Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Die Geschichte der Bienen
Um die Bedeutung des Mikroskops in der Praxis zu zeigen, hatte ich beschlossen, von einer bestimmten Person auszugehen. Ich wählte den niederländischen Zoologen Jan Swammerdam. Er hatte im 17. Jahrhundert gelebt und war von seinen Zeitgenossen nie richtig anerkannt worden, vielleicht gerade weil er die Schöpfung in all ihren natürlichen Facetten so deutlich in Beziehung zur Schöpferkraft setzte.
„Swammerdam“, sagte ich und ließ meinen Blick über die Zuhörer schweifen. „Merken Sie sich seinen Namen. Seine Arbeit hat uns gezeigt, dass die verschiedenen Sta- dien im Leben eines Insekts, Ei, Larve und Puppe, tatsächlich verschiedene Formen ein und desselben Lebewesens sind. Swammerdam entwickelte selbst ein Mikroskop, das es ihm ermöglichte, die Insekten im Detail zu studieren. Während dieser Beobachtungen fertigte er Zeichnungen an, wie wir sie noch nie gesehen haben.“
Mit einer dramatischen Handbewegung, die ich genau einstudiert hatte, zog ich eine Wandkarte hinter mir herab.
„Hier sehen sie Swammerdams Darstellung der Anatomie der Bienen, so wie er sie in seiner Biblia Naturae gezeichnet hat.“
Ich gönnte mir eine Kunstpause und ließ meinen Blick auf der Versammlung ruhen, während diese die außergewöhnlich detaillierte Zeichnung auf sich wirken ließ. Genau in diesem Augenblick hatte die Frühlingssonne bei ihrer Wanderung über das Gemeindehaus das Fenster zu meiner Linken erreicht. Ein einsamer Sonnenstrahl fiel in den Raum, der offenbar nicht häufig genug geputzt wurde, erleuchtete die Fettflecken auf der Scheibe und die wirbelnden Staubkörner und strich über die Bankreihen hinweg, um schließlich eine Person zu treffen, die am äußersten Rand neben ihren beiden Freundinnen saß: Thilda.
Im Nachhinein verstand ich, dass unsere Begegnung für sie gar nicht im selben Maße überraschend gewesen war wie für mich. Natürlich war ich manch einer jungen Dame aufgefallen; der Naturforscher, in der Hauptstadt ausgebildet, modern gekleidet, redegewandt, ein wenig klein vielleicht und nicht eben athletisch – denn um ehrlich zu sein, kämpfte ich schon damals gegen mein beginnendes Übergewicht –, doch was ich an körperlichen Vorzügen missen ließ, machte ich mit meinem Intellekt wieder wett. Davon zeugte schon die Brille auf meiner Nase. Ich pflegte sie ein Stück nach unten zu schieben, damit ich klug über ihren Rand hinwegblinzeln konnte. Als die Brille neu war, brauchte ich einen ganzen Abend, um die perfekte Position für sie zu finden, exakt die Stelle auf der Nase, wo sie sicher saß und ich die Leute direkt ansehen konnte, ohne durch die kleinen, ovalen Gläser blicken zu müssen, deren konkave Linsen die Augen kleiner wirken ließen. Auch wusste ich, dass viele junge Frauen meine volle Haarpracht attraktiv fanden. Ich trug das Haar halblang, damit es zur vollen Geltung kam. Vielleicht hatte Thilda mich schon lange im Auge gehabt, mich begutachtet und mit den anderen jungen Burschen im Dorf verglichen. Hatte gesehen, mit welchem Respekt man mir entgegentrat, tiefe Verbeugungen und demütige Blicke, ganz ungleich den anderen jungen Männern in ihrem Umfeld, die sich vermutlich genauso grob gebärdeten, wie sie sich kleideten, und dementsprechend behandelt wurden.
Thilda trug ein blaues Sonntagsgewand, ein Kleid oder vielleicht auch eine Bluse, die sich hübsch an ihre Brust schmiegte. Ihr rundes Gesicht war von Korkenzieherlocken umrahmt, die bis auf die Schultern fielen, jene uniforme Frisur, die sie mit all ihren Freundinnen teilte und die man auch an vielen verheirateten Frauen sah – auch wenn man meinen sollte, Letztere hätten nun keinen Anlass mehr zu solch einem äußerlichen Firlefanz. Indessen waren es weder die Locken noch die Kleidung, die ich wahrnahm. Was der Sonnenstrahl durch die stickige Luft hindurch ertastet hatte, war eine außergewöhnlich gerade und wohlproportionierte Nase, die wie eine Illustration aus einem Anatomielehrbuch aussah. Es war eine klassische Nase, die mir sofort Lust machte, sie zu zeichnen, zu studieren, eine Nase, deren Form perfekt ihrer Funktion entsprach. Wie sich später herausstellte, stimmte meine Beobachtung allerdings nicht mit Thildas Wirklichkeit überein, weil die Nase infolge eines immerwährenden Schnupfens stets rot war und lief. Doch an jenem Tag leuchtete sie mir entgegen, und sie war weder gerötet noch tropfend, sondern einfach nur ungeheuer an mir und meinen Worten interessiert, und ich konnte den Blick nicht mehr davon abwenden.
Meine Kunstpause geriet zu lang. Das Publikum wurde unruhig, und ich hörte ein lautes, aufgesetztes Räuspern von Rahm, der hinter mir stand. Die Karte hing noch immer unkommentiert da und schaukelte hin und her.
Ich beeilte mich, darauf zu deuten. „Ganze fünf Jahre verwandte Swammerdam darauf, das Leben im Bienenstock zu studieren. Immer mit Hilfe des Mikroskops, das ihm die Möglichkeit gab, jedes kleinste Detail zu erfassen… Hier, ja… hier sehen Sie die Ovarien der Bienenkönigin. Mit seinen Studien konnte Swammerdam tatsächlich beweisen, dass jede Bienenkönigin Eier legt, aus denen alle drei verschiedenen Bienentypen entstehen – Drohnen, Arbeiterinnen und neue Königinnen.“
Die Zuhörer starrten mich an, einige wanden sich auf ihren Stühlen, keiner schien mich zu verstehen. „Seinerzeit war das bahnbrechend, weil man bis dato dachte, ein Bienenkönig, also eine männliche Biene, würde den Hofstaat regieren. Noch faszinierter und enthusiastischer aber widmete Swammerdam sich den Geschlechtsorganen der männlichen Biene. Und hier sehen Sie das Ergebnis.“Ich zog eine neue Karte herunter.
„Dies also sind die Genitalien der männlichen Biene.“Leere Gesichter.
Wieder kam Unruhe im Saal auf. Einige Zuhörer richteten die Blicke auf ihre eigenen Arme, um einen losen Faden im Stoff zu mustern, andere interessierten sich mit einem Mal leidenschaftlich für die Wolkenformationen am Himmel.
Mit einem Mal wurde mir schlagartig bewusst, dass keiner von ihnen wusste, was Ovarien oder Genitalien waren, und ich verspürte das dringende Bedürfnis, es ihnen zu erklären. Nun folgte jener Teil meiner Rede, den Thilda stets ausließ, wenn sie den Kindern von unserem Kennenlernen erzählte, und genauso wenig hatte er je zwischen uns Erwähnung gefunden.
(Fortsetzung folgt)