Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Als der Wagen nicht kam
Der wesentliche Umstand, auf den es ankam, war der Erhalt laufender Orientierung über den Stand der Verfahren und neue Verhaftungen. Von dieser Kenntnis hing es ab, wie die eigene Einlassung bei der Verhaftung vorzunehmen sei, je nach dem, was die Gestapo etwa schon wusste, oder nicht mehr aufdecken konnte, weil der betreffende schon tot war. Diesen Überblick über den Verlauf der Untersuchungen erhielt ich verhältnismäßig leicht durch Meichsner, der selber das größte Interesse daran hatte. Meichsner bekam seine Kenntnisse, abgesehen von der amtlichen Orientierung aus Wolfsschanze, über Canaris. Dieser war zwar bereits in Ungnade gefallen, leitete aber noch irgendeinen kleinen Stab, mit dem er zusammen mit uns in Eiche untergebracht war. Obschon ihm so der Abwehrdienst nicht mehr unterstand, hatte er aber natürlich praktisch
alle früheren Kanäle noch zur Verfügung. Da Canaris sich zu Recht selber bedroht fühlte wegen seiner vielfältigen Zusammenhänge mit dem Unternehmen, war die über ihn erlangte Kenntnis über das Geschehen weitreichend und zuverlässig.
Für die beteiligten Wehrmachtangehörigen war die Lage dadurch besonders gefährlich geworden, dass unter Ausschaltung der weithin nazifeindlichen Militärgerichtsbarkeit die Gestapo den Zugriff auf die Offiziere erhielt. Um diesen Bestrebungen entgegenzuarbeiten, war der Plan entstanden, die gesamte Untersuchung gegen verdächtige Offiziere zusammenzufassen und in der Festung Germersheim zu führen, wo die Gefangenen dann in der Obhut der Wehrmacht gestanden hätten. An einem Samstag kurz nach dem 20. Juli – wahrscheinlich am 29. Juli – kam gegen Mittag Meichsner zu mir mit einem aus Wolfsschanze erhaltenen Fernschreiben, das ihn anwies, über die Bereitstellung der Festung Germersheim für den genannten Zweck zu verhandeln. Wir waren einig über den großen Vorteil für die Verhafteten und dass deshalb eiligst die nötigen Schritte beim Heer eingeleitet werden müssten, mit denen Meichsner mich beauftragte. Da wegen des Sonnabends Oberstleutnant v. d. Heydt, der an Stelle Stauffenbergs die Geschäfte des Stabschefs führte, nicht mehr in seinem Amtszimmer anwesend war, entsandte mich Meichsner mit einem Auto nach dessen Wohnung in Frohnau. Ich verhandelte die Sache mit Herrn v. d. Heydt in seinem Garten, wo ich ihn vor der Haustür sitzend angetroffen hatte. Er versuchte, den zuständigen Sachbearbeiter in Düppel telefonisch zu erreichen, was nicht sofort gelang. Währenddessen unterhielten wir uns im Garten, und aus dem gegebenen Anlass kam die Unterhaltung auf das Geschehen des 20. Juli, bei dem v. d. Heydt eine verhängnisvolle Rolle gespielt hatte. Er erklärte dabei: „Ich habe den Gegenschlag gegen das Unternehmen in der Bendlerstraße organisiert, die Offiziere zusammengefasst und die nötigen Waffen heranschaffen lassen. Im Gegensatz zu Remer bin ich aber trotz dieser Verdienste nicht zum Oberst befördert worden. Daran sieht man wieder die schlechte Behandlung, die der Generalstab immer erfährt.“
Die Unterhaltung mit dem Mann, der das Scheitern des Unternehmens und das Blut Stauffenbergs und der andern auf dem Gewissen hatte, war an sich schon eine starke persönliche Beanspruchung gewesen. Sie wurde zu einem erschreckenden Erlebnis durch die empörende Niedrigkeit, mit der hier Blut gegen Karriere aufgerechnet wurde.
(Fortsetzung folgt)