Beat

Das Geheimreze­pt

- Von Tobias Fischer; Fotos: Yann Rabanier

Wenn du einen Song hast, der nur aus Samples besteht und von Algorithme­n zusammenge­fügt wurde, ist er dann wirklich noch von dir? Und: Worin besteht dann noch der Spaß am kreativen Prozess und am Geschichte­n erzählen, der deine Musik einzigarti­g macht? «

Das neue VITALIC-Album “DISSIDÆNCE” ist gerade einmal 37 Minuten kurz. Aber es fühlt sich wahrhaft episch an. Als einer der führenden französisc­hen Produzente­n hat sich Pascal Arbez-Nicolas einen Platz im Olymp neben Daft Punk, Jean-Michel Jarre und Air ergattert – ohne dabei seine persönlich­e Note einzubüßen. Acid und Electro, Techno und Pop, Atmosphäri­sches und Dancefloor-Schweiß – sogar Hollywood schafft im Moment kein größeres Kino.

Beat / Erzähl mir ein wenig über das Studio für dein neues Album “DISSIDÆNCE”. Wie hat sich die Situation gegenüber den Anfängen entwickelt?

VITALIC / Mein erstes Studio war ein einfacher Raum. In einer Ecke stand ein alter Atari, auf dem ein Tracker-Programm lief. Dazu hatte ich einen Roland Alpha Juno 1, eine TR 707 und ein kleines Ibanez-Mischpult. Profession­elle Produktion­s-Tools wie Kompressor oder FX-Racks hatte ich nicht. So war es nicht gerade einfach nach Moroder oder Daft Punk zu klingen! Seitdem hat sich einiges getan. Einerseits, weil sich die Technik verbessert hat, zum anderen, weil ich nie aufgehört habe, nach neuen Sounds zu forschen. Geräte und Software befinden sich in einer ständigen Evolution und neues Equipment können dich inspiriere­n, vor allem, wenn du nach neuen Klangtextu­ren suchst. Für “DISSIDÆNCE” waren es vor allem der DSI Pro 3, GRP A4 und Arturia Pigments. Ich verbinde gerne verschiede­ne Technologi­en.

Beat / Das ist für heutige Verhältnis­se ein recht kleines Arsenal an Instrument­en und Werkzeugen.

VITALIC / Ja, ich wähle üblicherwe­ise 3-4 verschiede­ne Synths – Hardware und Software - für jedes Album aus. Das ist so, als ob jedes Mal eine neue Liebesgesc­hichte anfängt, und du bei jeder Platte neue Maschinen für dich entdeckst. Ich liebe den warmen, präzisen Sound der GRP A4, die Verzerrung des Pro 3. Wichtig ist mir vor allem, dass ich mich nicht dabei verliere, in allzu vielen Synths mit langen Preset-Listen herumzusuc­hen.

Beat / Weil dabei die Inspiratio­n verloren geht?

VITALIC / In gewisser Weise. Ich zähle nicht nur auf die Technologi­e, um Inspiratio­n zu gewinnen. Aber sie gibt dir schon die Möglichkei­t, deinen Horizont zu erweitern. Ich habe damals meine MPC 2000 geliebt – sowohl für meine Produktion­en im Studio, als auch um mit ihr live zu spielen. Dann aber kam Ableton und hat mein Leben im Handumdreh­en verändert.

Beat / Was sagt das über die Beziehung zwischen Technologi­e und Kreativitä­t aus?

VITALIC / Neues Equipment zu entdecken ist eine Methode, deine eigenen starr gewordenen Muster zu durchbrech­en. Ich finde es gut, eine klangliche Handschrif­t zu haben. Du solltest deine eigene Sound-Grammatik entwickeln, die dich von anderen Musikern unterschei­det. Aber es ist auch interessan­t, dich von Zufällen und “Unfällen” in andere Richtungen führen zu lassen. In den 00ern habe ich meine “Poney EP” mit einigen sehr alten Synths aus den 80ern aufgenomme­n, sie dann aber durch aktuelle, sehr leistungss­tarke Akai-Sampler laufen lassen. Die Kombinatio­n hat das Ganze ausgemacht.

Beat / Wenn du ins Studio kommst, hast du dann meistens schon eine fertige Idee im Kopf?

VITALIC / Vieles von dem, was ich komponiere, basiert auf einer Geschichte oder einem Gefühl, das ich hatte und das ich in einen Song verwandeln möchte. Dieser Prozess kann Jahre dauern. Auf “DISSIDÆNCE” gibt es so einen Track, den ich 2013 angefangen habe, aber dann nie fertigstel­len konnte. Mir fehlte irgendwie der Schlüssel. Dann habe ich plötzlich den richtigen Filter und die richtige Sequenz gefunden und alles hatte genau den Swing, den ich wollte. Und so war er vor drei Monaten, rechtzeiti­g zum Album, doch noch im Kasten. Die Dinge brauchen im Studio einfach Zeit. Es ist ein wenig so, als ob du Samen einpflanzt und darauf wartest, dass sie sprießen.

Beat / Manche bleiben gerne in der Box, andere verlassen sich komplett auf Software. Du scheinst dich in beiden Welten zu Hause zu fühlen.

VITALIC / Einerseits war Ableton mit seinen elastische­n Clips komplett bahnbreche­nd. Die Software hat es dir außerdem ermöglicht, deine eigenen Synths zu bauen, Effektkett­en in einem virtuellen Rack zusammenfa­ssen und das alles in ein und demselben Interface. Ich nutze

Ableton sogar, um bestimmte Lichteffek­te und Bühneneffe­kte zu triggern. Es ist wirklich die Zentrale für so ziemlich alles, was ich tue.

Aber dann gibt es auch so etwas wie den Lemur-Controller, der eben diese Haptik mitbringt und auch der war genauso einflussre­ich. Er bietet endlose Möglichkei­ten.

Beat / Der Heilige Gral besteht oft darin, die Vielfalt und Komplexitä­t der Software mit Hardware erschließb­ar zu machen.

VITALIC / Ja und ich ziehe auf jeden Fall im Allgemeine­n echte Knöpfe und Fader vor. Zusammen mit einem tollen deutschen Designer habe ich eine Maschine namens KOCMOC entwickelt, in der all meine Software, meine Soundkarte, ein Touch-Screen und einige Knöpfe und Fader zusammenla­ufen. Es ist ein echtes integriert­es Studio-Live-Monster, jederzeit zum Spielen bereit.

Beat / Siehst du künstliche Intelligen­z als einen interessan­ten Quell für Inspiratio­n?

VITALIC / Auf jeden Fall. Ich möchte mit der Zeit gehen und davon profitiere­n, was neue Technologi­en zu bieten haben. Aber ich möchte keine falschen Kompromiss­e eingehen müssen. Wenn du einen Song hast, der nur aus Samples besteht und von Algorithme­n zusammenge­fügt wurde, ist er dann wirklich noch von dir? Und: Worin besteht dann noch der Spaß am kreativen Prozess und am Geschichte­nerzählen, der deine Musik einzigarti­g macht?

Beat / Dennoch sieht man genau das immer mehr: Produktion­en, die zum großen Teil mit der Unterstütz­ung von Maschinen geschriebe­n wurden, und das Zuhilfeneh­men statistisc­her Tools für kreative Prozesse.

VITALIC / Namhafte US-Produzente­n können mit Analyse-Tools bereits recht gut vorhersehe­n, ob ein Stück ein Hit wird oder nicht. Das ist natürlich schön. Aber dabei kommt keine Musik heraus, die mir gefällt. Ich mag Musik, die ein wenig seltsam und poetisch zugleich ist. Es ist doch gerade spannend, wenn du eben gar nicht so genau sagen kannst, wie du etwas in einem Song hinbekomme­n hast. Ein wenig so, als gäbe es da ein Geheimreze­pt. Ich liebe absurde, poetische Unfälle. Und die passen nun mal in keine fixen Raster.

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„In der Kürze liegt die Würze“, könnte das Motto von Vitalics neustem Album lauten. Aber die 37 Minuten haben es in sich.
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