Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Der Tag der Opfer
Im Prozess um den Missbrauch von Lügde haben erste Opfer ausgesagt. Die drei Angeklagten haben gestanden, deshalb werden die Opfer nicht zu Tatdetails befragt. Eine junge Frau will den Tätern ins Gesicht sehen.
DETMOLD Auf den Zuschauerbänken ist ein Raunen zu hören, als Verteidiger Johannes Salmen seinen Antrag stellt: „Mein Mandant möchte eine Sichtschutzwand vor der Anklagebank haben, weil er keinen Blickkontakt mit den Opfern wünscht.“Der zweite Verhandlungstag im Lügde-Prozess – er ist der Tag der Opfer.
Zwei sind geladen, und das Gericht hat alles getan, um die Identitäten dieser Zeugen zu schützen. Im Hof sind hohe Stellwände aufgebaut, hinter denen die Opferfamilien ihre Autos abstellen können. Aus diesem nicht einsehbaren Bereich führt eine Hintertür in einen Trakt des Gerichts, in dem es ein Kinderzimmer gibt. Auf einem Tisch liegen Bonbons, auf einem anderen Spielsachen und Malstifte, und auf der Couch warten Kuscheltiere darauf, in die Hand genommen zu werden. Von diesem Zimmer aus können die Zeugen durch eine Hintertür in den Gerichtssaal geführt werden, so dass die Öffentlichkeit die Missbrauchsopfer nicht zu Gesicht bekommt.
Den Antrag des Angeklagten Andreas V., der am Donnerstag weit über 200 Vergewaltigungen von Kindern gestanden hatte, eine Sichtschutzwand vor ihm aufzustellen, blockt die Vorsitzende Richterin Anke Grudda ab. „Das hier ist kein Wunschkonzert!“, lässt sie den Angeklagten wissen. Der Verteidiger pocht darauf, dass sich der Mann dann wenigstens einen Aktenordner vors Gesicht halten darf, und die Richterin willigt ein.
Zuschauer und Reporter müssen den Saal verlassen, als das erste Opfer befragt wird. Es ist eine 19-Jährige, die erst acht Jahre alt war, als sie zum ersten Mal auf dem Campingplatz von Andreas V. vergewaltigt wurde. Später sagt ihre Anwältin Zeliha Evlice: „Meine Mandantin hat darauf bestanden, dass die Angeklagten während ihrer Aussage im Saal bleiben. Sie wollte ihnen zeigen, dass sie jetzt diejenige ist, die den Ton angibt.“Die junge Frau habe die Verbrechen nicht noch einmal schildern müssen, sondern nur bestätigt, dass ihre Aussage bei der Polizei richtig gewesen sei. „Anschließend hatte sie Tränen in den Augen. Für sie beginnt jetzt ein neuer Lebensabschnitt. Jetzt kann sie endlich nach vorne sehen.“
Bevor das zweite Opfer gehört wird, liest die Vorsitzende Richterin E-Mails vor, die sich Andreas V. und der Angeklagte Heiko V. (49) geschickt hatten. Der Inhalt der meisten Beiträge ist so obszön und zutiefst menschenverachtend, dass sich eine Wiedergabe verbietet.
Inzwischen ist das zweite Opfer mit seiner Mutter eingetroffen, und die Zuschauer müssen wieder nach draußen. Das Mädchen war neun, als es im August 2018 von Andreas V. in seiner Behausung missbraucht wurde. Es offenbarte sich seiner Mutter, die ging zur Polizei – und der monströse Missbrauchsfall Lügde mit Hunderten Taten und Dutzenden Opfern flog auf.
Auf Antrag des Opferanwaltes Roman von Alvensleben lässt das Gericht die drei Angeklagten aus dem Saal bringen, bevor es Mutter und Tochter befragt. Anschließend sagt der Anwalt auf dem Gerichtsflur: „Die Vorsitzende hat das ganz toll gemacht. Die Atmosphäre war für das Kind überhaupt nicht bedrückend. Es musste die Details des Missbrauchs auch nicht noch einmal erzählen.“Das Mädchen habe lediglich bestätigt, dass es bei der Polizei die Wahrheit gesagt habe.
Für den dritten Angeklagten, Heiko V. aus Stade, ist es das letzte Mal, dass er mit den anderen beiden Männern auf der Anklagebank sitzt. Sein Verfahren trennt das Gericht ab. Der Mann, der zwar nie ein Kind angefasst haben soll, aber sich vor einem Opfer befriedigt hat und etwa 40.000 Kinderpornos besaß, soll bereits am 17. Juli verurteilt werden.
Wegen der umfassenden Geständnisse der drei Angeklagten möchte das Gericht Kindern, die nicht aussagen möchten, den Auftritt im Gericht ersparen. Es legte die Entscheidung ins Ermessen der Nebenklageanwälte, die nun mit ihren Mandanten beraten. Anwalt Thorsten Fust aus Lichtenau vertritt einen Jungen, der vier Jahre lang aufs Schlimmste missbraucht worden ist. Er sei erst in ein paar Wochen als Zeuge geladen. „Es kann für ein Opfer auch positiv sein, auszusagen, weil es dann sieht, dass es ernst genommen wird und das, was es erlitten hat, gesühnt wird.“Das müsse jedes Kind selbst entscheiden.