Tanz der Teufel
War der Komponist Maurice Ravel schlicht genial – oder ritten ihn seine inneren Dämonen, als er seinen „Bolero“schrieb? Einige Wissenschaftler vermuten hinter exzentrischen Kunstwerken verstärkt neurologische Krankheiten: Ist wahre Kreativität womöglich nur das Symptom eines kranken Geistes?
Millionen von Schulkindern weitweit lernen den “Bolero” als einen der legendärsten Klassiker aller Zeiten kennen. Das würde wohl keinen mehr wundern als dessen Komponist Maurice Ravel. Während der Arbeit an dem Stück fragte er sich, ob sich wohl überhaupt ein Orchester finden würde, welches bereit sei, das Stück zu spielen. Denn der “Bolero” ist auf dem Papier geradezu grotesk primitiv: Eine einzige langgezogene Melodie, die von einem sinnlichen C Dur in ein bedrohlich-geheimnsivolles A Moll kippt, wiederholt sich über einem angehaltenen Grundton, während sich um sie herum das Orchester in finsteren Gewitterwolken zusammenballt. In der westlichen Musikgeschichte galten solch demonstrative Wiederholungen, die Betonung sinnlich-körperlicher Rhythmen und das fast schon Orgiastische des Finales als streng verpönt. Sogar der exzentrische Dirigent Arturo Toscanini, der Experimenten durchaus nicht abgeneigt war, konnte mit dem Stück wenig anfangen und wusste sich nur zu helfen, indem er es mit einem halsbrecherischen Tempo spielte, das Ravel derart missfiel, dass die beiden sich höchst medienwirksam am Abend der USA-Premiere zerstritten. Die Wirkung jedoch war immens: Der “Bolero” wurde zur Sensation. Das Publikum riss es aus den Sitzen und weltweit wurde Ravel zu einem der gefeiertesten Komponisten seiner Generation. Nur eine einzige Zuhörerin soll bei der Premiere ihre Ablehnung mit einem lauten Ruf kundgetan haben: “Das ist doch Musik eines Kranken!” [1] Unabhängig davon, wie man das Stück bewerten möchte - fast ein Jahrhundert später meinen immer mehr Wissenschaftler, dass sie damit gar nicht einmal so falschgelegen haben könnte.
Dass es um Ravels Gesundheit bereits vor dem “Bolero” nicht gut stand, war bekannt. Oftmals zeigte er sich in Gesellschaft abwesend, schien Schwierigkeiten zu haben, sich auszudrücken. 1932 wurde er bei einem Taxiunfall am Kopf verletzt und obwohl die Ärzte keine schweren Schäden feststellen konnten, verschlechterte sich sein Geisteszustand anschließend rapide. Komponieren war schon bald unmöglich, dirigieren wurde zur Belastung und die Symptome, die sich bereits vor dem Schädeltrauma gezeigt hatten, nahmen in Häufigkeit und Schwere zu. Nur fünf Jahre später starb Ravel. Die behandelnden Ärzte hatten ihn kurz vor seinem Verscheiden untersucht und keine Anzeichen auf einen Tumor oder einen Herzschaden gefunden. Was aber verursachte die Beschwerden? Heute deuten einige Experten das Krankheitsbild als frontotemporale Demenz, Alzheimer oder Creutzfeldt–Jakob – Krankheiten, bei denen Teile des Gehirns nicht mehr voll funktional sind. Der Unfall, so die oftmals gehörte Theorie, habe Ravels Demenz lediglich beschleunigt. Der “Bolero”, in seiner Radikalität eine Ausnahme in einem durchaus eigenwilligen Gesamtwerk, könne als ein musikalischer Vorbote der schleichenden Artikulationsschäden gedeutet werden. [2]
Tatsächlich decken sich bestimmte Muster des Stücks – die manischen Wiederholungen, die totale Konzentration auf einen sehr kleinen Baukasten an Elementen, die Überbetonung des Emotionalen über intellektuellere, komplexere Techniken – denen von frontotemporaler Demenz Betroffenen. Eine Studie hatte bereits 1977 die Vermutung aufgestellt, Temporallappenepilepsie – eine unmittelbar verwandte Krankheit – könne zu Anzeichen einer “Hyper-Verbundenheit” führen, bei der sich die emotionalen Zentren des Gehirns ungefiltert mit unseren sensorischen Arealen verbinden. [3] Die Folge: unerwartete, euphorische, künstlerische, sexuelle, mystische oder religiöse Gefühle. In den Händen einer großen Komponistin können, solange es der Gesundheitszustand eben zulässt, Werke abseits gängiger Konventionen und Kategorien entstehen. War der Bolero somit das Produkt eines sich auflösenden Geistes?
Tolle Schlagzeilen
Diese Vermutung macht nicht nur tolle Schlagzeilen. Sie passt auch in die heutige Tendenz, für jede kreative, somatische oder emotionale Regung einen biologischen oder neuronalen Auslöser ausfindig zu machen – und Musik nur auf ein System aus mathematisch-physikalischen Wirkmustern zu reduzieren, die, wenn man sie einmal verstanden hat, auch von einer Maschine zielführend angewandt und umgesetzt werden könnten. Und so geistern immer wieder Studien durch die Medien, in denen dargestellt wird, dass sich unter Musikern, Malern und Schriftstellern besonders viele Fälle neuronaler Störungen finden. Beliebte Beispiele: Van Goghs Ohr und Edward
Munchs Schrei. “Ich habe mein Herz und meine Seele in meine Bilder investiert – und dabei meinen Geist verloren”, soll van Gogh gesagt haben, und Munch schrieb in sein Tagebuch dieselbe Vermutung, die auch Autoren wie Stephen King in den tolerierten Alkoholismus trieben: “Meine Angst vor dem Leben ist für mich genau so eine Notwendigkeit wie meine Krankheit. Sie und ich gehören zusammen. Wer sie zerstört, zerstört auch meine Kunst.” [4] Für Shelley Carson von Hardvard steht fest: “Im allgemeinen deutet die Forschung darauf hin, dass sich in kreativen, Kunst-bezogenen Berufen eine höhere Rate schizophrener Typen findet als bei Menschen aus nicht-Kunst-bezogenen Sparten.”
Nun haben die meisten dieser Studien einen gewichtigen Nachteil: Sie sind methodisch sehr fraglich. [5] Dennoch bestehen recht offensichtlich Korrelationen zwischen charakteristischen Gehirnmustern, beziehungsweise – was nicht notgedrungen das Selbe sein muss – bestimmten Persönlichkeitstypen und ihren kreativen Präferenzen. Genauso steht nahezu außer Frage, dass chemische oder neurologische Veränderungen Auswirkungen auf unsere Wahrnehmung von Kunst haben. Der Psychologe und Bestsellerautor Oliver Sacks („Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“) führt in seinem Schmöker “Musicophilia” unzählige Beispiele auf, bei denen Patienten, die sich ihr ganzes Leben lang kaum für Musik interessierten, nach einem Schlaganfall oder einem Blitzschlag plötzlich ein nahezu besessenes Interesse an ihr entwickelten. Gleiches passiere gelegentlich auch nach dem Verschreiben bestimmter Medikamente, so Sacks – beispielsweise solchen, die epileptische Anfälle kontrollieren. Andersherum gibt es Beispiele dafür, dass Musik epileptische Anfälle auslösen oder die innere Wahrnehmung von Klängen einen bevorstehenden Anfall ankündigen kann. Alleine schon von dieser Warte aus betrachtet wäre es ungemein wertvoll zu verstehen, inwiefern bestimmte Verschiebungen in der eigenen Wahrnehmung von Musik entweder auf eine sehr inspirierte, produktive Phase hindeuten – oder Anzeichen für schwere gesundheitliche Beschwerden sind.
Selbstverständlich gilt diese Vermutung und Logik auch andersherum: Wenn Sounds mit Krankheiten verbunden sind, können sie deren
Symptome möglicherweise auch lindern. Einer dieser Ansätze ist die “psychedelische Psychotherapie”. Aktuell erfreut sich die Kombination aus der Mode-Droge Ketamin und elektronischer Musik einer besonderen Beliebtheit. In hohen Dosen führt Ketamin zu ähnlichen Symptomen wie bei Ravels vermuteter Temporallappenamnesie, also einer vollkommenen Unfähigkeit, mit der Außenwelt zu kommunizieren oder sich gezielt (oder überhaupt) zu bewegen. In geringen Dosen hingegen wird die Wirkung als das Einleiten einer friedvollen Entrücktheit beschrieben. Dazu programmieren die Therapeuten dann Playlists, in denen oftmals die Musik enthalten ist, die man in den 90ern bevorzugt in Chill-Out-Rooms hörte: bewegt, hypnotisch, repetitiv, instrumental, nicht ganz fassbar und mit einer durchgehenden Grundstimmung – auf eine entschleunigte Art eine moderne Version des “Bolero”. [6] Man darf durchaus hinterfragen, wo hier die Grenzlinie zwischen pseudowissenschaftlich sanktioniertem Drogenkonsum und wirksamer Therapie verläuft. Fest steht immerhin, dass der Ketamin-Konsum in der gesamten Gesellschaft parallel zu der Verbreitung von Depression, Gefühlen körperlicher Dissoziation, obsessiver Kompulsionsstörung und bipolarer Schizophrenie angestiegen ist – alles Störungen, bei denen Ketamin zunächst eine direkte Symptomreduktion herbeiführt.
Mehr Wissenschaft, weniger Romantik
Von einer detaillierten Erklärung des Zusammenhangs zwischen Kreativität und neurologischen Krankheitsmuster ist die Wissenschaft noch weit entfernt. Wenn sie dazu beiträgt, die Verbindung zu entromantisieren, ist der Aufwand es aber wert. Zwar gibt es Hinweise, dass Störungen bestimmter Areale des Gehirns eine geradezu entfesselte Kreativität auslösen können, genau wie ein frühes Stadium seiner Krankheit Ravel zu besonders grenzüberschreitenden Werken führte. Für die meisten Betroffenen aber sind die Folgen ihrer Probleme eine schiere Qual. Ganz gewiss ist an ein fruchtbares Arbeiten bei besonders schweren Symptomen überhaupt nicht zu denken. Während ihrer Migränen zog sich die Schriftstellerin Virginia Wolf oftmals tagelang in ihr Schlafzimmer zurück, und auch Ravel brachte in den letzten Jahren seines Lebens kaum noch neue Werke zustande.
Man könnte sogar vermuten, dass die Mehrheit besonders produktiver und einfallsreicher Musiker schlicht vollkommen gesund sind – und ihre außergewöhnliche Kreativität eher ein Signal für einen gesunden Geist und Körper. Das würde einigen, die viel Prestige und Zeit in die gegenläufige These investiert haben, sicherlich nicht passen. Für Musiker hingegen wäre es gewiss nicht die schlechteste Nachricht.
Ich habe mein Herz und meine Seele in meine Bilder investiert – und dabei meinen Geist verloren. «
Vincent van Gogh