare h atten n ach einem mis slungenen Färbungsversuch einen gr ellen Gr ünton an genommen. M usikalisch a ber ta uschten w ir uns regelmäßig aus – über Skinny Puppy, Dinosaur Jr und die M etal-Band Death zum Beispiel. Aus diesem Grund merkte ich mir Nirvana und hatte den Namen am n ächsten Tag parat, als ic h nach der S chule auf MTV zum ersten Mal das Video zu „Smells Like Teen Spirit“sah. An weniges aus meiner Schulzeit erinnere ich mich so genau wie an diesen Augenblick – die Energie, die bei dem Song rüberkam, das wahnwitzige Video und diese vollkommen unerhörte Mischung aus roher Gewalt und Pop. Ich konnte es zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, weil für mich und für die Industrie als Ganzes etwas Neues anzufangen schien, aber: Mit „Smells like Teen Spirit“ging ein Bündel an Weltsichten zu Ende, die ganze Jahrzehnte lang unter dem Begriff „Underground“zusammengefasst worden waren.
Hinein ins kollektive Bewusstsein
Nirvana, Grunge und Metal, IDM, Hip-Hop und Techno – diese Genres waren in den 80ern entweder tiefster Underground oder noch sie existierten noch überhaupt nicht. Anfang der 90er schwappten sie plötzlich in das kollektive Bewusstsein hinüber. Nirvana und PearlJ am liefen im Radio rau fund runte run d Metallicas „B lack Album “-- das bei aller Song orientiertheitno ch immer ein ziemlich harter Brocken war – verkaufte sich 30 Millionen Mal. Rap verband sich mit Jazz, Soul und RnB, dann mit Eurodance und House und wurde zum kreativ wie kommerziell bestimmenden Stil. Dank „Born Slippy“und„ Insomnia“,zwe iT iteln, die für elektronische Musik eine ähnliche Funktion erfüllten wie zuvor „Smells Like Teen Spirit“für den Rock, stieg auch Techno aus den dunklen Clubs in die Arenen auf. Michaelangelo Matos drückte es im Titel seines Buchs über den Aufstieg von EDM in den USA passend aus: „The Und ergroundis massive “. Diese Entwicklung muss für die meisten unabhängigen Künstler wie ein triumphaler Siegeszug ausgesehen haben. Tatsächlich gab es in diesem Jahrzehnt ein kurzes Fenster, indem sich sogar die konservativsten Medien mit einem Bekenntnis zum Obskuren und Experimentellen gegenseitig zu überbieten versuchten. War die Zeit der Kom---
promisslosen un d M utigen g ekommen? Hatte sich d as Bekenntnis zum I ndividuellen und das Radikalen ausgezahlt? Ironischerweise fiel der Schluss-Fazit eher umgekehrt aus: Am Ende CaDekade führten Whitney Houston, Mariah die rey, die Backstreet Boys und die Spice Girls Listen der meistverkauften Alben an. Der Mainstream hatte obsiegt – un d dem U nderground fehlte plötzlich die Rückzugsmöglichkeit.
Seitdem hat es immer wieder Phasen oder Bewegungen g egeben, die den B egriff Underground für s ich b eanspruchen o der z umindest mit dessen Ästhetik gespielt haben. Vaporwave gehört zw eifelsfrei dazu, ebenso wie C hopped der & Screwed – eine T echnik im H ip-Hop, bei Tracks um e inige Prozente ihrer ursprünglichen Die Geschwindigkeit heruntergedrosselt werden. alternativen Genres aber, die s o lange tonangebend g ewesen w aren, v erschwanden en tweder urnahezu vollständig oder schrumpften auf ihre älsprüngliche Nischengröße zurück. In vielen F len hat das der M usik durchaus gut getan. Was heute im B ereich exp erimenteller K langkunst veröffentlicht wird, ist faszinierend; es gibt eine ungemein dynamische Szene für Improvisation der und elektronischen Jazz; und g erade Metal, dabei war, seine Identität vollständig aufzugeben, hat sich abseits des Massengeschmacks einer Verdas jüngungskur unterzogen. Auch Indie-Rock, vielleicht stilbildendste Genre der 80er und 90er, genießt weiterhin eine extrem breite Unterstützung, hat sich teilweise mit Weltmusik und zeitgenössischer Komposition auseinandergesetzt oder ich den Club für s ich entdeckt. Nur: Handelt es s dabei wirklich noch um eine „Alternative“- -oder nicht vielmehr um eine „ Bereicherung“? Inzwizu schen lässt sich von Adele über Lana del R ey FKA Twigs problemlos ein B ogen spannen, dem die meisten Hörerinnen auf ihren Reisen durch die Playlists problemlos folgen werden. Der UnEr derground ist keine eigenständige Welt mehr. ist Teil eines Kontinuums, das sich in beide Richtungen beliebig erweitern und grenzenlos durchschreiten lässt.
Ständige Sinnkrise
Nun muss man festhalten, dass der Underground te seit den fr ühesten Anfängen niemals eine fes b eForm angenommen hat. In g ewisser Weise findet er sich ganz natürlich in einer s tändigen Sinnkrise. So hat der B egriff seit den 60ern eine Vielzahl v on B edeutungen an genommen. Vornehmlich handelte es s ich dabei um eine F orm geder Gegenkultur. Das, was die meis ten für an messen und gut hielten, hielt der Underground für spießig und ein Z eichen von Krankheit. Hipauf pies sehnten sich nach einer Rückbesinnung sie menschliche Werte. Diesen Wunsch drückten mit ihren kreativen Gegenentwürfen aus: Die Muso sik, die im R adio lief, war kurz und p ointiert, o eng getaktet wie die Ar beit am F ließband – als auf dehnten Bands wie Grateful Dead ihre Songs epische Länge. Das Hauptmedium der Z eit war das die Schallplatte, ein industrielles P rodukt, ohne direkten Kontakt zwischen Künstlerin und Konsumentin gehandelt wurde – also betonte Flobei wer Power stattdessen Konzerte und Festivals, denen man gemeinsam hörte, feierte, Gras rauchte und philos ophierte. Die Texte kommerzieller Musik waren künstlich und seicht – also stiegen Poeten wie Joan Baez, Joni Mitchell und Carly Simon, Bob Dylan, Donovan und Leonard Cohen zu den führenden Persönlichkeiten der Musiklandschaft auf.
Dieses Prinzip, den Underground als Spiegelbild des „Mainstreams“zu gestalten, zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Bestes Beispiel: Der wütende, realitätsbetonte Punk als Gegenmodell zu allem: Zum spirituellen, eskapistischen Folk-Rock; zum angepassten, braven Charts-Pop; und sogar zum musikalisch komplexen, experimentellen Prog-Rock. Auch der für Eigenständigkeit, Unabhängigkeit und Individualität stehende Indie-Rock war letzten Endes nur eine Umkehrungsübung: Die Cover waren selbst gemalt, die Musik selbst produziert, die Instrumente selbst erlernt, die Vertriebsstrukturen selbst erschlossen, die Pressefotos selbst geschossen - alles genau wie in rein kommerzieller Musik, nur eben nicht so professionell und glatt. Die Songs aber, mit klingelnden Gitarren, eingängigen Melodien und nur leicht angeschrägten Akkordfolgen, folgten demselben Muster, das einst die Beatles zu einem globalen Phänomen gemacht hatten. Der Grad zwischen Massenund Gegenkultur war schon deshalb stets ungemein schmal: Es bestand immer die Gefahr, dass der Mainstream den Unterschied nicht verstehen und einen Underground-Act für sich beanspruchen würde. So geschehen bei R.E.M., die lange Gallionsfigur der Alternative-Bewegung gewesen waren. Zuerst veröffentlichte die Band „Losing my Religion“, dann zwei eingängig produzierte Alben und schließlich unterschrieben sie einen der lukrativsten Verträge der Rockgeschichte. Vor allem rückblickend könnte man mit einiger Berechtigung vermuten: Ein Missverständnis.
Schwammig und widersprüchlich
Vielleicht aber war es das gar nicht. Es ist ein Merkmal der heutigen Zeit, dass das Selbstverständnis nicht nur des Undergrounds, sondern vor allem auch des Mainstreams extrem schwammig und widersprüchlich geworden ist. Natürlich kann man Millionäre wie Michael Stipe nur allzu leicht dafür kritisieren, sich freiwillig in die Zwänge der Majors begeben zu haben. Genauso gut aber kann man argumentieren, dass keine Band es so gut verstanden hat wie R.E.M., das Spiel zu ihren eigenen Regeln mitzuspielen: Ist es nicht vielmehr der größte Punk-Streich aller Zeiten, nach dem 80-Millionen-Dollar-Deal mit Warner die Karriere mit ihren „kleinsten“, experimentellsten und teilweise widerpenstigsten Werken überhaupt zu „sabotieren“? Was ist mit Künstlern, die nicht bei einem großen Label unterschreiben, aber den eigenen Lebensunterhalt mit Sounddesign für Mercedes, Nestlé oder andere Multinationals bestreiten? Was mit solchen, die extrem eingängige Songs schreiben, aber weitgehend unbekannt bleiben? Und in welche Schublade passen Musikerinnen, die „anders“und erfolgreich zugleich s ind, w ie b eispielsweise Gr imes, Lad y Gaga oder Charlie XCX? Ganze Bereiche wie beispielsweise Jazz, Klassik und „ neue Musik“sind ohne Subventionen, Sponsoring und institutionelle Förderung üb erhaupt nic ht me hr üb erlebensfähig. Macht das jeden G eiger, jeden FreeJazz-Drummer und alle 12-Ton-Komponistinnen ausnahmslos zu Geißeln ihrer Mäzene?
Man macht sich aber etwas vor, wenn man meint, es sei jemals anders gewesen. Schon in den „goldenen Jahren“des Undergrounds entstanden aus Idealen nahezu sofort wirtschaftliche Strukturen, die mit denen des fr eien Markts letztendlich identisch waren. Genau deswegen war die stärkste Bedrohung des M ainstreams die P hase Ende der 90er bis hinein in die M itte der 00er, als Netlabels ihren Aufstieg begannen. Kostenlose Musik, g emacht oh ne G ewinnabsicht, v on K ünstlerinnen, denen Ans ehen e gal w ar – v or nic hts fürchtete s ich die I ndustrie me hr. Es w ar n ach der Tape-Szene der 80er die am s tärksten technikgeleitete Bewegung und vielleic ht scheiterte sie genau daran: Sie hatte keinen musikalischen Entwurf a nzubieten, a uf di e s ich e ine w eltweite Bewegung hätte stützen können. Die G enres, die von Netlabels vertrieben wurden, waren vornehmlich Dub-Techno, sanfter IDM, Ambient, Downtempo-Elektronik und g elegentlich Pop – dieselbe Entspannungsmusik, mit der die Industrie noch kurz zuvor ihre Kassen vollgespült hatte. Im direkten Vergleich zu diesen recht zahmen Ausdrucksformen nehmen sich einige moderne Trap-Produktionen mit M illionen S treams a uf Spotify wie Avantgarde-Experimente aus.
Eine bleibende Idee
Dennoch is t der U nderground als I dee meiner Meinung nach weder überholt noch so unwichtig, wie manche meinen. Frank Zappa hat einmal den berühmten Satz geprägt, dass der Underground nicht zu dir k ommt, sondern du z um Underground gehen musst. Das ist in letzter Konsequenz nicht so sehr eine Definitionals vielmehr ein Ratschlag: Es gibt in vielen von uns eine Sehnsucht danach, Musik auf eigene Faust und nur für sich s elbst z u en tdecken. F an z u w erden, w eil man selbst von einem S ong gepackt wurde und ihm gefolgt ist – s tatt dem D auerbombardement der Charts nachzugeben. Musik wieder als Musik zu hören und nicht als mediales Ereignis.
Genau das ist es, was Underground bedeutet – und vielleicht vermag er das dank Streaming sogar besser denn je zuvor. Natürlich kann man sich in Playlists einschließen und sich dauerberieseln lassen. Aber man kann sie genau so gut auch als Highways sehen, von denen immer wieder kleine Ausfahrten abgehen. Weil die D atenbanken mit Terabytes an M usik prall gefüllt sind, kann jede noch so „alternative“Strömung zu einer eigenen Autobahn werden, mit me hr Entdeckungsmöglichkeiten, als man in dies em Leben jemals auskosten kann. Manche dieser Entdeckungen teilen wir mit sehr vielen anderen, manche davon bleiben etwas rein Privates. Aber sich noch immer auf Journalisten, I nfluencer oder P R-Agenturen z u verlassen, um uns z u erzählen, wer Haupt- oder Gegenkultur ist, wirkt irgendwie unzeitgemäß – als Hörer macht man sich Mainstream und U nderground einfach selbst.