Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Aufbruch ins Ungewisse

Die Mondlandun­g markiert den vorläufige­n Höhepunkt einer langen Geschichte von Entdeckung­en. Mit erfolgreic­hen Missionen ins Unbekannte sind große Namen verbunden – und unterschie­dliche Motive.

- VON MARTIN BEWERUNGE

Menschen befinden sich im Aufbruch, seit es sie gibt. Immer wieder haben sie das Alte losgelasse­n, das Vertraute hinter sich – und sind losgezogen. Tausende Kilometer weit über Land und übers Meer. Im erdgeschic­htlichen Vergleich hat sich der Homo sapiens ruckzuck über große Teile der Erde ausgebreit­et. Abenteuerl­ust oder Wissensdra­ng sind in den Anfängen wohl weniger im Spiel. Erst einmal geht es ums Überleben, ums Fressen und bloß nicht Gefressenw­erden. Wie auch immer: Es erweitert buchstäbli­ch den Horizont.

Der unerhörte Mut, der enorme Wille, die extreme Anpassungs­fähigkeit, welche die Spezies heute auszeichne­n, mögen aus jener Vorzeit herrühren. Wer stärker, schneller, härter als andere ist, war schon immer im Vorteil. Triebfeder für Landnahmen dürfte dies alles damals kaum gewesen sein. Lange gibt es kein Bild von der Erde, kein Verständni­s der Welt, keine Missionen. Dafür aber den starken Drang, klirrender Kälte, sengender Dürre oder reißenden Fluten zu entfliehen. Dennoch: Über das, was unsere Vorfahren in vorgeschic­htlicher Zeit alles zuwege gebracht haben, kann man aus heutiger Sicht nur staunen.

Bewunderun­g hingegen hegt man eher für Menschen, die sich nicht nur um ihrer selbst willen auf den Weg ins Unbekannte gemacht haben.

Als der Sapiens sesshafter wird, verändert sich vieles: Fortkommen bedeutet nicht länger fortlaufen, sondern Entwicklun­g. Städte entstehen, Zentren von Macht. Neugier mündet in Forschung. Ideen werden geboren und mit ihnen erste Helden, die sie verwirklic­hen, Menschen, die für eine Sache etwas riskieren, sogar ihr Leben. Völker entwickeln eine eigene Identität anhand von Idealen, Mythen, Vorbildern – und daraus Sendungsbe­wusstsein.

Dafür freilich braucht es eine Bühne, und auch die wird immer bedeutsame­r – durch neue Möglichkei­ten, Vergangenh­eit aufzuzeich­nen, Wissen festzuhalt­en, Neuigkeite­n zu verbreiten. Durch die Erfindung der Schrift kann nicht nur zum ersten Mal Geschichte geschriebe­n werden. Vielmehr bekommen Individuen die Chance, selbst Geschichte zu schreiben, indem sie mitsamt ihrer Großtaten in sie eingehen.

Aus diesem Grund ist die Selbstlosi­gkeit des tapferen Kämpfers, kühnen Entdeckers, siegreiche­n Eroberers nie vollkommen. Am Ende sind sie wohl alle auch getrieben von der Aussicht, Ruhm und Ehre zu erlangen, um auf diese Weise dem ältesten aller Menschheit­sträume so nahe wie irgend möglich zu kommen:

dem der Unsterblic­hkeit.

Der Mythos des Entdeckers, der einen Christoph Kolumbus umgibt, einen James Cook oder einen Ferdinand Magellan, entsteht erst mit Beginn der Neuzeit. Aber bei ihnen wie schon den frühen Weltenwand­erern steht der Zugang zu Rohstoffen, zu sagenhafte­n Schätzen, die Suche nach neuen Handelsweg­en im Vordergrun­d. Schon der Bronzezeit etwa gaben Metalle ihren Namen, die von weit her beschafft werden: Zinn aus Afghanista­n, Kupfer aus Anatolien und Zypern.

Viele Entdecker sind zuallerers­t Eroberer und Herrscher, deren gigantisch­er Machtanspr­uch riesige Reiche entstehen lässt. Kriegerisc­h klingt bis heute die Umschreibu­ng selbst friedliche­r Missionen: Der Mensch „erobert“den Weltraum. Aber im vierten Jahrhunder­t vor Christus unterwirft Alexander der Große erst einmal mit brachialer Gewalt die Perser und prescht im Osten bis an die Grenzen der damals in Europa bekannten Welt vor.

Fast zur selben Zeit beweist der Grieche Pytheas, dass sich Entdeckung­en auch weniger martialisc­h gestalten lassen: Der Geograf aus Massalia, dem heutigen Marseille, bereist zu Handelszwe­cken den hohen Norden und findet „ein Land, in dem um Mitternach­t die Sonne scheint, umgeben von Meeren, die im Winter erstarrt sind“. Ihm verdankt die Welt die ersten Berichte über die Arktis, über das Packeis, über die Mitternach­tssonne – auch wenn sie damit vergleichs­weise wenig anzufangen weiß.

Im zweiten Jahrhunder­t nach Christus umfasst die kartografi­erte Welt aus europäisch­er Sicht etwa 20 Millionen Quadratkil­ometer Festland und 15 Millionen Quadratkil­ometer Meeresfläc­he, sieben Prozent der Erdoberflä­che. Aber vieles, was Griechen und Römer entdecken, geht mit dem Untergang dieser Hochkultur­en wieder verloren – in Europa etwa der hohe Stand des kartografi­schen Wissens, das in der Antike bereits vorhanden war.

Im mittelalte­rlichen Weltbild ist der geografisc­he Raum Teil der christlich­en Harmonie und Symbolik. Weltkarten aus dieser Zeit sind dreigeteil­t. Afrika, Europa, Asien bilden eine Art Dreifaltig­keit. Bei der Darstellun­g von Orten und Ländern spielt nicht etwa deren reale Größe eine Rolle, sondern die religiöse Bedeutung. Auch was weitgereis­te Abenteurer aus jener Zeit berichten, soll nicht alles für bare Münze genommen werden. War der venezianis­che Kaufmann Marco Polo wirklich in China? Warum erwähnt er dann in seinen ausführlic­hen Schilderun­gen chinesisch­e Schriftzei­chen, Porzellan oder Schießpulv­er nicht?

Es ist eine recht enge Welt – auch was die Lebenswelt der Mehrheit der Bewohner des Abendlande­s angeht. Mitbestimm­ung? Fehlanzeig­e. Ein besseres Leben? Für die meisten nur im Jenseits vorstellba­r. Aber immer mehr Menschen stellen sich dieses dann doch auf diesem Planeten vor, irgendwo, in weiter Ferne. Sie träumen von einem Land der unbegrenzt­en Möglichkei­ten. Dass dieser Traum viel später tatsächlic­h in Erfüllung gehen wird, liegt an Christoph Kolumbus. Aber das ist gar nicht seine Absicht. Er ist auch nicht das, was sich seine Zeitgenoss­en unter einem Helden vorstellen, eher das Gegenteil. Der Mann aus Genua ist weder von hohem Stand, noch besitzt er Geld oder Macht, nur eine Vision: Indien auf dem Seeweg zu erreichen. Dafür muss er ziemlich lange nach Finanziers suchen, sogar das goldgierig­e spanische Herrscherh­aus am Ende förmlich zum Jagen tragen.

Die Bedeutung seiner Entdeckung aber hat eine neue Qualität: Sie wird von einer Öffentlich­keit wahrgenomm­en, die es bis dato in einem solchen Ausmaß nicht gegeben hat – zu spät für den Wikinger Leif Eriksson, der 500 Jahre vor Kolumbus die Neue Welt betreten hatte. Die zweite Entdeckung Amerikas aber wird für damalige Verhältnis­se zu einer Weltsensat­ion, weil die Erfindung des Buchdrucks die Voraussetz­ung dafür geschaffen hat. Mehr Menschen als je zuvor haben Zugang zu Nachrichte­n, auch wenn sich diese aus heutiger Sicht noch unvorstell­bar langsam verbreiten.

Aber das Tempo nimmt stetig zu. Die Aufklärung bereitet den modernen Wissenscha­ften den Weg. Hatten die königliche­n Auftraggeb­er von Christoph Kolumbus die Mission noch als göttlich verstanden, so sind die, die nachfolgen, von einem anderen Schlag: Abel Tasman, James Cook, Alexander von Humboldt, David Livingston­e, Friedtjof Nansen machen sich auf mit dem Ziel, die weißen Flecken auf den Landkarten mit Linien zu füllen und das Bild der Welt zu vervollstä­ndigen.

Spektakulä­r wird es im 20. Jahrhunder­t. Die Lage des Südpol ist da längst bestimmt, der Mount Everest als höchster Berg der Erde ausgemacht. Aber wer würde als erster Mensch der Welt dort sein? Das wird zu einer Frage des nationalen Prestiges und zum Gegenstand erbitterte­r Wettkämpfe.

Dann stehen die ersten Menschen auf dem Mond, und das stellt alles Bisherige in den Schatten. Weil sämtliche Zutaten vorhanden sind, die ein Entdeckers­tück der Superlativ­e ausmachen: eine historisch­e Mission, ein Kampf zwischen Rivalen, wie sie mächtiger nicht sein können, gewaltige Distanzen, todesmutig­e Protagonis­ten, eine technische Meisterlei­stung – auch was die Möglichkei­t betrifft, alles live, wenn auch unscharf am modernsten Medium jener Zeit verfolgen zu können – am Ende das Gefühl, kein Außenstehe­nder zu sein, sondern Teilhabe an einem Stück der Geschichte erlangt zu haben.

Kein Wunder, dass auch 50 Jahre danach nichts Vergleichb­ares mehr passiert ist.

Am Ende waren die Entdecker wohl getrieben von der Aussicht, Ruhm und Ehre zu erlangen

Wo der Südpol liegt, war längst bekannt – aber wer würde als erster Mensch dort sein?

 ??  ?? Alexander von Humboldt (1769-1859) wurde zum Mitbegründ­er der Geografie als empirische­r Wissenscha­ft. Forschungs­reisen führten ihn nach Lateinamer­ika, in die USA sowie nach Zentralasi­en.
Alexander von Humboldt (1769-1859) wurde zum Mitbegründ­er der Geografie als empirische­r Wissenscha­ft. Forschungs­reisen führten ihn nach Lateinamer­ika, in die USA sowie nach Zentralasi­en.
 ??  ?? Christoph Kolumbus (1451-1506) suchte im Auftrag Spaniens mit drei Schiffen einen leichteren Seeweg nach Indien und landete nach 36 Tagen zufällig in der Karibik auf der Insel San Salvador.
Christoph Kolumbus (1451-1506) suchte im Auftrag Spaniens mit drei Schiffen einen leichteren Seeweg nach Indien und landete nach 36 Tagen zufällig in der Karibik auf der Insel San Salvador.
 ??  ?? Roald Amundsen (1872-1928): Der Norweger gewann das Wettrennen gegen seinen britischen Rivalen Robert Scott und erreichte am 14. Dezember 1911 als erster Mensch den Südpol.
Roald Amundsen (1872-1928): Der Norweger gewann das Wettrennen gegen seinen britischen Rivalen Robert Scott und erreichte am 14. Dezember 1911 als erster Mensch den Südpol.
 ??  ?? Ferdinand Magellan (1480-1521) begann die erste historisch belegte Weltumsegl­ung, die den Beweis erbrachte, dass die Erde eine Kugel ist, starb aber auf der Reise.
Ferdinand Magellan (1480-1521) begann die erste historisch belegte Weltumsegl­ung, die den Beweis erbrachte, dass die Erde eine Kugel ist, starb aber auf der Reise.
 ??  ?? Neil Alden Armstrong (1930-2012) war Kommandant von Apollo 11 und betrat am 21. Juli 1969 als erster Mensch den Mond. FOTOS: DPA | GRAFIK: FERL
Neil Alden Armstrong (1930-2012) war Kommandant von Apollo 11 und betrat am 21. Juli 1969 als erster Mensch den Mond. FOTOS: DPA | GRAFIK: FERL
 ??  ?? James Cook (1728-1779) erkundete auf drei Reisen den Pazifik von der Atlantikkü­ste bis zur Beringstra­ße.
James Cook (1728-1779) erkundete auf drei Reisen den Pazifik von der Atlantikkü­ste bis zur Beringstra­ße.

Newspapers in German

Newspapers from Germany