Digitale Kultur: Vinyl-Revival
Vinyl ist wieder da und die Musikindustrie jubelt! Nur kleine Labels und weniger bekannte Künstler*innen können sich nicht so recht mitfreuen. Werden doch ihre Produktionen ganz gezielt gegenüber denen der Mainstream-Acts benachteiligt – können sich bald nur noch die ganz Großen Vinyl leisten?
Vinyl ist wieder da und die Musikindustrie jubelt: Angesichts rapide steigender Verkaufszahlen und hoher Gewinnmargen beschert die Rückkehr des Formats den Majors nostalgische Glücksgefühle. Nur kleine Labels und weniger bekannte Künstler*innen können sich nicht so recht mitfreuen. Werden doch ihre Produktionen ganz gezielt gegenüber denen der Mainstream-Acts benachteiligt – können sich bald nur noch die ganz Großen Vinyl leisten?
Für dir Fans von Adele war der 19.11.2021 ein besonderer Tag. Fünf Jahre nach ihrem rekordbrechenden “25” legte die britische Sängerin endlich mit einem neuen Album nach. Ich war an diesem Tag in einigen Plattenläden in Berlin und hatte den Eindruck, sogar Institutionen wie das Kulturkaufhaus Dussmann selten derart voll erlebt zu haben. Massen drängten sich zu Regalen, in denen sich “30”-LPs bis zur Decke stapelten. Es fühlte sich etwas bizarr, aber nicht wirklich schlecht an, Teil eines solchen Massenphänomens zu sein, vor allem in Zeiten, in denen Veröffentlichungstage im Grunde genommen bedeutungslos geworden und physische Formate zu einer Art Nebengedanken verkommen sind. Da sich Sony, nach 22 Millionen verkaufter Exemplare von “25” von dem Nachfolger einen ähnlichen Goldregen versprach, waren alle großen Presswerke weltweit durch die Produktion von “30” blockiert worden. Sogar Ed Sheeran musste sich gedulden, ehe alle bestellten Kopien vom Fließband gerollt waren. Sheeran wird den “Rückschlag” verkraften können. Für viele weniger bekannte Künstler und Labels, aber war der 19.11. eine Art Damoklesschwert – und ein Zeichen an der Wand, dass Vinyl bald zu einem Luxus wird, den sie sich schlicht nicht mehr leisten können.
Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn es waren kleine Labels und Independent Artists, die das Format in den so schwierigen 80ern und 90ern am Leben hielten, während die Major sich längst ausgeklinkt hatten. Ich hatte das große Glück, einige Jahre in den frühen 00ern für ein solches Label aus den Niederlanden zu arbeiten: Tonefloat, der Label-Ableger des Crazy-Diamond-Versandhandels in Rotterdam. Hier wurden, abseits aller Mainstream-Pfade Alben von Bands wie Porcupine Tree und Steven Wilsons verschiedenen experimentellen Nebenprojekten, oder auch die Ambient-Epen des belgischen Produzenten und Komponisten Dirk Serries alias VidnaObmana in kunstvollen Sonderausgaben gefertigt. Wilsons erstes Solo-Album “Insurgentes” beispielsweise erschien auf vier 10inch Platten, deren Hüllen in ein edles gebundenes Buch eingeklebt waren. Die VidnaObmana Werkschau “Chasing The Odyssee” oder das Porcupine-Tree-Live-Set “Anesthetize” erschienen, weit vor dem aktuellen Hype, als opulente Box-Sets aus mehreren Schallplatten, edlen Begleitbüchern und individuellem Artwork. Als ein Kind der CD-Generation, das sich nur gelegentlich eine LP aus den Umzugskartons der Ramschläden gezogen hatte, war dies eine ebenso fremde wie faszinierende Welt. Schon bald verfiel ich selbst dem Zauber, der von großartig präsentiertem und gepresstem Vinyl ausgeht.
Tonefloat verkaufte seine Veröffentlichungen in der Regel komplett aus und presste nichts mehr nach. Das war ein großer Erfolg, aber die Auflagen waren selbstredend sehr gering. Zu diesem Zeitpunkt war die Plattenindustrie mit Napster und Co beschäftigt und hatte keine Muße, sich mit dem eventuellen Revival eines längst totgeglaubten Formats auseinanderzusetzen. Aufmerksam wurde man erst, als sich Seiten wie Discogs etablierten, auf denen Schallplatten für teilweise irrwitzige Beträge die Eigentümer*in wechselten – und das in durchaus beträchtlichen Stückzahlen. Plattenläden kehrten zurück und sie führten längst nicht mehr nur völlig obskure Titel. Im Hardwax am Berliner Landwehrkanal kann man sich seit vielen Jahren bereits mit Klassikern wie Aphex Twin eindecken. Das HHV in Friedrichshain versorgt seine Besucher mit physischen Exemplaren des Instrumental-Hip-Hop-Klassikers “Donuts” von J Dilla. Sobald eines der größeren Labels ein Album nachpresste, waren sämtliche LPs in der Regel innerhalb von Minuten verkauft. Sogar Skeptiker mussten einsehen, dass es hier einen Markt gab. Die Frage war nur noch: Wie groß war dieser Markt?
Vinyl ist wieder da
Inzwischen weiß man: Vinyl ist tatsächlich wieder da und fährt beträchtliche Zusatzeinnahmen ein. Heute kann eine Band wie die Pixies eine 8LP Box mit Live-Aufnahmen veröffentlichen und davon ausgehen, dass keine Kopie übrigbleibt. Und wenn Nirvana zum inzwischen 30. Album-Geburtstag eine Sonderauflage von “Nevermind” präsentieren, dann erntet das kein müdes Gähnen, sondern vielmehr endlose Video- und Forumsfehden um die Qualität der Pressung und des Masterings. Auch wenn die Stückzahlen weiterhin unter denen der CD liegen, hat Vinyl auf einigen wichtigen Märkten, darunter laut neusten Zahlen auch die USA, das digitale Tonträgerformat, was den Umsatz angeht, bereits abgehängt. Die CD wird im direkten Vergleich teilweise nahezu stiefmütterlich behandelt: Aktuelle Veröffentlichungen einiger namhafter Künstler*innen gibt es teilweise nur noch digital oder auf LP – nicht aber im Jewelcase oder Digipack.
Der Gipfel des Absurden: Immer mehr klassische Alben, aus allen Genres, werden wieder als LP aufgelegt. Es gibt sogar Abo-Modelle, die es Vinyl-Einsteigern ermöglichen sollen, sich schnell, effizient und vermeintlich preiswert, eine beeindruckende LP-Kollektionen zuzulegen. Damit hat sich für die Musikindustrie der Kreislauf geschlossen: Nachdem sie in den 80ern und 90ern ihren Katalog bereits auf CD wiederverwertete und riesige Schallplattensammlungen auf der Müllhalde landeten, tut sie nun das Gleiche umgekehrt. Seit einigen bereits wird das bekannte Blue Note Label für seine Reissue-Reihe gepriesen, deren neueste Runde auf LP mehr Aufsehen erregte als so manche tagesaktuelle Veröffentlichung – mit Alben aus den 60ern und 70ern, die nun für über 20 Euro pro Stück über die Ladentheke gehen.
Rückkehr unter anderen Vorzeichen
Auch, wenn die üblichen Schlagzeilen lauten, dass “Vinyl ein Comeback” erlebt, ist es doch eine Rückkehr unter anderen Vorzeichen. Moderne LPs wiegen weitaus mehr als die klassischen Originale. Während der Goldstandard heute bei 180-200 Gramm liegt, brachten vergleichbare Produktionen aus der ehemaligen Hochzeit des Formats selten mehr als 120 auf die Waage. In der Theorie ist die Logik hinter der Gewichtszunahme, dass eine schwere LP planer auf dem Plattenteller aufliegt, und somit gleichmäßiger läuft. In der Praxis sieht es eher so aus, dass schwere Schallplatten weitaus mehr Gefahr laufen, Defekte aufzuweisen, sodass in der Regel eine vergleichbare Flohmarktaufnahme um Längen besser klingt.
Da sämtliche Presswerke massiv überlastet sind, bleibt für eine ernstzunehmende Qualitätskontrolle ohnehin kaum noch Zeit. Typische Mängel wie Knackser, extremes Rauschen oder durchgehendes Knistern (keineswegs, wie manche meinen, üblich für das Format) oder auch – der Schrecken eines jeden Liebhabers – das gefürchtete “Non-Fill” (nicht vollständig geformte Rillen - ein besonderes Risiko von 180g-Pressungen) häufen sich. Internethändler nehmen derart beschädigte Exemplare in der Regel anstandslos zurück, aber die Plattenfirmen kümmern solche Beschwerden in der Regel nicht, weswegen einige schlechte Pressungen, darunter auch von umsatzstarken Künstlern*innen, wie Kraftwerk oder Lana del Rey, bedenkenlos mit denselben Fehlern immer und immer wieder neu aufgelegt werden. Vor einiger Zeit freute ich mich über Hans Zimmers Soundtrack zu “Inception” auf drei 180 Gramm Vinylseiten. Das Mastering war formidabel, die Musik beeindruckend. Die Pressung aber klang beschämend, ein einziges Fest des Ploppens, Knackens und fräsenden Knisterns. Nachdem ich drei Kopien ausprobiert hatte, gab ich schließlich auf.
Geld spielt keine Rolle
Wohl auch, weil die Qualität vieler LPs zu wünschen übrig lässt, wächst die audiophile Community rasch an. Für viele dieser Sammler und Liebhaber spielt Geld keine Rolle. Tatsächlich scheint das Ende nach oben hin komplett offen. Für die Album-Meisterwerke des Jazz – schon lange einer der Märkte, die das Vinyl-Revival angefacht haben – sind Preise von bis zu 50 Euro nahezu normal. Besondere Reihen und Labels sind sogar noch teurer. Die Electric Recording Company, die sich auf legendäre Aufnahmen aus Klassik und Jazz spezialisiert hat, baut Plattenhüllen mit Materialien aus der Originalzeit nach, und legt Wert auf eine komplett analoge Signalkette mit einem erkennbaren, warmen Mastering.
Der Standardpreis ihrer üblicherweise auf 300 limitierten Auflagen liegt bei knapp 300 Pfund pro LP – dennoch sind in der Regel sämtliche Exemplare innerhalb weniger Minuten vergriffen.
Natürlich handelt es sich hierbei nicht um Beträge, die für die durchschnittliche Käuferin*innen realistisch sind. Aber: Sogar die neue Adele kostet zwischen 32 und 37 Euro. Das neue Billie-Eilish-Werk war sogar lange nirgends für weniger als 40 Euro zu erhalten. Und obwohl es sich bei beiden um Doppel-Alben handelt, sind das stolze Zahlen. Sie zeigen in der Tendenz auf, in welche Richtung es zukünftig gehen wird: Hörer*innen werden sich in Zukunft entweder für den Stream auf Tidal, Deezer oder Spotify entscheiden können, der als Teil ihres monatlichen Paketpreises von 10 Euro enthalten ist; oder für das physische Produkt, dessen Preis bereits jetzt rapide in die Höhe schnellt und das, ein weiterer Pluspunkt, nahezu nie im Preis sinkt, wie dies beispielsweise bei der CD der Fall ist.
Nun erscheint es durchaus nicht als falsch, dass auch Musik wieder ein wenig mehr monetärer Wert entgegengebracht wird. Wer kein Problem damit hat, 400-500 Euro für ein neues Handy auszugeben, sollte auch bei den derzeitigen Preisen für Vinyl nicht zusammenzucken. Das Problem ist nur, dass dieser Triumph nicht denen zugutekommt, die ihn über so viele Jahre in die Wege geleitet haben. Gerade die kleineren Labels bleiben oftmals auf ihrem teuren Vinyl sitzen. Oder, was genau so schlimm ist: Sie müssen bis zu sechs Monate darauf warten, bis ihre Veröffentlichungen überhaupt gefertigt werden können. Dieser Trend ist nicht vorübergehend. Denn wenn sich Mainstreamproduktionen tatsächlich wieder in nennenswerten Auflagen verkaufen und die Zahl der Presswerke aufgrund der immens hohen Investitionskosten auch weiterhin nicht steigt, werden die Majors ihren harten Griff auf Vinyl eher noch verstärken.
Die Lösung scheint so paradox wie einleuchtend: Entweder auf physische Formate komplett verzichten - oder zu dem Format zurückkehren, das stets viel besser war als sein Ruf, kostengünstig und schnell in der Produktion und mit weitaus attraktiveren Gewinnmargen: Der CD. Schon jetzt denken viele Labels aktiv darüber nach, häuft sich auf in vielen Foren und in Diskussionsgruppen der Unmut darüber, dass CD-Fans so stiefmütterlich behandelt wurden. Es ist eine Entwicklung, die sogar musikalisch Sinn zu ergeben scheint. Wenn Adele mit einem nostalgischen Sound, der stark auf die 60er und 70er Bezug nimmt, größte Erfolge feiert – warum sollte nicht auch die CD als Tonträger der 80er und 90er ein Comeback erleben?
Der Gipfel des Absurden: Immer mehr klassische Alben, aus allen Genres, werden wieder als LP aufgelegt.