Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Der Anti-Macho
Rolf Mützenich soll an diesem Dienstag zum SPD-Fraktionschef gewählt werden. Der bescheidene Außenpolitiker aus Köln erfreut sich großer Beliebtheit. Ihm mangelnde Durchsetzungskraft zu unterstellen, wäre ein schwerer Fehler.
BERLIN
Rolf Mützenich trägt seinen Fahrradhelm unterm Arm. Das macht er gerne so, alte Gewohnheit. Er schlendert durch den Garten der niedersächsischen Landesvertretung in Berlin. Das Sommerfest an diesem Juliabend gehört zu den wichtigsten politischen Veranstaltungen der Hauptstadt. Für einen Fraktionschef ist es ein Pflichttermin, auch wenn er nur kommissarisch im Amt ist. Daran muss sich Mützenich noch gewöhnen. Als ein Parteifreund ihm den Helm abnehmen und zur Garderobe bringen will, verweigert das Mützenich zunächst. Könne er doch selbst machen, sagt er. Nach kurzem Hin und Her lässt er sich dann doch breitschlagen und händigt den Helm aus.
Der Abgeordnete für das Kölner Problemviertel Chorweiler hat keine Starallüren. Mützenich ist genervt von Überheblichkeit. Er ist stets freundlich, bescheiden, Lachfalten durchziehen sein scharf geschnittenes Gesicht. Mützenich war jahrelang ein Mann im Hintergrund. Das soll sich an diesem Dienstag mit seiner formellen Wahl zum Fraktionschef ändern.
Den kommissarischen Fraktionsvorsitz übernahm Mützenich nur, weil Andrea Nahles von der Spitze zurücktrat und er als dienstältestes Mitglied im Fraktionsvorstand automatisch dafür vorgesehen war. Der 60-Jährige spekulierte nie auf den Vorsitz, spielte sich nie in den Vordergrund. Mützenich, den alle nur „Mütze“nennen, ist so etwas wie der Anti-Macho. Der Spezialist für Außen- und Sicherheitspolitik überzeugte seit seinem Einzug in den Bundestag 2002 fachlich, Gepolter brauchte er für den Aufstieg bis zum Fraktionsvize nicht. Auch deswegen könnte er der Richtige sein, um der SPD-Fraktion Selbstbewusstsein zurückzugeben. Einen Vorgeschmack dessen lieferte er bei seiner Rede zu Annegret Kramp-Karrenbauers (CDU) Amtsantritt als Verteidigungsministerin. Nicht nur bezeichnete er US-Präsident Donald Trump als Rassisten und sorgte damit für großes Aufsehen, er sprach auch von eigenen Kompetenzen des Parlaments, die man als sozialdemokratische Fraktion immer wieder einfordern werde. Mützenich ist Mitglied der Parlamentarischen Linken, ist aber über alle Flügel hinweg beliebt.
Bei all der Höflichkeit, der er an den Tag legt, wäre es ein schwerer Fehler anzunehmen, er könne sich nicht durchsetzen. Mützenich fehlt es zwar an der Aura der Macht, wie sie Gerhard Schröder, Sigmar Gabriel oder Andrea Nahles mitbrachten. An Willensstärke und Hartnäckigkeit mangelt es ihm aber wahrlich nicht. Die sogenannte Jemen-Klausel verhandelte er gegen den Widerstand der Union fast im Alleingang in den Koalitionsvertrag. Mit ihr dürfen keine Waffen aus deutscher Produktion an Staaten geliefert werden, die am Jemen-Krieg beteiligt sind. Und auch am Iran-Abkommen arbeitete Mützenich maßgeblich mit. Er sieht die große Koalition pragmatisch, etwa zur Verabschiedung einer Grundrente. Will er etwas genau wissen, nervt er Mitarbeiter so lange, bis er jedes Detail kennt.
Die haben Mützenich zum 60. Geburtstag ein Plakat gebastelt, das in seinem Büro hängt. In Anlehnung an das berühmte Friedenszitat von Willy Brandt steht darauf: „Rolf ist nicht alles, aber ohne Rolf ist alles nichts.“Ein Jahr nach Brandts Rücktritt als Kanzler trat er 1975 in die SPD ein. Mützenich ging auf die Hauptschule und wurde dann lebendiges Beispiel für das sozialdemokratische Versprechen eines Bildungsaufstiegs. Er holte das Abitur nach, studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Wirtschaftswissenschaft und promovierte 1991 zu atomwaffenfreien Zonen.
Die Kandidatur für den Fraktionsvorsitz überlegte er sich wochenlang, der Vater zweier Kinder beriet sich mit seiner Frau. Jetzt sagt er, dass es „natürlich etwas Besonderes“sei, einer Fraktion vorzustehen, die in diesem Jahr ihren 70. Geburtstag feiern dürfe. „Unsere Vorgängerinnen und Vorgänger waren angetreten, die zweite Demokratie auf deutschem Boden stärker zu gründen und besserzumachen“, so Mützenich. „Egal ob kommissarisch oder in ordentlicher Funktion: zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen möchte ich klarmachen, dass gerade jetzt sozialdemokratische Antworten die sein können, um eine bessere Lebenswelt mit guter Arbeit und einem Frieden zu verbinden, ohne den alles andere nichts ist.“Und dann kommt wieder einer seiner typischen Sätze voller Bescheidenheit: „Aus Dankbarkeit, der Fraktion über einige Jahre angehören zu dürfen, möchte ich meine Kandidatur anbieten.“Womöglich fährt Mützenich nach der Wahl mit dem Fahrrad nach Hause.