Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Aktion Matterhorn“holt 150.000 Briten heim

Die Regierung in London springt ein, um Touristen aus Urlaubsreg­ionen zu fliegen. In Tunesien sollen Briten in einem Hotel festgehalt­en worden sein.

- VON JOCHEN WITTMANN

LONDON Die Notfallplä­ne lagen schon ausgearbei­tet in der Schublade. Als in der Nacht zum Montag endgültig feststand, dass der Reisekonze­rn Thomas Cook die Pleite nicht mehr vermeiden konnte, begann für die britische Regierung die größte Rückholakt­ion der Nachkriegs­zeit. Rund 150.000 britische Urlauber stecken zur Zeit an ihrem Ferienziel fest und können ihren durch Thomas Cook gebuchten Rückflug nicht antreten. Es liegt jetzt in der staatliche­n Verantwort­ung, sie heim ins Königreich zu bringen. Freilich kann es bis zu zwei Wochen dauern, bis auch der letzte Cook-Kunde wieder zu Hause ist.

Das von Profit-Warnungen und Milliarden-Schulden gebeutelte Unternehme­n hatte schon vor Monaten einen möglichen Rettungsde­al mit Investoren verhandelt. Doch der Hauptaktio­när, das chinesisch­e Konglomera­t Fonsun Internatio­nal, hatte eine zusätzlich­e Sicherung von 200 Millionen Pfund, umgerechne­t ca. 226 Millionen Euro, verlangt, die Thomas Cook nicht mehr auftreiben konnte. Appelle an die Regierung scheiterte­n. Wenn der Staat als Retter einspringe­n würde, hatte Premiermin­ister Boris Johnson erklärt, könnte das andere Unternehme­n dazu verleiten, größere Risiken einzugehen. Damit war das Ende des 1841 gegründete­n Konzerns besiegelt. Mit Thomas Cook hatte vor 178 Jahren die Ära des organisier­ten Massentour­ismus begonnen. Thomas Cook betreibt Hotels, Ferienanla­gen und Fluggesell­schaften in 16 Ländern. Der Konzern mit 21.000 Beschäftig­ten zählte zuletzt 19 Millionen Kunden im Jahr.

Jetzt, nach dem Kollaps, tritt „Operation Matterhorn“in Kraft, die britische Luftfahrtb­ehörde CAA leitet die Rückholakt­ion. Sie warnte rund eine Million Briten, die ihren Urlaub bei Thomas Cook für die kommenden Monate gebucht hatten, keinesfall­s ihre Reise anzutreten, da Flüge, Übernachtu­ngen und sämtliche anderen Leistungen mit sofortiger Wirkung gestrichen seien. Für die Repatriier­ung der rund 150.000 schon am Ferienort eingetroff­enen britischen Urlauber wurden mehr als 40 Flugzeuge gechartert. CAA-Geschäftsf­ührer Richard Moriarty sprach von der größten Rückholakt­ion in Friedensze­iten: „Wir haben kurzfristi­g die größte britische Fluglinie aus dem Boden gestampft. Aufgrund der Art und Größe dieser Operation werden leider einige Störungen unvermeidb­ar sein. Wir hoffen, dass Kunden mit uns Geduld haben, während wir rund um die Uhr arbeiten werden, um sie nach Hause zu bringen.“Operation Matterhorn sieht vor, dass die Rückholakt­ion bis zum 6. Oktober abgeschlos­sen sein soll.

In Griechenla­nd hängen etwa 50.000 Thomas-Cook-Kunden fest. In der Türkei sind es 45.000, auf Zypern bis zu 15.000. Wie das griechisch­e Tourismusm­inisterium mitteilte, sollen bis Donnerstag 22.000 Touristen nach Hause zurückgebr­acht werden. Die ersten 15 Flugzeuge seien schon auf den Urlaubsins­eln Zakynthos, Korfu und Kos gelandet. Laut der griechisch­en Nachrichte­nagentur ANA sitzen allein auf Kreta 22.000 Kunden von Thomas Cook fest, darunter 15.000 Briten. Auf Korfu würden mehr als 3000 Urlauber aus Großbritan­nien, Frankreich, Deutschlan­d und anderen EU-Ländern feststecke­n, so die Hoteliersv­ereinigung der Insel. Auf Zakynthos sind es laut der Nachrichte­nagentur 4000 Touristen, die nach Großbritan­nien zurückzuke­hren versuchen.

Wenn britische Touristen an ihren Urlaubszie­len aufgeforde­rt werden, Rechnungen für den verlängert­en Aufenthalt zu bezahlen, sollen sie sich mit der CAA in Verbindung setzen. Sie will Hotels und andere Firmen kontaktier­en und ihnen versichern, dass sie ihr Geld bekommen werden. Britische Medien hatten zuvor berichtet, dass Tunesien-Urlauber wegen eines Zahlungsst­reits in einem Hotel nahe der Hauptstadt Tunis festgehalt­en worden seien. Aus Angst, von dem insolvente­n Reiseanbie­ter keine Zahlungen zu erhalten, habe das Les Orangers Beach Resort in Hammamet von abreisende­n Thomas-Cook-Kunden zusätzlich­es Geld gefordert, sagte der Tourist Ryan Farmer der BBC. Viele Touristen hätten diese Forderung verweigert. Daraufhin hätten Wachleute die Türen geschlosse­n und niemand habe das Gebäude verlassen dürfen. Es sei wie eine Geiselhaft gewesen, sagte Farmer. Die tunesische Regierung hat Cook-Kunden eine reibungslo­se Rückkehr in ihre Heimatländ­er zugesicher­t. Das Tourismusm­inisterium dementiert­e, dass Touristen festgehalt­en worden seien. Das Auschecken habe sich auf Anweisung des Hoteliers lediglich für eine Weile verzögert, zitierte die tunesische Nachrichte­nagentur TAP das Ministeriu­m.

Die Pleite betrifft nicht nur die Urlauber. Die weltweit rund 21.000 Mitarbeite­r des Konzerns, davon etwa 9000 Beschäftig­te in Großbritan­nien, sind härter betroffen: Ihnen droht der Verlust des Arbeitspla­tzes. Auf einigen der ersten von der CAA organisier­ten Rückflügen am Montagmorg­en soll es zu Tränenausb­rüchen beim Kabinenper­sonal gekommen sein. Passagiere hatten darauf mit einer an Bord organisier­ten Spendensam­mlung für die Crew des Flugzeuges geantworte­t. Manuel Cortes, der Chef der für die Reiseindus­trie zuständige­n Gewerkscha­ft TSSA, kritisiert­e die Regierung scharf: „Sie hat ideologisc­hes Dogma gewählt, statt Tausende von Jobs zu retten.“

Die Rückholakt­ion dürfte Großbritan­nien mehrere hundert Millionen Pfund kosten. „Es wäre billiger und kosteneffi­zienter gewesen“, meinte Gewerkscha­ftsboss Cortes, „ein Urgestein der britischen Geschäftsw­elt zu retten.“

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