Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Aufbruch ins Ungewisse
Die Mondlandung markiert den vorläufigen Höhepunkt einer langen Geschichte von Entdeckungen. Mit erfolgreichen Missionen ins Unbekannte sind große Namen verbunden – und unterschiedliche Motive.
Menschen befinden sich im Aufbruch, seit es sie gibt. Immer wieder haben sie das Alte losgelassen, das Vertraute hinter sich – und sind losgezogen. Tausende Kilometer weit über Land und übers Meer. Im erdgeschichtlichen Vergleich hat sich der Homo sapiens ruckzuck über große Teile der Erde ausgebreitet. Abenteuerlust oder Wissensdrang sind in den Anfängen wohl weniger im Spiel. Erst einmal geht es ums Überleben, ums Fressen und bloß nicht Gefressenwerden. Wie auch immer: Es erweitert buchstäblich den Horizont.
Der unerhörte Mut, der enorme Wille, die extreme Anpassungsfähigkeit, welche die Spezies heute auszeichnen, mögen aus jener Vorzeit herrühren. Wer stärker, schneller, härter als andere ist, war schon immer im Vorteil. Triebfeder für Landnahmen dürfte dies alles damals kaum gewesen sein. Lange gibt es kein Bild von der Erde, kein Verständnis der Welt, keine Missionen. Dafür aber den starken Drang, klirrender Kälte, sengender Dürre oder reißenden Fluten zu entfliehen. Dennoch: Über das, was unsere Vorfahren in vorgeschichtlicher Zeit alles zuwege gebracht haben, kann man aus heutiger Sicht nur staunen.
Bewunderung hingegen hegt man eher für Menschen, die sich nicht nur um ihrer selbst willen auf den Weg ins Unbekannte gemacht haben.
Als der Sapiens sesshafter wird, verändert sich vieles: Fortkommen bedeutet nicht länger fortlaufen, sondern Entwicklung. Städte entstehen, Zentren von Macht. Neugier mündet in Forschung. Ideen werden geboren und mit ihnen erste Helden, die sie verwirklichen, Menschen, die für eine Sache etwas riskieren, sogar ihr Leben. Völker entwickeln eine eigene Identität anhand von Idealen, Mythen, Vorbildern – und daraus Sendungsbewusstsein.
Dafür freilich braucht es eine Bühne, und auch die wird immer bedeutsamer – durch neue Möglichkeiten, Vergangenheit aufzuzeichnen, Wissen festzuhalten, Neuigkeiten zu verbreiten. Durch die Erfindung der Schrift kann nicht nur zum ersten Mal Geschichte geschrieben werden. Vielmehr bekommen Individuen die Chance, selbst Geschichte zu schreiben, indem sie mitsamt ihrer Großtaten in sie eingehen.
Aus diesem Grund ist die Selbstlosigkeit des tapferen Kämpfers, kühnen Entdeckers, siegreichen Eroberers nie vollkommen. Am Ende sind sie wohl alle auch getrieben von der Aussicht, Ruhm und Ehre zu erlangen, um auf diese Weise dem ältesten aller Menschheitsträume so nahe wie irgend möglich zu kommen:
dem der Unsterblichkeit.
Der Mythos des Entdeckers, der einen Christoph Kolumbus umgibt, einen James Cook oder einen Ferdinand Magellan, entsteht erst mit Beginn der Neuzeit. Aber bei ihnen wie schon den frühen Weltenwanderern steht der Zugang zu Rohstoffen, zu sagenhaften Schätzen, die Suche nach neuen Handelswegen im Vordergrund. Schon der Bronzezeit etwa gaben Metalle ihren Namen, die von weit her beschafft werden: Zinn aus Afghanistan, Kupfer aus Anatolien und Zypern.
Viele Entdecker sind zuallererst Eroberer und Herrscher, deren gigantischer Machtanspruch riesige Reiche entstehen lässt. Kriegerisch klingt bis heute die Umschreibung selbst friedlicher Missionen: Der Mensch „erobert“den Weltraum. Aber im vierten Jahrhundert vor Christus unterwirft Alexander der Große erst einmal mit brachialer Gewalt die Perser und prescht im Osten bis an die Grenzen der damals in Europa bekannten Welt vor.
Fast zur selben Zeit beweist der Grieche Pytheas, dass sich Entdeckungen auch weniger martialisch gestalten lassen: Der Geograf aus Massalia, dem heutigen Marseille, bereist zu Handelszwecken den hohen Norden und findet „ein Land, in dem um Mitternacht die Sonne scheint, umgeben von Meeren, die im Winter erstarrt sind“. Ihm verdankt die Welt die ersten Berichte über die Arktis, über das Packeis, über die Mitternachtssonne – auch wenn sie damit vergleichsweise wenig anzufangen weiß.
Im zweiten Jahrhundert nach Christus umfasst die kartografierte Welt aus europäischer Sicht etwa 20 Millionen Quadratkilometer Festland und 15 Millionen Quadratkilometer Meeresfläche, sieben Prozent der Erdoberfläche. Aber vieles, was Griechen und Römer entdecken, geht mit dem Untergang dieser Hochkulturen wieder verloren – in Europa etwa der hohe Stand des kartografischen Wissens, das in der Antike bereits vorhanden war.
Im mittelalterlichen Weltbild ist der geografische Raum Teil der christlichen Harmonie und Symbolik. Weltkarten aus dieser Zeit sind dreigeteilt. Afrika, Europa, Asien bilden eine Art Dreifaltigkeit. Bei der Darstellung von Orten und Ländern spielt nicht etwa deren reale Größe eine Rolle, sondern die religiöse Bedeutung. Auch was weitgereiste Abenteurer aus jener Zeit berichten, soll nicht alles für bare Münze genommen werden. War der venezianische Kaufmann Marco Polo wirklich in China? Warum erwähnt er dann in seinen ausführlichen Schilderungen chinesische Schriftzeichen, Porzellan oder Schießpulver nicht?
Es ist eine recht enge Welt – auch was die Lebenswelt der Mehrheit der Bewohner des Abendlandes angeht. Mitbestimmung? Fehlanzeige. Ein besseres Leben? Für die meisten nur im Jenseits vorstellbar. Aber immer mehr Menschen stellen sich dieses dann doch auf diesem Planeten vor, irgendwo, in weiter Ferne. Sie träumen von einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Dass dieser Traum viel später tatsächlich in Erfüllung gehen wird, liegt an Christoph Kolumbus. Aber das ist gar nicht seine Absicht. Er ist auch nicht das, was sich seine Zeitgenossen unter einem Helden vorstellen, eher das Gegenteil. Der Mann aus Genua ist weder von hohem Stand, noch besitzt er Geld oder Macht, nur eine Vision: Indien auf dem Seeweg zu erreichen. Dafür muss er ziemlich lange nach Finanziers suchen, sogar das goldgierige spanische Herrscherhaus am Ende förmlich zum Jagen tragen.
Die Bedeutung seiner Entdeckung aber hat eine neue Qualität: Sie wird von einer Öffentlichkeit wahrgenommen, die es bis dato in einem solchen Ausmaß nicht gegeben hat – zu spät für den Wikinger Leif Eriksson, der 500 Jahre vor Kolumbus die Neue Welt betreten hatte. Die zweite Entdeckung Amerikas aber wird für damalige Verhältnisse zu einer Weltsensation, weil die Erfindung des Buchdrucks die Voraussetzung dafür geschaffen hat. Mehr Menschen als je zuvor haben Zugang zu Nachrichten, auch wenn sich diese aus heutiger Sicht noch unvorstellbar langsam verbreiten.
Aber das Tempo nimmt stetig zu. Die Aufklärung bereitet den modernen Wissenschaften den Weg. Hatten die königlichen Auftraggeber von Christoph Kolumbus die Mission noch als göttlich verstanden, so sind die, die nachfolgen, von einem anderen Schlag: Abel Tasman, James Cook, Alexander von Humboldt, David Livingstone, Friedtjof Nansen machen sich auf mit dem Ziel, die weißen Flecken auf den Landkarten mit Linien zu füllen und das Bild der Welt zu vervollständigen.
Spektakulär wird es im 20. Jahrhundert. Die Lage des Südpol ist da längst bestimmt, der Mount Everest als höchster Berg der Erde ausgemacht. Aber wer würde als erster Mensch der Welt dort sein? Das wird zu einer Frage des nationalen Prestiges und zum Gegenstand erbitterter Wettkämpfe.
Dann stehen die ersten Menschen auf dem Mond, und das stellt alles Bisherige in den Schatten. Weil sämtliche Zutaten vorhanden sind, die ein Entdeckerstück der Superlative ausmachen: eine historische Mission, ein Kampf zwischen Rivalen, wie sie mächtiger nicht sein können, gewaltige Distanzen, todesmutige Protagonisten, eine technische Meisterleistung – auch was die Möglichkeit betrifft, alles live, wenn auch unscharf am modernsten Medium jener Zeit verfolgen zu können – am Ende das Gefühl, kein Außenstehender zu sein, sondern Teilhabe an einem Stück der Geschichte erlangt zu haben.
Kein Wunder, dass auch 50 Jahre danach nichts Vergleichbares mehr passiert ist.
Am Ende waren die Entdecker wohl getrieben von der Aussicht, Ruhm und Ehre zu erlangen
Wo der Südpol liegt, war längst bekannt – aber wer würde als erster Mensch dort sein?