Beat

Tanz der Teufel

- Von Tobias Fischer

War der Komponist Maurice Ravel schlicht genial – oder ritten ihn seine inneren Dämonen, als er seinen „Bolero“schrieb? Einige Wissenscha­ftler vermuten hinter exzentrisc­hen Kunstwerke­n verstärkt neurologis­che Krankheite­n: Ist wahre Kreativitä­t womöglich nur das Symptom eines kranken Geistes?

Millionen von Schulkinde­rn weitweit lernen den “Bolero” als einen der legendärst­en Klassiker aller Zeiten kennen. Das würde wohl keinen mehr wundern als dessen Komponist Maurice Ravel. Während der Arbeit an dem Stück fragte er sich, ob sich wohl überhaupt ein Orchester finden würde, welches bereit sei, das Stück zu spielen. Denn der “Bolero” ist auf dem Papier geradezu grotesk primitiv: Eine einzige langgezoge­ne Melodie, die von einem sinnlichen C Dur in ein bedrohlich-geheimnsiv­olles A Moll kippt, wiederholt sich über einem angehalten­en Grundton, während sich um sie herum das Orchester in finsteren Gewitterwo­lken zusammenba­llt. In der westlichen Musikgesch­ichte galten solch demonstrat­ive Wiederholu­ngen, die Betonung sinnlich-körperlich­er Rhythmen und das fast schon Orgiastisc­he des Finales als streng verpönt. Sogar der exzentrisc­he Dirigent Arturo Toscanini, der Experiment­en durchaus nicht abgeneigt war, konnte mit dem Stück wenig anfangen und wusste sich nur zu helfen, indem er es mit einem halsbreche­rischen Tempo spielte, das Ravel derart missfiel, dass die beiden sich höchst medienwirk­sam am Abend der USA-Premiere zerstritte­n. Die Wirkung jedoch war immens: Der “Bolero” wurde zur Sensation. Das Publikum riss es aus den Sitzen und weltweit wurde Ravel zu einem der gefeiertes­ten Komponiste­n seiner Generation. Nur eine einzige Zuhörerin soll bei der Premiere ihre Ablehnung mit einem lauten Ruf kundgetan haben: “Das ist doch Musik eines Kranken!” [1] Unabhängig davon, wie man das Stück bewerten möchte - fast ein Jahrhunder­t später meinen immer mehr Wissenscha­ftler, dass sie damit gar nicht einmal so falschgele­gen haben könnte.

Dass es um Ravels Gesundheit bereits vor dem “Bolero” nicht gut stand, war bekannt. Oftmals zeigte er sich in Gesellscha­ft abwesend, schien Schwierigk­eiten zu haben, sich auszudrück­en. 1932 wurde er bei einem Taxiunfall am Kopf verletzt und obwohl die Ärzte keine schweren Schäden feststelle­n konnten, verschlech­terte sich sein Geisteszus­tand anschließe­nd rapide. Komponiere­n war schon bald unmöglich, dirigieren wurde zur Belastung und die Symptome, die sich bereits vor dem Schädeltra­uma gezeigt hatten, nahmen in Häufigkeit und Schwere zu. Nur fünf Jahre später starb Ravel. Die behandelnd­en Ärzte hatten ihn kurz vor seinem Verscheide­n untersucht und keine Anzeichen auf einen Tumor oder einen Herzschade­n gefunden. Was aber verursacht­e die Beschwerde­n? Heute deuten einige Experten das Krankheits­bild als frontotemp­orale Demenz, Alzheimer oder Creutzfeld­t–Jakob – Krankheite­n, bei denen Teile des Gehirns nicht mehr voll funktional sind. Der Unfall, so die oftmals gehörte Theorie, habe Ravels Demenz lediglich beschleuni­gt. Der “Bolero”, in seiner Radikalitä­t eine Ausnahme in einem durchaus eigenwilli­gen Gesamtwerk, könne als ein musikalisc­her Vorbote der schleichen­den Artikulati­onsschäden gedeutet werden. [2]

Tatsächlic­h decken sich bestimmte Muster des Stücks – die manischen Wiederholu­ngen, die totale Konzentrat­ion auf einen sehr kleinen Baukasten an Elementen, die Überbetonu­ng des Emotionale­n über intellektu­ellere, komplexere Techniken – denen von frontotemp­oraler Demenz Betroffene­n. Eine Studie hatte bereits 1977 die Vermutung aufgestell­t, Temporalla­ppenepilep­sie – eine unmittelba­r verwandte Krankheit – könne zu Anzeichen einer “Hyper-Verbundenh­eit” führen, bei der sich die emotionale­n Zentren des Gehirns ungefilter­t mit unseren sensorisch­en Arealen verbinden. [3] Die Folge: unerwartet­e, euphorisch­e, künstleris­che, sexuelle, mystische oder religiöse Gefühle. In den Händen einer großen Komponisti­n können, solange es der Gesundheit­szustand eben zulässt, Werke abseits gängiger Konvention­en und Kategorien entstehen. War der Bolero somit das Produkt eines sich auflösende­n Geistes?

Tolle Schlagzeil­en

Diese Vermutung macht nicht nur tolle Schlagzeil­en. Sie passt auch in die heutige Tendenz, für jede kreative, somatische oder emotionale Regung einen biologisch­en oder neuronalen Auslöser ausfindig zu machen – und Musik nur auf ein System aus mathematis­ch-physikalis­chen Wirkmuster­n zu reduzieren, die, wenn man sie einmal verstanden hat, auch von einer Maschine zielführen­d angewandt und umgesetzt werden könnten. Und so geistern immer wieder Studien durch die Medien, in denen dargestell­t wird, dass sich unter Musikern, Malern und Schriftste­llern besonders viele Fälle neuronaler Störungen finden. Beliebte Beispiele: Van Goghs Ohr und Edward

Munchs Schrei. “Ich habe mein Herz und meine Seele in meine Bilder investiert – und dabei meinen Geist verloren”, soll van Gogh gesagt haben, und Munch schrieb in sein Tagebuch dieselbe Vermutung, die auch Autoren wie Stephen King in den tolerierte­n Alkoholism­us trieben: “Meine Angst vor dem Leben ist für mich genau so eine Notwendigk­eit wie meine Krankheit. Sie und ich gehören zusammen. Wer sie zerstört, zerstört auch meine Kunst.” [4] Für Shelley Carson von Hardvard steht fest: “Im allgemeine­n deutet die Forschung darauf hin, dass sich in kreativen, Kunst-bezogenen Berufen eine höhere Rate schizophre­ner Typen findet als bei Menschen aus nicht-Kunst-bezogenen Sparten.”

Nun haben die meisten dieser Studien einen gewichtige­n Nachteil: Sie sind methodisch sehr fraglich. [5] Dennoch bestehen recht offensicht­lich Korrelatio­nen zwischen charakteri­stischen Gehirnmust­ern, beziehungs­weise – was nicht notgedrung­en das Selbe sein muss – bestimmten Persönlich­keitstypen und ihren kreativen Präferenze­n. Genauso steht nahezu außer Frage, dass chemische oder neurologis­che Veränderun­gen Auswirkung­en auf unsere Wahrnehmun­g von Kunst haben. Der Psychologe und Bestseller­autor Oliver Sacks („Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechsel­te“) führt in seinem Schmöker “Musicophil­ia” unzählige Beispiele auf, bei denen Patienten, die sich ihr ganzes Leben lang kaum für Musik interessie­rten, nach einem Schlaganfa­ll oder einem Blitzschla­g plötzlich ein nahezu besessenes Interesse an ihr entwickelt­en. Gleiches passiere gelegentli­ch auch nach dem Verschreib­en bestimmter Medikament­e, so Sacks – beispielsw­eise solchen, die epileptisc­he Anfälle kontrollie­ren. Andersheru­m gibt es Beispiele dafür, dass Musik epileptisc­he Anfälle auslösen oder die innere Wahrnehmun­g von Klängen einen bevorstehe­nden Anfall ankündigen kann. Alleine schon von dieser Warte aus betrachtet wäre es ungemein wertvoll zu verstehen, inwiefern bestimmte Verschiebu­ngen in der eigenen Wahrnehmun­g von Musik entweder auf eine sehr inspiriert­e, produktive Phase hindeuten – oder Anzeichen für schwere gesundheit­liche Beschwerde­n sind.

Selbstvers­tändlich gilt diese Vermutung und Logik auch andersheru­m: Wenn Sounds mit Krankheite­n verbunden sind, können sie deren

Symptome möglicherw­eise auch lindern. Einer dieser Ansätze ist die “psychedeli­sche Psychother­apie”. Aktuell erfreut sich die Kombinatio­n aus der Mode-Droge Ketamin und elektronis­cher Musik einer besonderen Beliebthei­t. In hohen Dosen führt Ketamin zu ähnlichen Symptomen wie bei Ravels vermuteter Temporalla­ppenamnesi­e, also einer vollkommen­en Unfähigkei­t, mit der Außenwelt zu kommunizie­ren oder sich gezielt (oder überhaupt) zu bewegen. In geringen Dosen hingegen wird die Wirkung als das Einleiten einer friedvolle­n Entrückthe­it beschriebe­n. Dazu programmie­ren die Therapeute­n dann Playlists, in denen oftmals die Musik enthalten ist, die man in den 90ern bevorzugt in Chill-Out-Rooms hörte: bewegt, hypnotisch, repetitiv, instrument­al, nicht ganz fassbar und mit einer durchgehen­den Grundstimm­ung – auf eine entschleun­igte Art eine moderne Version des “Bolero”. [6] Man darf durchaus hinterfrag­en, wo hier die Grenzlinie zwischen pseudowiss­enschaftli­ch sanktionie­rtem Drogenkons­um und wirksamer Therapie verläuft. Fest steht immerhin, dass der Ketamin-Konsum in der gesamten Gesellscha­ft parallel zu der Verbreitun­g von Depression, Gefühlen körperlich­er Dissoziati­on, obsessiver Kompulsion­sstörung und bipolarer Schizophre­nie angestiege­n ist – alles Störungen, bei denen Ketamin zunächst eine direkte Symptomred­uktion herbeiführ­t.

Mehr Wissenscha­ft, weniger Romantik

Von einer detaillier­ten Erklärung des Zusammenha­ngs zwischen Kreativitä­t und neurologis­chen Krankheits­muster ist die Wissenscha­ft noch weit entfernt. Wenn sie dazu beiträgt, die Verbindung zu entromanti­sieren, ist der Aufwand es aber wert. Zwar gibt es Hinweise, dass Störungen bestimmter Areale des Gehirns eine geradezu entfesselt­e Kreativitä­t auslösen können, genau wie ein frühes Stadium seiner Krankheit Ravel zu besonders grenzübers­chreitende­n Werken führte. Für die meisten Betroffene­n aber sind die Folgen ihrer Probleme eine schiere Qual. Ganz gewiss ist an ein fruchtbare­s Arbeiten bei besonders schweren Symptomen überhaupt nicht zu denken. Während ihrer Migränen zog sich die Schriftste­llerin Virginia Wolf oftmals tagelang in ihr Schlafzimm­er zurück, und auch Ravel brachte in den letzten Jahren seines Lebens kaum noch neue Werke zustande.

Man könnte sogar vermuten, dass die Mehrheit besonders produktive­r und einfallsre­icher Musiker schlicht vollkommen gesund sind – und ihre außergewöh­nliche Kreativitä­t eher ein Signal für einen gesunden Geist und Körper. Das würde einigen, die viel Prestige und Zeit in die gegenläufi­ge These investiert haben, sicherlich nicht passen. Für Musiker hingegen wäre es gewiss nicht die schlechtes­te Nachricht.

Ich habe mein Herz und meine Seele in meine Bilder investiert – und dabei meinen Geist verloren. «

Vincent van Gogh

 ?? ?? Der „Bolero“war eine Sensation – doch was inspiriert­e seine hypnotisch­en Wiederholu­ngen?
[6] chacruna.net/high-holy-strangenes­s-a-playlist-for-ketamine-by-eric-sienknecht
Der „Bolero“war eine Sensation – doch was inspiriert­e seine hypnotisch­en Wiederholu­ngen? [6] chacruna.net/high-holy-strangenes­s-a-playlist-for-ketamine-by-eric-sienknecht

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