Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Der Aufsteiger
Lars Klingbeil hat sich innerhalb kürzester Zeit in die erste Reihe der SPD vorgearbeitet. Jetzt muss der Generalsekretär entscheiden, ob er für den Parteivorsitz antritt.
Auf der Suche nach einem ruhigen Ort wird SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil zwischen Bäumen hinter dem Kanzleramt fündig. Nicht weit entfernt haben sich auch Finanzminister Olaf Scholz und Interims-Fraktionschef Rolf Mützenich zurückgezogen. Jeder hat für sich Abstand zum Fest der Bundestagsfraktion gesucht, doch am Telefon sind sie miteinander verbunden. Ebenfalls in der Leitung: die drei kommissarischen Parteivorsitzenden Malu Dreyer, Manuela Schwesig und Thorsten Schäfer-Gümbel. Eigentlich könnten sie sich auch zusammensetzen an diesem sommerlichen Mittwochabend, doch Dreyer ist als einzige nicht beim Fest im Tipi-Theater. Dann eben so, die tägliche Telefonschalte soll nicht ausfallen. Abstimmung ist alles.
Lars Klingbeil schätzt das. Der 41-Jährige versteht sich als Politiker modernen Typs. Das Besserwisserische und Marktschreierische geht ihm ab. Manch einem hemdsärmeligen Altvorderen in der Partei ist Klingbeils Art zwar zu defensiv für einen Generalsekretär. Andere – vor allem viele Frauen in der Partei – finden aber gerade das wohltuend. In einem seiner ersten Auftritte als neuer SPD-Generalsekretär beschrieb er seinen Stil so: „Attacke ist für mich kein Selbstzweck. Ich werde nicht so breitbeinig auftreten wie andere Generalsekretäre. Die Zeit der Testosteron-Männer ist hoffentlich vorbei.“
In der SPD rumort es gewaltig. Nach desaströsen Ergebnissen bei der Bundestagswahl, bei diversen Landtagswahlen und zuletzt auch bei der Europawahl liegt die Partei am Boden, Umfragen sehen sie bei nur noch 13 Prozent. Der „Dann macht’s doch alleine“-Rücktritt von Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles rüttelte die SPD durch – und schuf zugleich die Chance für einen Neuanfang.
Jetzt werden im Hintergrund machtstrategische Gespräche zur Zukunft der ältesten Partei Deutschlands geführt. Lars Klingbeil steht – wie viele andere führende Sozialdemokraten – vor der Entscheidung, ob er sich als künftiger Parteichef bewirbt. Leicht macht er es sich nicht. Am Zaun rütteln wie sein größter Förderer Gerhard Schröder, das ist nicht sein Stil. „Wir befinden uns in einer neuen Zeit. Und diese neue Zeit braucht eine neue Politik”, sagt er. Dass er sich mit seiner Kritik an den Polit-Machos immer auch vom Ex-Kanzler distanziert, nimmt Klingbeil in Kauf. Und Schröder ihm nicht übel. „Der Lars“sei einer der kommenden Köpfe der SPD, sagte Schröder unlängst in vertrauter Runde. Jetzt, in der Findungsphase, will sich Schröder nicht öffentlich zu seinem niedersächsischen Landsmann äußern. Es könnte als Unterstützung für Klingbeil gewertet werden, und ihm nicht helfen. Der Altkanzler ist in der Partei nicht unumstritten. Dennoch, er schätze Lars Klingbeil, lässt Schröders Büro ausrichten.
Als Juso demonstrierte Klingbeil gegen die Bildungspolitik des damaligen Ministerpräsidenten. Später zum Anfang der Nullerjahre arbeitete Klingbeil als studentische Hilfskraft in dessen niedersächsischem Wahlkreisbüro. Im Bundestagswahlkampf 2017 trat Schröder selten öffentlich auf, für Klingbeil machte er in dessen Wahlkreis Rotenburg/Heidekreis eine Ausnahme.
Klingbeil hat es immer imponiert, wie zielstrebig Schröder Positionen in konkrete Politik umsetzte. „Wer mit Selbstbewusstsein für seine Ansichten eintritt, erntet Respekt“, sagt Klingbeil heute. Und in Abgrenzung etwa zum Stil eines Sigmar Gabriel: „Wer aber Dinge zusagt und sie nicht einhält, erntet Enttäuschung.“Klingbeil will einerseits neue Wege gehen, sich emanzipieren von seinen Förderern. Andererseits würde er nie gegen Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil kandidieren, sollte der sich doch noch dafür entscheiden. Bisher zeigt der Landeschef aber keine Ambitionen. Der 60-Jährige steht auch nicht für den von der Basis gewünschten Neuanfang und insbesondere für junge Parteilinke ist Weil nicht wählbar.
Die haben sich größtenteils hinter Juso-Chef Kevin Kühnert versammelt. Und der hält große Stücke auf Klingbeil. Möglich gar, dass Klingbeil als Kandidat einer Doppelspitze Kühnert mit ins Boot holt, indem er ihn als Schatten-Generalsekretär benennt. Dabei sind sie auf den ersten Blick Antipoden.
Klingbeil ist Mitglied des konservativen Seeheimer Kreises in der SPD-Fraktion, wo man die von Kühnert angestoßene Enteignungsdebatte mit Augenrollen quittierte. Als Sohn einer Verkäuferin und eines Berufssoldaten wuchs Klingbeil in Munster auf, mit bis zu 1500 Soldaten der größte Heeresstandort Deutschlands. Klingbeil verweigerte den Wehrdienst – eine kleine Revolution gegen den Vater. Als islamistische Terroristen im September 2001 zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers lenkten und Tausende Menschen töteten, war Klingbeil als Praktikant bei der Friedrich-Ebert Stiftung in New York – der Anschlag veränderte seine Sicht auf Militäreinsätze. Viele Jusos machen ihm das zum Vorwurf. Außerdem wird Klingbeil für den Europawahlkampf kritisiert, das schlechte Ergebnis wird ihm auch intern angelastet – wohlwissend, dass er nicht frei aufspielen konnte und Loyalität zu Nahles über das eigene Profil stellte.
Aber was Klingbeil und Kühnert eint, ist die Sorge um die Partei. „Für die Zukunft der SPD ist mir enorm wichtig, dass wir Optimismus ausstrahlen und die Menschen begeistern. Das sind unsere Inhalte wert“, sagt Klingbeil. „Ich will, dass in Deutschland wieder Aufstiegsgeschichten geschrieben werden.“Klingbeil ist selbst Aufsteiger. Er war in seiner Familie der Erste mit Abitur und Studium. „Dafür müssen wir den Zusammenhalt in unserem Land fördern“, sagt er. „Und dafür werden die Reichsten mehr leisten müssen als bisher.“
An solchen Sätzen wird klar: Kühnert und Klingbeil, das funktioniert. Auch weil beide Politiker die Bedürfnisse der jungen Generation kennen, die bei den letzten Wahlen scharenweise zu den Grünen gelaufen ist. „Wenn sich der Protest gegen Uploadfilter im Netz und auf der Straße entlädt, müssen wir genau dahin und unsere Positionen erklären“, mahnt Klingbeil. Der Mann aus Niedersachsen ist gut darin, Netzwerke über die üblichen Seilschaften hinaus zu knüpfen. „Lars Klingbeil hat keine Feinde, weil er alle ernst nimmt“, sagt einer, der ihn gut kennt. Klingbeil hat auch in der CDU und der FDP Vertraute.
Doch ein Problem hat auch Klingbeil: Ihm fehlt eine Frau als Mitbewerberin für die Doppelspitze. Lässt er sich auf die durchaus vielversprechende Allianz mit Kühnert ein, würde das die weibliche Favoritin, Familienministerin Franziska Giffey, ausschließen. Kühnert könnte Giffey, die insbesondere bei Integrationsfragen mitunter sehr robust aufgestellt ist, seinen Leuten kaum vermitteln. Außerdem muss Giffey fürchten, dass ihr der Doktortitel aberkannt und sie so politisch beschädigt wird. Mögliche Alternative: die renommierte Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Jutta Allmendinger. Giffey wiederum, so wird in Berlin derzeit ebenso wild spekuliert, könnte mit dem rheinland-pfälzischen SPD-Fraktionschef Alexander Schweitzer ein gutes Team aufstellen. So oder so: Klingbeil hat Chancen. Und dass er gewinnen kann, hat er in seiner Heimat bewiesen. Die Arbeit an der Basis hat bei ihm Priorität. Zweimal verlor Klingbeil in dem strukturkonservativen Wahlkreis gegen den CDU-Abgeordneten und späteren DFB-Präsidenten Reinhard Grindel. Der machtbewusste CDU-Mann fuhr stets harte Bandagen auf. Der SPD-Politiker ließ sich davon nicht beeindrucken und tingelte unermüdlich durch den Wahlkreis. 2017 legte Klingbeil bei den Stimmenanteilen zu, gewann den Wahlkreis erstmals direkt – gegen den massiven Abwärtstrend in der SPD.
Dabei half es ihm auch, dass er sich als Digitalpolitiker der ersten Stunde mit den Kanälen der Online-Kommunikation auskennt. Als Klingbeil 2009 erstmals in den Bundestag gewählt wurde, machte er die Digitalpolitik zu seinem Schwerpunkt. Er spürte die Defizite der Politik im digitalen Wandel. Heute gilt er in der jungen Digitalwirtschaft als einer der ihren. Seine Lebensgefährtin, die er Ende August heiraten wird, ist Lena-Sophie Müller, Geschäftsführerin der Initiative D21, einem Netzwerk für Digitalisierung.
Unlängst lobte ihn sogar der CDU- und SPD-kritische Youtuber Rezo. Klingbeil will für Politik begeistern und setzt auf die wichtigen Themen: „Die Digitalisierung bietet große Jobchancen, genau wie der Klimaschutz“, sagt er. „Wir müssen bereit sein, uns diesen Chancen zu öffnen und weniger ängstlich sein.“Ob Klingbeil aber selbst mutig genug ist, vom Aufsteiger zum Kandidaten zu werden, ist offen.