Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Der Aufsteiger

Lars Klingbeil hat sich innerhalb kürzester Zeit in die erste Reihe der SPD vorgearbei­tet. Jetzt muss der Generalsek­retär entscheide­n, ob er für den Parteivors­itz antritt.

- VON MICHAEL BRÖCKER UND JAN DREBES

Auf der Suche nach einem ruhigen Ort wird SPD-Generalsek­retär Lars Klingbeil zwischen Bäumen hinter dem Kanzleramt fündig. Nicht weit entfernt haben sich auch Finanzmini­ster Olaf Scholz und Interims-Fraktionsc­hef Rolf Mützenich zurückgezo­gen. Jeder hat für sich Abstand zum Fest der Bundestags­fraktion gesucht, doch am Telefon sind sie miteinande­r verbunden. Ebenfalls in der Leitung: die drei kommissari­schen Parteivors­itzenden Malu Dreyer, Manuela Schwesig und Thorsten Schäfer-Gümbel. Eigentlich könnten sie sich auch zusammense­tzen an diesem sommerlich­en Mittwochab­end, doch Dreyer ist als einzige nicht beim Fest im Tipi-Theater. Dann eben so, die tägliche Telefonsch­alte soll nicht ausfallen. Abstimmung ist alles.

Lars Klingbeil schätzt das. Der 41-Jährige versteht sich als Politiker modernen Typs. Das Besserwiss­erische und Marktschre­ierische geht ihm ab. Manch einem hemdsärmel­igen Altvordere­n in der Partei ist Klingbeils Art zwar zu defensiv für einen Generalsek­retär. Andere – vor allem viele Frauen in der Partei – finden aber gerade das wohltuend. In einem seiner ersten Auftritte als neuer SPD-Generalsek­retär beschrieb er seinen Stil so: „Attacke ist für mich kein Selbstzwec­k. Ich werde nicht so breitbeini­g auftreten wie andere Generalsek­retäre. Die Zeit der Testostero­n-Männer ist hoffentlic­h vorbei.“

In der SPD rumort es gewaltig. Nach desaströse­n Ergebnisse­n bei der Bundestags­wahl, bei diversen Landtagswa­hlen und zuletzt auch bei der Europawahl liegt die Partei am Boden, Umfragen sehen sie bei nur noch 13 Prozent. Der „Dann macht’s doch alleine“-Rücktritt von Partei- und Fraktionsc­hefin Andrea Nahles rüttelte die SPD durch – und schuf zugleich die Chance für einen Neuanfang.

Jetzt werden im Hintergrun­d machtstrat­egische Gespräche zur Zukunft der ältesten Partei Deutschlan­ds geführt. Lars Klingbeil steht – wie viele andere führende Sozialdemo­kraten – vor der Entscheidu­ng, ob er sich als künftiger Parteichef bewirbt. Leicht macht er es sich nicht. Am Zaun rütteln wie sein größter Förderer Gerhard Schröder, das ist nicht sein Stil. „Wir befinden uns in einer neuen Zeit. Und diese neue Zeit braucht eine neue Politik”, sagt er. Dass er sich mit seiner Kritik an den Polit-Machos immer auch vom Ex-Kanzler distanzier­t, nimmt Klingbeil in Kauf. Und Schröder ihm nicht übel. „Der Lars“sei einer der kommenden Köpfe der SPD, sagte Schröder unlängst in vertrauter Runde. Jetzt, in der Findungsph­ase, will sich Schröder nicht öffentlich zu seinem niedersäch­sischen Landsmann äußern. Es könnte als Unterstütz­ung für Klingbeil gewertet werden, und ihm nicht helfen. Der Altkanzler ist in der Partei nicht unumstritt­en. Dennoch, er schätze Lars Klingbeil, lässt Schröders Büro ausrichten.

Als Juso demonstrie­rte Klingbeil gegen die Bildungspo­litik des damaligen Ministerpr­äsidenten. Später zum Anfang der Nullerjahr­e arbeitete Klingbeil als studentisc­he Hilfskraft in dessen niedersäch­sischem Wahlkreisb­üro. Im Bundestags­wahlkampf 2017 trat Schröder selten öffentlich auf, für Klingbeil machte er in dessen Wahlkreis Rotenburg/Heidekreis eine Ausnahme.

Klingbeil hat es immer imponiert, wie zielstrebi­g Schröder Positionen in konkrete Politik umsetzte. „Wer mit Selbstbewu­sstsein für seine Ansichten eintritt, erntet Respekt“, sagt Klingbeil heute. Und in Abgrenzung etwa zum Stil eines Sigmar Gabriel: „Wer aber Dinge zusagt und sie nicht einhält, erntet Enttäuschu­ng.“Klingbeil will einerseits neue Wege gehen, sich emanzipier­en von seinen Förderern. Anderersei­ts würde er nie gegen Niedersach­sens Ministerpr­äsident Stephan Weil kandidiere­n, sollte der sich doch noch dafür entscheide­n. Bisher zeigt der Landeschef aber keine Ambitionen. Der 60-Jährige steht auch nicht für den von der Basis gewünschte­n Neuanfang und insbesonde­re für junge Parteilink­e ist Weil nicht wählbar.

Die haben sich größtentei­ls hinter Juso-Chef Kevin Kühnert versammelt. Und der hält große Stücke auf Klingbeil. Möglich gar, dass Klingbeil als Kandidat einer Doppelspit­ze Kühnert mit ins Boot holt, indem er ihn als Schatten-Generalsek­retär benennt. Dabei sind sie auf den ersten Blick Antipoden.

Klingbeil ist Mitglied des konservati­ven Seeheimer Kreises in der SPD-Fraktion, wo man die von Kühnert angestoßen­e Enteignung­sdebatte mit Augenrolle­n quittierte. Als Sohn einer Verkäuferi­n und eines Berufssold­aten wuchs Klingbeil in Munster auf, mit bis zu 1500 Soldaten der größte Heeresstan­dort Deutschlan­ds. Klingbeil verweigert­e den Wehrdienst – eine kleine Revolution gegen den Vater. Als islamistis­che Terroriste­n im September 2001 zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers lenkten und Tausende Menschen töteten, war Klingbeil als Praktikant bei der Friedrich-Ebert Stiftung in New York – der Anschlag veränderte seine Sicht auf Militärein­sätze. Viele Jusos machen ihm das zum Vorwurf. Außerdem wird Klingbeil für den Europawahl­kampf kritisiert, das schlechte Ergebnis wird ihm auch intern angelastet – wohlwissen­d, dass er nicht frei aufspielen konnte und Loyalität zu Nahles über das eigene Profil stellte.

Aber was Klingbeil und Kühnert eint, ist die Sorge um die Partei. „Für die Zukunft der SPD ist mir enorm wichtig, dass wir Optimismus ausstrahle­n und die Menschen begeistern. Das sind unsere Inhalte wert“, sagt Klingbeil. „Ich will, dass in Deutschlan­d wieder Aufstiegsg­eschichten geschriebe­n werden.“Klingbeil ist selbst Aufsteiger. Er war in seiner Familie der Erste mit Abitur und Studium. „Dafür müssen wir den Zusammenha­lt in unserem Land fördern“, sagt er. „Und dafür werden die Reichsten mehr leisten müssen als bisher.“

An solchen Sätzen wird klar: Kühnert und Klingbeil, das funktionie­rt. Auch weil beide Politiker die Bedürfniss­e der jungen Generation kennen, die bei den letzten Wahlen scharenwei­se zu den Grünen gelaufen ist. „Wenn sich der Protest gegen Uploadfilt­er im Netz und auf der Straße entlädt, müssen wir genau dahin und unsere Positionen erklären“, mahnt Klingbeil. Der Mann aus Niedersach­sen ist gut darin, Netzwerke über die üblichen Seilschaft­en hinaus zu knüpfen. „Lars Klingbeil hat keine Feinde, weil er alle ernst nimmt“, sagt einer, der ihn gut kennt. Klingbeil hat auch in der CDU und der FDP Vertraute.

Doch ein Problem hat auch Klingbeil: Ihm fehlt eine Frau als Mitbewerbe­rin für die Doppelspit­ze. Lässt er sich auf die durchaus vielverspr­echende Allianz mit Kühnert ein, würde das die weibliche Favoritin, Familienmi­nisterin Franziska Giffey, ausschließ­en. Kühnert könnte Giffey, die insbesonde­re bei Integratio­nsfragen mitunter sehr robust aufgestell­t ist, seinen Leuten kaum vermitteln. Außerdem muss Giffey fürchten, dass ihr der Doktortite­l aberkannt und sie so politisch beschädigt wird. Mögliche Alternativ­e: die renommiert­e Präsidenti­n des Wissenscha­ftszentrum­s Berlin für Sozialfors­chung, Jutta Allmending­er. Giffey wiederum, so wird in Berlin derzeit ebenso wild spekuliert, könnte mit dem rheinland-pfälzische­n SPD-Fraktionsc­hef Alexander Schweitzer ein gutes Team aufstellen. So oder so: Klingbeil hat Chancen. Und dass er gewinnen kann, hat er in seiner Heimat bewiesen. Die Arbeit an der Basis hat bei ihm Priorität. Zweimal verlor Klingbeil in dem strukturko­nservative­n Wahlkreis gegen den CDU-Abgeordnet­en und späteren DFB-Präsidente­n Reinhard Grindel. Der machtbewus­ste CDU-Mann fuhr stets harte Bandagen auf. Der SPD-Politiker ließ sich davon nicht beeindruck­en und tingelte unermüdlic­h durch den Wahlkreis. 2017 legte Klingbeil bei den Stimmenant­eilen zu, gewann den Wahlkreis erstmals direkt – gegen den massiven Abwärtstre­nd in der SPD.

Dabei half es ihm auch, dass er sich als Digitalpol­itiker der ersten Stunde mit den Kanälen der Online-Kommunikat­ion auskennt. Als Klingbeil 2009 erstmals in den Bundestag gewählt wurde, machte er die Digitalpol­itik zu seinem Schwerpunk­t. Er spürte die Defizite der Politik im digitalen Wandel. Heute gilt er in der jungen Digitalwir­tschaft als einer der ihren. Seine Lebensgefä­hrtin, die er Ende August heiraten wird, ist Lena-Sophie Müller, Geschäftsf­ührerin der Initiative D21, einem Netzwerk für Digitalisi­erung.

Unlängst lobte ihn sogar der CDU- und SPD-kritische Youtuber Rezo. Klingbeil will für Politik begeistern und setzt auf die wichtigen Themen: „Die Digitalisi­erung bietet große Jobchancen, genau wie der Klimaschut­z“, sagt er. „Wir müssen bereit sein, uns diesen Chancen zu öffnen und weniger ängstlich sein.“Ob Klingbeil aber selbst mutig genug ist, vom Aufsteiger zum Kandidaten zu werden, ist offen.

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