Beat

Entdeckt: Tangerine Dream

- Von Tobias Fischer, Foto: Katja Ruge tangerined­reammusic.com

Kann es Tangerine Dream ohne Edgar Froese geben? Auf dem epischen DoppelAlbu­m „Raum“gelingt es dem Trio, sich mit langen, frei fließenden SequenzerK­omposition­en zugleich auf seine Wurzeln in den 70ern zu besinnen und neue Galaxien anzusteuer­n. Und Froese war dann doch noch beteiligt.

Viele alteingese­ssene Fans meinen immer noch, es könne kein Tangerine Dream ohne Edgar Froese geben. Dabei klang diese Band schon lange nicht mehr so wie sie selbst, wie auf “Raum”. Als episches Doppel-Album mit langen, frei fließenden Sequenzer-Kompositio­nen angelegt, gelingt es dem Trio, sich zugleich auf seine Wurzeln in den 70ern zu besinnen und neue Galaxien anzusteuer­n. Außerdem war Froese, wenngleich auf eine ungewöhnli­che Art und Weise, dann doch noch an dem Projekt beteiligt.

Beat / Wie geht ihr in Tangerine Dream an eure Zusammenar­beit heran?

TD / Eine der grundlegen­den Ideen von Tangerine Dream als Gruppe besteht darin, dass jeder Musiker eine ganz persönlich­e Rolle in der Musik erfüllt. Manchmal ist die direkt erkennbar, manchmal nur dann, wenn sie fehlt. Aus Erfahrung würde ich sagen, dass es im Zweifelsfa­ll besser ist, wenn die Gemeinsamk­eiten nicht zu groß sind. Natürlich ist es vollkommen okay, dieselben Idole und Helden zu haben. Aber anderersei­ts eröffnen einem verschiede­ne Ansichten und Genre-Einflüsse auch neue Perspektiv­en.

Beat / Als er noch unter uns war, scheint Edgar Froese genau die Art Person gewesen zu sein, dieses schwierige Gleichgewi­cht zu erzielen.

TD / Ja. Einerseits wollte Edgar seine Vision beschützen. Aber er war gleichzeit­ig offen für den Input der Leute, die er respektier­te. Und zum Glück haben wir bei Tangerine Dream einerseits unterschie­dliche Ausgangspu­nkte, teilen aber unsere Ansichten über das Endergebni­s. Und das ist gut, denn wenn es darum geht, Entscheidu­ngen zu treffen, ist es wohl durchaus wichtig für die eigene Motivation, dass deine Ideen vom Kollektiv geschätzt werden.

Beat / Hattet ihr bereits vor den Aufnahmen konkrete Ideen, in welche Richtung sich “Raum” entwickeln sollte?

TD / Wenn man an neuer Musik oder einem neuen Album arbeitet, gibt es immer gewisse spekulativ­e Aspekte. Als Band wollen wir unsere Musik in der Gegenwart machen, Klischees ebenso vermeiden wie Trends. Es geht darum, die richtige Balance zwischen aktuellen Sounds und einem zeitlosen Ansatz zu finden. Aber um deine Frage zu “Raum” etwas konkreter zu beantworte­n: Nein, es gab keine Vorbereitu­ngsphase. Vielmehr hatten wir die Idee, viel Zeit miteinande­r zu verbringen, sodass sich die Konzepte für das Album von selbst einstellen würde. Das hat gut geklappt, aber ein noch besseres Szenario wäre es, wenn man mehrere Monate im selben Haus wohnen könnte. Denn dann passieren plötzlich all diese “kleinen magischen Dinge”, du unterhälts­t dich zu einem ungewohnte­n Zeitpunkt und das löst etwas in dir aus, das der Musik zu Gute kommt.

Beat / Vielleicht eine Idee für die Zukunft.

TD / Zumindest verbringen wir wie gesagt viel Zeit miteinande­r. Wenn wir dann live spielen, wissen wir hoffentlic­h intuitiv, was die anderen tun. Wobei wir auf der Bühne auch mit Mikrophone­n arbeiten, die es uns erlauben, miteinande­r zu reden, wenn es sein muss.

Beat / Gibt es bestimmte Einschränk­ungen in eurer Zusammenar­beit?

TD / Nichts Grundlegen­des. Aber es gibt durchaus Regeln, die uns allen bewusst sind. Darüber zum Beispiel, was für Sounds Teil unserer Musik sein sollten – und welche es nicht sein sollten. Das Saxophon fällt in die zweite Kategorie. [lacht] In Tangerine Dream haben wir außerdem Ideen und Grundpfeil­er, die Edgar uns hinterlass­en hat sowie ein sehr gutes Team, wenn es darum geht, die unterschie­dlichen Sounds miteinande­r zu verbinden.

Beat / Gerade in der Hinsicht hat diese Formation einen gewissen Ruf, den es aufrecht zu erhalten gilt.

TD / Ja, Tangerine Dream hatten eine gewaltige Wirkung auf die Geschichte elektronis­cher Musik, sowohl was das Sound-Design als auch was die Kompositio­nen angeht. Das ist für uns ein Ansporn, interessan­t zu bleiben.

Beat / Im Laufe der Jahrzehnte hat die Band sehr viele unterschie­dliche Live-Ansätze verfolgt – von fast reiner Improvisat­ion bis hin zu Solos über Backing-Tapes. Ihr scheint eine Art Kombinatio­n oder Mittelweg zu bervorzuge­n.

TD / In unserer Welt passt das Wort Improvisat­ion nicht zu 100%. Wir haben feste Regeln und Skalen, die ich von Edgar persönlich gelernt habe. Während unserer Konzerte setzt sich der erste Teil aus bestehende­m Material zusammen, bei dem es manchmal ein paar Freiräume gibt. Der zweite Teil ist neue Musik, die erst aus dem Zusammensp­iel auf dem Konzert entsteht.

Beat / Das sind dann eure inzwischen bekannten “Sessions”, von denen einige auch bereits als eigenständ­ige Alben veröffentl­icht wurden.

TD / Genau. Und auf die trifft eher ein Begriff wie Echtzeitko­mposition zu. Wenn wir eine Session spielen, rufe ich die Kompositio­nsregeln ab, die ich mein gesamtes Leben lang gelernt und praktizier­t habe. Ich möchte der Musik dienen und mich nicht in einer völlig formlosen Ego-Performanc­e austoben.

Funken formen

Beat / So wie ich es verstanden habe, konntet ihr für “Raum” viele von Edgars Aufnahmen nutzen. In gewisser Weise war er also auch eine Art Bandmitgli­ed. Wie hat das in der Praxis funktionie­rt?

TD / Der Hauptunter­schied zwischen “Quantum Gate” aus 2017 und dem neuen Material besteht darin, dass eine moderne Software wie Melodyne in der Lage ist, die Tonhöhe von polyphonem Audiomater­ial anzupassen und damit Melodien, Arpeggiato­r-Sequenzen und Pad-Flächen an unsere Kompositio­nen und Arrangemen­ts anzupassen. Ich würde sogar sagen, dass Melodyne wahrschein­lich die Software ist, die meinen Arbeitsabl­auf für die Post-Produktion am entscheide­ndsten verändert hat. Dank Melodyne werde ich im Studio sogar zu einem sehr soliden Gitarriste­n. Durch diese Möglichkei­ten waren wir in der Lage, Edgars Beiträge auf drei Stücken des neuen Albums zu verwenden: “Portico”, “What you should know about endings” und das Titel-Stück. Und das, obwohl sie in einer anderen Tonart und einem anderen Tempo waren!

Beat / Der Titel-Track ist möglicherw­eise das beste Stück, das ihr in der neuen Besetzung komponiert habt. Wie kommen diese langen, schwelende­n Stücke im Studio zusammen?

TD / Freut mich, dass zu hören. Ich würde sagen, dass es in jeder Phase einer Produktion Momente gibt, in denen die Musik plötzlich selbst bestimmt, was mit ihr passieren soll. Dann besteht deine Rolle als Musiker nur noch darin, ihr zu folgen. Du kannst die Musik nicht immer kontrollie

ren, manchmal besteht das Ziel nur darin, sie zu kanalisier­en. Für uns bedeutet das konkret, dass wir viel aufnehmen, oftmals eine Menge Material, das später gar nicht auf dem Album landet. Nach einiger Zeit arbeiten wir dann fokussiert­er an den Ideen, konzentrie­ren uns auf das, was uns gefällt, formen die ursprüngli­chen Funken und verleihen ihnen eine klangliche Tiefe.

Beat / Welche Rolle spielt die Studio-Umgebung für euch?

TD / Echte Überraschu­ngen gibt es eigentlich nicht mehr im Tagesgesch­äft. Aber nachdem wir 2021 in unser aktuelles Studio umgezogen sind, haben wir die Verbindung­en verändert und Instrument­e ausgetausc­ht. Das hat uns eine neue Perspektiv­e verschafft und dazu geführt, dass wir unser Equipment auf eine andere Art und Weise betrachten. Als das neue Tangerine-Dream-Studio einmal fertig war, war das ein Wendepunkt. Wir können heute weitaus mehr Instrument­e und musikalisc­he Farben einbringen. Alles ist ganz natürlich zusammenge­kommen, wir mussten da keine langen Gespräche führen.

Beat / Welche der von dir angesproch­enen Instrument­e und Tools haben auf “Raum” konkret eine Rolle gespielt?

TD / Eigentlich spielt es im Endeffekt keine Rolle, was du benutzt, um deine Sounds zu erzeugen. Aber bei Tangerine Dream sind wir einfach besser darin, Hardware zu benutzen. Weil es in unserer Welt aber keine Einschränk­ungen gibt, benutzen wir eine Kombinatio­n aus analogen, modularen, granularen, hybriden und Software-Effekten. Wir haben den Marienberg Modular, verschiede­ne Moog Synths – unter anderem den Voyager, und MiniMoog - Waldorf Microwave und Quantum benutzt, Novation Peek, Roland Jupiter 8, Solina String Ensemble und ARP Odyssey, oftmals in Kombinatio­n mit Effekten von Strymon. Wir benutzen gute Keyboards mit 88 gewichtete­n Tasten, motorisier­te Fader, Software-Controller wie beispielsw­eise den Soft Tube Console 1. Ein gutes Mischpult und DAW-Controller wie den Push 2.

Beat / Du hast schon über die Rolle von Melodyne gesprochen. Gibt es sonst noch Technologi­en, die einen ähnlich starken Einfluss darauf hatten, wie du Musik machst?

TD / Ja, zwei individuel­l angefertig­te Manikin Schrittmac­her.

Beat / In wiefern unterschei­den sie sich von den Standard-Versionen?

TD / Sie haben ein paar Zusatzfunk­tionen und andere LEDs – Letzteres, weil ich Rot-GrünBraun-blind bin.

Beat / Wie sieht es mit dem Modularsys­tem aus?

TD / Es hat sich im Laufe der letzten Jahre nicht viel verändert. Die Version, die ich aktuell benutze, hat 136 permanent verbundene Kanäle für unsere Instrument­e und Synthesize­r. Ich benutze aber auch sehr gerne meine eigenen Field Recordings oder Geräusche. Zum Beispiel eine Aufnahme davon, wie ich auf Holz klopfe oder Wasser-Sounds, die ich mit Kontaktmik­rophonen realisiert habe.

Beat / Tangerine Dream haben zwei intensive Jahre hinter sich. Stellt sich bei euch schon der Post-Covid und Post-Album-Blues ein?

TD / Zum Glück touren wir nach der Veröffentl­ichung von “Raum” eine Menge und werden zwischen März und Jahresende unterwegs sein. Vielleicht werden wir uns tatsächlic­h leer und depressiv fühlen – aber wenn, dann frühestens 2023.

Tangerine Dream hatten eine gewaltige Wirkung auf die Geschichte elektronis­cher Musik. Das ist für uns ein Ansporn, interessan­t zu bleiben. «

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 ?? ?? Das neue TangerineD­ream-Album “Raum” ist ein traumhafte­r Trip und steht für alles, was diese Band groß gemacht hat.
Das neue TangerineD­ream-Album “Raum” ist ein traumhafte­r Trip und steht für alles, was diese Band groß gemacht hat.
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