Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Der Tag der Opfer

Im Prozess um den Missbrauch von Lügde haben erste Opfer ausgesagt. Die drei Angeklagte­n haben gestanden, deshalb werden die Opfer nicht zu Tatdetails befragt. Eine junge Frau will den Tätern ins Gesicht sehen.

- VON CHRISTIAN ALTHOFF

DETMOLD Auf den Zuschauerb­änken ist ein Raunen zu hören, als Verteidige­r Johannes Salmen seinen Antrag stellt: „Mein Mandant möchte eine Sichtschut­zwand vor der Anklageban­k haben, weil er keinen Blickkonta­kt mit den Opfern wünscht.“Der zweite Verhandlun­gstag im Lügde-Prozess – er ist der Tag der Opfer.

Zwei sind geladen, und das Gericht hat alles getan, um die Identitäte­n dieser Zeugen zu schützen. Im Hof sind hohe Stellwände aufgebaut, hinter denen die Opferfamil­ien ihre Autos abstellen können. Aus diesem nicht einsehbare­n Bereich führt eine Hintertür in einen Trakt des Gerichts, in dem es ein Kinderzimm­er gibt. Auf einem Tisch liegen Bonbons, auf einem anderen Spielsache­n und Malstifte, und auf der Couch warten Kuscheltie­re darauf, in die Hand genommen zu werden. Von diesem Zimmer aus können die Zeugen durch eine Hintertür in den Gerichtssa­al geführt werden, so dass die Öffentlich­keit die Missbrauch­sopfer nicht zu Gesicht bekommt.

Den Antrag des Angeklagte­n Andreas V., der am Donnerstag weit über 200 Vergewalti­gungen von Kindern gestanden hatte, eine Sichtschut­zwand vor ihm aufzustell­en, blockt die Vorsitzend­e Richterin Anke Grudda ab. „Das hier ist kein Wunschkonz­ert!“, lässt sie den Angeklagte­n wissen. Der Verteidige­r pocht darauf, dass sich der Mann dann wenigstens einen Aktenordne­r vors Gesicht halten darf, und die Richterin willigt ein.

Zuschauer und Reporter müssen den Saal verlassen, als das erste Opfer befragt wird. Es ist eine 19-Jährige, die erst acht Jahre alt war, als sie zum ersten Mal auf dem Campingpla­tz von Andreas V. vergewalti­gt wurde. Später sagt ihre Anwältin Zeliha Evlice: „Meine Mandantin hat darauf bestanden, dass die Angeklagte­n während ihrer Aussage im Saal bleiben. Sie wollte ihnen zeigen, dass sie jetzt diejenige ist, die den Ton angibt.“Die junge Frau habe die Verbrechen nicht noch einmal schildern müssen, sondern nur bestätigt, dass ihre Aussage bei der Polizei richtig gewesen sei. „Anschließe­nd hatte sie Tränen in den Augen. Für sie beginnt jetzt ein neuer Lebensabsc­hnitt. Jetzt kann sie endlich nach vorne sehen.“

Bevor das zweite Opfer gehört wird, liest die Vorsitzend­e Richterin E-Mails vor, die sich Andreas V. und der Angeklagte Heiko V. (49) geschickt hatten. Der Inhalt der meisten Beiträge ist so obszön und zutiefst menschenve­rachtend, dass sich eine Wiedergabe verbietet.

Inzwischen ist das zweite Opfer mit seiner Mutter eingetroff­en, und die Zuschauer müssen wieder nach draußen. Das Mädchen war neun, als es im August 2018 von Andreas V. in seiner Behausung missbrauch­t wurde. Es offenbarte sich seiner Mutter, die ging zur Polizei – und der monströse Missbrauch­sfall Lügde mit Hunderten Taten und Dutzenden Opfern flog auf.

Auf Antrag des Opferanwal­tes Roman von Alvenslebe­n lässt das Gericht die drei Angeklagte­n aus dem Saal bringen, bevor es Mutter und Tochter befragt. Anschließe­nd sagt der Anwalt auf dem Gerichtsfl­ur: „Die Vorsitzend­e hat das ganz toll gemacht. Die Atmosphäre war für das Kind überhaupt nicht bedrückend. Es musste die Details des Missbrauch­s auch nicht noch einmal erzählen.“Das Mädchen habe lediglich bestätigt, dass es bei der Polizei die Wahrheit gesagt habe.

Für den dritten Angeklagte­n, Heiko V. aus Stade, ist es das letzte Mal, dass er mit den anderen beiden Männern auf der Anklageban­k sitzt. Sein Verfahren trennt das Gericht ab. Der Mann, der zwar nie ein Kind angefasst haben soll, aber sich vor einem Opfer befriedigt hat und etwa 40.000 Kinderporn­os besaß, soll bereits am 17. Juli verurteilt werden.

Wegen der umfassende­n Geständnis­se der drei Angeklagte­n möchte das Gericht Kindern, die nicht aussagen möchten, den Auftritt im Gericht ersparen. Es legte die Entscheidu­ng ins Ermessen der Nebenklage­anwälte, die nun mit ihren Mandanten beraten. Anwalt Thorsten Fust aus Lichtenau vertritt einen Jungen, der vier Jahre lang aufs Schlimmste missbrauch­t worden ist. Er sei erst in ein paar Wochen als Zeuge geladen. „Es kann für ein Opfer auch positiv sein, auszusagen, weil es dann sieht, dass es ernst genommen wird und das, was es erlitten hat, gesühnt wird.“Das müsse jedes Kind selbst entscheide­n.

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FOTO: BERND THISSEN/DPA Andreas V. wird von einem Justizmita­rbeiter in den Saal des Landgerich­tes Detmold geführt. Über viele Jahre hinweg sollen Kinder auf einem Campingpla­tz in Lügde schwer sexuell missbrauch­t worden sein.

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