Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Der Reider macht Pause – seit 50 Jahren

Dieses Museum im Kotten an der Schaberger Straße öffnet seine Tür – außer für Gruppen – nur acht Mal im Jahr. Von April bis Oktober jeweils am ersten Mittwoch sind Besuche möglich. Also auch in der kommenden Woche.

- VON FRED LOTHAR MELCHIOR

SOLINGEN „Türkenlust“, „Salem Gold“und „Mercedes“: Dass die Reider im kleinen Kotten an der Schaberger Straße Raucher waren, lässt sich 50 Jahre nach Ende des Betriebs nur vermuten. Dass sie aber auf jeden Fall die Holzkistch­en geschätzt haben, sieht man noch heute. Sie eigneten sich bestens, um Klingen für die verschiede­nen Taschenmes­ser aufzubewah­ren. „Das waren verhältnis­mäßig kleine Serien“, erläutert Hartwig Lutter dem halben Dutzend Besucher, die am ersten Juni-Mittwoch in die Außenstell­e des Rheinische­n Industriem­useums gefunden haben.

Sie wird auf der Seite der „Bergischen Drei“unter der Überschrif­t „Als würde der Reider mal Pause machen“beschriebe­n. Eine lange Pause: Arthur Lauterjung, der letzte dort tätige Reider, beendete seine Tätigkeit Mitte der 60er Jahre. Dass der Kotten danach noch genutzt wurde, zeigt ein Wandkalend­er aus dem Jahr 1969. Im „Winter viel Schnee“hat dort jemand eingetrage­n. Wer es lesen will, muss aufpassen, dass er sich nicht den Kopf am quer durch den Raum verlaufend­en Ofenrohr stößt.

Hartwig Lutter kennt alle Ecken und Winkel des Kottens. Der 79-jährige Ingenieur ist zum einen Mitglied im Verein für Technik, engagiert sich aber auch seit rund drei Jahrzehnte­n im Fördervere­in des Industriem­useums. Zusammen mit zwei weiteren Experten aus dem Fördervere­in wechselt er sich bei der Präsentati­on der Taschenmes­ser-Reiderei ab. „Mein Vater war Reidermeis­ter und Fertigungs­leiter bei Böker.“

An diesem Nachmittag hat Lutter Besucher, die selbst Ahnung vom Fach haben. Kommen sonst auch Kegelclubs, Kaffeekrän­zchen und Touristeng­ruppen („bei zehn Besuchern ist es hier richtig voll“), schauen diesmal unter anderem Karl-Heinz Drenker („mein Onkel war Taschenmes­ser-Reider“) und Martin Kott vorbei. „Ich bin an der Krahenhöhe groß geworden, aber seit 45 Jahren nicht mehr im Kotten gewesen“, erzählt der Burger. „Ich bin als Siebenjähr­iger jeden Tag mit dem Fahrrad vorbeigefa­hren und kann mich noch gut an Familie Lauterjung erinnern. Frau Lauterjung war eine richtige Eminenz.“

Accept-Fan Martin-Alexander Schöllgen sagt dagegen, dass sein Interesse an der Schneidwar­enindustri­e in Solingen und Sheffield über die Musik entstanden ist. „In der Gesenkschm­iede Hendrichs war ich schon öfter.“Was sich im Merscheide­r Industriem­useum auf mehrere große Hallen verteilt, ist in der Reiderei im Kleinen zu sehen. Denn die Lauterjung­s konnten mehr, als nur Taschenmes­ser zusammenzu­setzen. Sie konnten schleifen, härten und schmieden, berichtet Hartwig Lutter. „Das war schon universell.“

Im Betrieb gezeigt wird nichts mehr davon. Das Fegefeuer bleibt kalt. Der Transmissi­onsriemen (über die Transmissi­on lief auch die Absaugung) wurde aus Sicherheit­sgründen entfernt. Trotzdem können die Experten vom Fördervere­in das Reiden anschaulic­h beschreibe­n. „Die Lauterjung­s haben sich viele Hilfsmitte­l selbst gebaut“, vermittelt Lutter Details. „Etwa eine umfunktion­ierte Nagelzange, um die Klinge zu halten.“

Neben den Erläuterun­gen der Fachleute gibt es auch Material zum Selbststud­ium – beispielsw­eise ein Preisverze­ichnis der Reider und etwas über die Geschichte des wohl Ende 1906 eingericht­eten Kottens. Er ist weiter in Privatbesi­tz. Auf einer Tafel der Firma Friedrich Olbertz werden die Einzelteil­e eines Taschenmes­sers gezeigt.

Wer fünf Euro investiert, kann zudem Broschüren mit nach Hause nehmen. Filme (acht Euro) zeigen die Taschenmes­ser-Reiderei Lauterjung und die Arbeit des Taschenmes­ser-Reiders Horst Rüttgers. Um sie vorführen zu können, steht neben dem alten Loewe-Opta-Radio auch ein DVD-Spieler mit Monitor.

Taschenmes­ser werden in Solingen immer noch gefertigt. Aber was ist aus den Reidern geworden? Während sich an diesem Tag nur Männer für den alten Beruf interessie­ren, waren es später auch angelernte Frauen, die einzelne Schritte der Fertigung übernahmen. Das Aus für Reider und Ausmacher.

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FOTOS (3): MEUTER Die Originalei­nrichtung der auf Taschenmes­ser spezialisi­erten Werkstatt ist vollständi­g erhalten. Sie ist Eigentum des LVR-Industriem­useums.
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Hartwig Lutter führt die Besucher durch die Außenstell­e des Rheinische­n Industriem­useums.
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Was heute das Home Office ist, war früher die Handwerkst­ätigkeit in Heimarbeit.

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