Entdeckt: Tangerine Dream
Kann es Tangerine Dream ohne Edgar Froese geben? Auf dem epischen DoppelAlbum „Raum“gelingt es dem Trio, sich mit langen, frei fließenden SequenzerKompositionen zugleich auf seine Wurzeln in den 70ern zu besinnen und neue Galaxien anzusteuern. Und Froese war dann doch noch beteiligt.
Viele alteingesessene Fans meinen immer noch, es könne kein Tangerine Dream ohne Edgar Froese geben. Dabei klang diese Band schon lange nicht mehr so wie sie selbst, wie auf “Raum”. Als episches Doppel-Album mit langen, frei fließenden Sequenzer-Kompositionen angelegt, gelingt es dem Trio, sich zugleich auf seine Wurzeln in den 70ern zu besinnen und neue Galaxien anzusteuern. Außerdem war Froese, wenngleich auf eine ungewöhnliche Art und Weise, dann doch noch an dem Projekt beteiligt.
Beat / Wie geht ihr in Tangerine Dream an eure Zusammenarbeit heran?
TD / Eine der grundlegenden Ideen von Tangerine Dream als Gruppe besteht darin, dass jeder Musiker eine ganz persönliche Rolle in der Musik erfüllt. Manchmal ist die direkt erkennbar, manchmal nur dann, wenn sie fehlt. Aus Erfahrung würde ich sagen, dass es im Zweifelsfall besser ist, wenn die Gemeinsamkeiten nicht zu groß sind. Natürlich ist es vollkommen okay, dieselben Idole und Helden zu haben. Aber andererseits eröffnen einem verschiedene Ansichten und Genre-Einflüsse auch neue Perspektiven.
Beat / Als er noch unter uns war, scheint Edgar Froese genau die Art Person gewesen zu sein, dieses schwierige Gleichgewicht zu erzielen.
TD / Ja. Einerseits wollte Edgar seine Vision beschützen. Aber er war gleichzeitig offen für den Input der Leute, die er respektierte. Und zum Glück haben wir bei Tangerine Dream einerseits unterschiedliche Ausgangspunkte, teilen aber unsere Ansichten über das Endergebnis. Und das ist gut, denn wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen, ist es wohl durchaus wichtig für die eigene Motivation, dass deine Ideen vom Kollektiv geschätzt werden.
Beat / Hattet ihr bereits vor den Aufnahmen konkrete Ideen, in welche Richtung sich “Raum” entwickeln sollte?
TD / Wenn man an neuer Musik oder einem neuen Album arbeitet, gibt es immer gewisse spekulative Aspekte. Als Band wollen wir unsere Musik in der Gegenwart machen, Klischees ebenso vermeiden wie Trends. Es geht darum, die richtige Balance zwischen aktuellen Sounds und einem zeitlosen Ansatz zu finden. Aber um deine Frage zu “Raum” etwas konkreter zu beantworten: Nein, es gab keine Vorbereitungsphase. Vielmehr hatten wir die Idee, viel Zeit miteinander zu verbringen, sodass sich die Konzepte für das Album von selbst einstellen würde. Das hat gut geklappt, aber ein noch besseres Szenario wäre es, wenn man mehrere Monate im selben Haus wohnen könnte. Denn dann passieren plötzlich all diese “kleinen magischen Dinge”, du unterhältst dich zu einem ungewohnten Zeitpunkt und das löst etwas in dir aus, das der Musik zu Gute kommt.
Beat / Vielleicht eine Idee für die Zukunft.
TD / Zumindest verbringen wir wie gesagt viel Zeit miteinander. Wenn wir dann live spielen, wissen wir hoffentlich intuitiv, was die anderen tun. Wobei wir auf der Bühne auch mit Mikrophonen arbeiten, die es uns erlauben, miteinander zu reden, wenn es sein muss.
Beat / Gibt es bestimmte Einschränkungen in eurer Zusammenarbeit?
TD / Nichts Grundlegendes. Aber es gibt durchaus Regeln, die uns allen bewusst sind. Darüber zum Beispiel, was für Sounds Teil unserer Musik sein sollten – und welche es nicht sein sollten. Das Saxophon fällt in die zweite Kategorie. [lacht] In Tangerine Dream haben wir außerdem Ideen und Grundpfeiler, die Edgar uns hinterlassen hat sowie ein sehr gutes Team, wenn es darum geht, die unterschiedlichen Sounds miteinander zu verbinden.
Beat / Gerade in der Hinsicht hat diese Formation einen gewissen Ruf, den es aufrecht zu erhalten gilt.
TD / Ja, Tangerine Dream hatten eine gewaltige Wirkung auf die Geschichte elektronischer Musik, sowohl was das Sound-Design als auch was die Kompositionen angeht. Das ist für uns ein Ansporn, interessant zu bleiben.
Beat / Im Laufe der Jahrzehnte hat die Band sehr viele unterschiedliche Live-Ansätze verfolgt – von fast reiner Improvisation bis hin zu Solos über Backing-Tapes. Ihr scheint eine Art Kombination oder Mittelweg zu bervorzugen.
TD / In unserer Welt passt das Wort Improvisation nicht zu 100%. Wir haben feste Regeln und Skalen, die ich von Edgar persönlich gelernt habe. Während unserer Konzerte setzt sich der erste Teil aus bestehendem Material zusammen, bei dem es manchmal ein paar Freiräume gibt. Der zweite Teil ist neue Musik, die erst aus dem Zusammenspiel auf dem Konzert entsteht.
Beat / Das sind dann eure inzwischen bekannten “Sessions”, von denen einige auch bereits als eigenständige Alben veröffentlicht wurden.
TD / Genau. Und auf die trifft eher ein Begriff wie Echtzeitkomposition zu. Wenn wir eine Session spielen, rufe ich die Kompositionsregeln ab, die ich mein gesamtes Leben lang gelernt und praktiziert habe. Ich möchte der Musik dienen und mich nicht in einer völlig formlosen Ego-Performance austoben.
Funken formen
Beat / So wie ich es verstanden habe, konntet ihr für “Raum” viele von Edgars Aufnahmen nutzen. In gewisser Weise war er also auch eine Art Bandmitglied. Wie hat das in der Praxis funktioniert?
TD / Der Hauptunterschied zwischen “Quantum Gate” aus 2017 und dem neuen Material besteht darin, dass eine moderne Software wie Melodyne in der Lage ist, die Tonhöhe von polyphonem Audiomaterial anzupassen und damit Melodien, Arpeggiator-Sequenzen und Pad-Flächen an unsere Kompositionen und Arrangements anzupassen. Ich würde sogar sagen, dass Melodyne wahrscheinlich die Software ist, die meinen Arbeitsablauf für die Post-Produktion am entscheidendsten verändert hat. Dank Melodyne werde ich im Studio sogar zu einem sehr soliden Gitarristen. Durch diese Möglichkeiten waren wir in der Lage, Edgars Beiträge auf drei Stücken des neuen Albums zu verwenden: “Portico”, “What you should know about endings” und das Titel-Stück. Und das, obwohl sie in einer anderen Tonart und einem anderen Tempo waren!
Beat / Der Titel-Track ist möglicherweise das beste Stück, das ihr in der neuen Besetzung komponiert habt. Wie kommen diese langen, schwelenden Stücke im Studio zusammen?
TD / Freut mich, dass zu hören. Ich würde sagen, dass es in jeder Phase einer Produktion Momente gibt, in denen die Musik plötzlich selbst bestimmt, was mit ihr passieren soll. Dann besteht deine Rolle als Musiker nur noch darin, ihr zu folgen. Du kannst die Musik nicht immer kontrollie
ren, manchmal besteht das Ziel nur darin, sie zu kanalisieren. Für uns bedeutet das konkret, dass wir viel aufnehmen, oftmals eine Menge Material, das später gar nicht auf dem Album landet. Nach einiger Zeit arbeiten wir dann fokussierter an den Ideen, konzentrieren uns auf das, was uns gefällt, formen die ursprünglichen Funken und verleihen ihnen eine klangliche Tiefe.
Beat / Welche Rolle spielt die Studio-Umgebung für euch?
TD / Echte Überraschungen gibt es eigentlich nicht mehr im Tagesgeschäft. Aber nachdem wir 2021 in unser aktuelles Studio umgezogen sind, haben wir die Verbindungen verändert und Instrumente ausgetauscht. Das hat uns eine neue Perspektive verschafft und dazu geführt, dass wir unser Equipment auf eine andere Art und Weise betrachten. Als das neue Tangerine-Dream-Studio einmal fertig war, war das ein Wendepunkt. Wir können heute weitaus mehr Instrumente und musikalische Farben einbringen. Alles ist ganz natürlich zusammengekommen, wir mussten da keine langen Gespräche führen.
Beat / Welche der von dir angesprochenen Instrumente und Tools haben auf “Raum” konkret eine Rolle gespielt?
TD / Eigentlich spielt es im Endeffekt keine Rolle, was du benutzt, um deine Sounds zu erzeugen. Aber bei Tangerine Dream sind wir einfach besser darin, Hardware zu benutzen. Weil es in unserer Welt aber keine Einschränkungen gibt, benutzen wir eine Kombination aus analogen, modularen, granularen, hybriden und Software-Effekten. Wir haben den Marienberg Modular, verschiedene Moog Synths – unter anderem den Voyager, und MiniMoog - Waldorf Microwave und Quantum benutzt, Novation Peek, Roland Jupiter 8, Solina String Ensemble und ARP Odyssey, oftmals in Kombination mit Effekten von Strymon. Wir benutzen gute Keyboards mit 88 gewichteten Tasten, motorisierte Fader, Software-Controller wie beispielsweise den Soft Tube Console 1. Ein gutes Mischpult und DAW-Controller wie den Push 2.
Beat / Du hast schon über die Rolle von Melodyne gesprochen. Gibt es sonst noch Technologien, die einen ähnlich starken Einfluss darauf hatten, wie du Musik machst?
TD / Ja, zwei individuell angefertigte Manikin Schrittmacher.
Beat / In wiefern unterscheiden sie sich von den Standard-Versionen?
TD / Sie haben ein paar Zusatzfunktionen und andere LEDs – Letzteres, weil ich Rot-GrünBraun-blind bin.
Beat / Wie sieht es mit dem Modularsystem aus?
TD / Es hat sich im Laufe der letzten Jahre nicht viel verändert. Die Version, die ich aktuell benutze, hat 136 permanent verbundene Kanäle für unsere Instrumente und Synthesizer. Ich benutze aber auch sehr gerne meine eigenen Field Recordings oder Geräusche. Zum Beispiel eine Aufnahme davon, wie ich auf Holz klopfe oder Wasser-Sounds, die ich mit Kontaktmikrophonen realisiert habe.
Beat / Tangerine Dream haben zwei intensive Jahre hinter sich. Stellt sich bei euch schon der Post-Covid und Post-Album-Blues ein?
TD / Zum Glück touren wir nach der Veröffentlichung von “Raum” eine Menge und werden zwischen März und Jahresende unterwegs sein. Vielleicht werden wir uns tatsächlich leer und depressiv fühlen – aber wenn, dann frühestens 2023.
Tangerine Dream hatten eine gewaltige Wirkung auf die Geschichte elektronischer Musik. Das ist für uns ein Ansporn, interessant zu bleiben. «