Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Linksliberales Glaubensfest
Der evangelische Kirchentag lebt auch aus seinen prägenden Persönlichkeiten. Seine Workshops helfen den Akteuren in den schrumpfenden Gemeinden vor Ort. Aber dem Treffen fehlt die Kontroverse.
Es ist ein Kirchentag der Zeitansagen. Das lässt sich schon zur Halbzeit des noch bis Sonntag in Dortmund laufenden 37. Deutschen Evangelischen Kirchentags sagen. Denn gleich mehrere Beiträge des Treffens der deutschen Protestanten ragen so sehr aus dem Normalniveau heraus, dass sie wohl auch in den nächsten Wochen und Monaten weiter diskutiert werden. Das gilt zuallererst für die Grundsatzrede, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor Tausenden begeisterten Besuchern hielt.
Denn völlig zu
Recht forderte das Staatsoberhaupt eine
„Ethik der Digitalisierung“. In Zeiten, in denen chinesische Fußgängerampeln autonom erkennen können, wer bei Rot über die Kreuzung geht, sind solche Gedanken höchst notwendig. „Die digitale Welt ist bislang in erster Linie um uns herum und ohne unser Zutun gestaltet worden“, sagte Steinmeier. „Die digitale Welt von heute dient den Interessen derer, die unsere Geräte voreinstellen, unsere Anwendungen programmieren, unser Verhalten lenken wollen.“Das Staatsoberhaupt forderte die Christen auf, sich an dieser Stelle verstärkt einzubringen. „Wir brauchen den Mut, das Spiel zu unterbrechen und die Spielregeln zu überprüfen“. Was einmal gestaltet worden sei, könne auch neu gestaltet werden. „Was programmiert wurde, kann neu programmiert werden“, sagte Steinmeier. „Also: Trauen wir uns, und ändern wir das Programm!“
Dass sich Steinmeier ausgerechnet auf einem Kirchentag äußerte, zeigt dabei zweierlei: Zum einen ist der Bundespräsident der protestantischen Laienbewegung noch immer sehr verbunden. Wäre er nicht Staatsoberhaupt geworden, hätte er als Kirchentagspräsident vor den Besuchern gestanden – so war es bereits geplant, bevor der damalige Bundesaußenminister ins Schloss Bellevue gewählt wurde. Zum anderen aber, und das ist wichtiger, traut er den
organisierten Protestanten trotz des deutlichen Rückgangs bei den klassischen Teilnehmern des Kirchentags weiterhin zu, Signale in die Welt zu senden. Was mindestens ebenso deutlich für den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland gilt. Wenige Wochen, nachdem der Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm zu einem Besuch bei den Flüchtlingshelfern in Palermo gereist war, war der dortige Bürgermeister Leoluca Orlando nun zu Gast in Dortmund. Zusammen mit Bedford-Strohm setzte er sich für die Schaffung eines europäischen Verteilmechanismus für Bootsflüchtlinge aus dem Mittelmeer ein. „Es gibt überall in Europa Städte und Kommunen, die die Flüchtlinge aufnehmen wollen.“Diese große Hilfsbereitschaft müsse endlich genutzt werden. „Was im Mittelmeer passiert, ist eine Schande für Europa“, sagte Orlando vor den Kirchentagsteilnehmern – während das Rettungsschiff „Sea-Watch 3“mit geretteten Migranten an Bord noch immer verzweifelt nach einem Hafen sucht.
Doch wo viel Licht ist, ist auch Schatten. Die Podiumsdiskussionen in Dortmund waren, wie es bei vielen der jüngsten Kirchentage feststellbar war, ausgesprochen wenig kontrovers. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass man den natürlichen Gegner der eher linksliberalen, friedensbewegten und auf die Bewahrung der Schöpfung ausgerichteten Kirchentagsbewegung, die rechtspopulistische AfD, von vornherein in Dortmund ausgeschlossen hatte. Oft war es schlicht die Besetzung der Podien, die dafür sorgte, dass am Ende dann doch alle irgendwie einer Meinung waren. Und wenn eine Moderatorin die Frage „Braucht es in Deutschland eine Ossi-Quote?“nicht an die neben ihr sitzende Bundesfamilienministerin Franziska Giffey, sondern an den Oberbürgermeister von Wittenberg, Torsten Zugehör, richtet, dann sieht man auch, wo beim Protestantentreffen Nacharbeit erforderlich ist. Wie es überhaupt an der einen oder anderen Stelle der Kirchentagsbewegung
„Was im Mittelmeer passiert, ist eine Schande für Europa“Leoluca Orlando Bürgermeister von Palermo
zu haken scheint: Dass deutlich weniger Gemeindegruppen als 2015 in Stuttgart in das Ruhrgebiet gereist sind, sorgt zwar einerseits dafür, dass die ohnehin schon völlig überforderte Dortmunder Infrastruktur nicht vollends zusammenbricht. Aber es macht andererseits eben auch deutlich, dass der Kirchentag nach dem Desaster von Berlin und Wittenberg in der Gemeindebene an Rückhalt verloren hat. Dieses Vertrauen müssen die Verantwortlichen getreu der Losung „Was für ein Vertrauen“nun schleunigst neu aufbauen.
Vielleicht hilft, dass es ähnlich wie in Stuttgart viele Kirchentagsbesucher auch wieder in die „kleinen Formen“zieht. Die Workshops des Kirchentags waren jedenfalls gut besucht – und das liegt nun nicht an den wenigen wirklich exotischen Themen wie dem von einer feministischen Studentin durchgeführten Kurs zum „Vulvenmalen“. Nein, es sind Angebote für den Gemeindealltag oder die Schulungen für die Chorsänger und Posaunenbläser, die die Menschen in Dortmund interessieren. Mit Recht hat Kirchentagspräsident Hans Leyendecker schon am Eröffnungstag darauf hingewiesen, dass der Kirchentag ebenso ein Glaubensfest wie eine politische Veranstaltung ist.
Überhaupt versteht Leyendecker, das Amt an der Spitze der Laienbewegung durch prägnante und deutliche Formulierungen und klare Positionierungen völlig neu zu prägen. Mit seiner Bemerkung über die politische Bedeutung des Laientreffens hat er den Protestanten einen Weg gewiesen, der der Kirche und ihren Gemeinden angesichts schwindender Mitgliederzahlen und mittelfristig rückläufiger Finanzen noch sehr wertvoll werden könnte. Oder, um Hans Leyendecker zu zitieren: „Für mich ist der Deutsche Evangelische Kirchentag ein Basislager.“Ein Ort, an dem Protestanten auftanken und sich für den steinigen Alltag in den Gemeinden stärken. So etwas wird in der kleiner werdenden evangelischen Kirche künftig eher mehr als weniger gebraucht. Und wenn es dann noch solche Zeitansagen wie in Dortmund gibt: Umso besser.